MariellaMmmh
Mari's matter
vor 4 Jahren - 15.10.2020
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Fenster zum Sommer

In meiner Kindheit habe ich viele Sommer in Breslau bei den Großeltern verbracht. Auf dem Hinterhof des Wohnblocks konnte man herrlich allerlei Unfug betreiben, auf wunderbar alte, große Bäume klettern (und auch herunterfallen), auf dem (zugegeben etwas abgerockten) Spielplatz toben und einfach mal der Fantasie freien Lauf lassen. Dies interpretierte jedes Kind individuell, weshalb die ein oder andere Wand höchst künstlerisch verschönert worden war. Man konnte aber auch an ganz vielen Blüten schnuppern. Die Anwohner hatten kleine Beete angelegt mit den verschiedensten Bepflanzungen, die von frisch-zart bis betörend-sinnlich dufteten. Damit verbrachte ich viel Zeit und steckte meine Nase in alle Beete und Kübel, die ich nur finden konnte.

Ich freundete mich mit einem Mädchen an, das einen Block weiter wohnte und offenbar auch eine Vorliebe für Blumen hatte. Während ich in erster Linie das Olfaktorische bewunderte, galt ihr Interesse jedoch primär der optischen Schönheit. Sie war entzückt über die Farben, die Filigranität mancher Blüten sowie die Formen dieser.

Gemeinsam gingen wir auf Raubzüge und sammelten Blüten, die bereits verwelkt abgefallen waren. Ab und an erlaubte uns ein netter Anwohner, ein paar frische Blüten oder gar ganze Blümchen zu pflücken, womit wir uns bedankten mit Unkraut rupfen.

So kamen nach und nach Schätze zusammen und wir überlegten, was wir damit machten. Ich hätte so gern diesen Duft festgehalten, sie die Schönheit konserviert. Dann fiel uns ein, dass man doch die „Fenster zum Sommer“ machen könnte. Dies war damals populär, also zumindest in Polen. ;)

Dafür musste man eine Glasscherbe haben, am besten eine, die leicht gebogen war. Dann sammelte man Blüten verschiedenster Blumen, manchmal auch Blätter und Kräuter. Schließlich musste man an einer geeigneten Stelle ein kleines Loch ausgraben, den Boden glatt streichen, die gesammelten Schätze hübsch arrangieren, das Glas gut drauf drücken und wieder mit Erde oder Sand zuschütten. Dann galt es, sich diese Stelle gut zu merken. Wenn man dann im Winter Sehnsucht nach Sommer hatte, suchte man seine Stelle auf, schob die Erde vorsichtig zur Seite, und bewunderte die bunte Blütenpracht durch das Fenster.

Ich habe dabei oft auch vorsichtig das Glas zur Seite geschoben und auch einen Hieb genommen, und das war immer so wundervoll! Denn tatsächlich konnte man den getrockneten Blüten noch ihren Duft entnehmen! So habe ich oft mit „Doppelverglasung“ gearbeitet und auch den Boden mit einem Glasstück versehen. So hielten die Blüten dann besser.

Natürlich kam es oft vor, dass man seine Werke nicht wieder fand, sei es, weil diese versehentlich oder absichtlich kaputt gemacht wurden oder man schlicht zu blöd war, exakt die richtige Stelle zu finden. So verschwanden diese kleinen „Sommerkinos“, wie wir es auch nannten, mit der Zeit.

Eins jedoch machte ich ganz allein und heimlich unter den Balkonien, wo eine Einfahrt zur Garage war. An der Seite war ein Blumenbeet, welches lange Zeit nicht mehr bepflanzt wurde. Da das Beet überdacht wurde, wuchs da nichts vernünftig, denn es kam weder Regen noch Licht ran. Ich fragte die Nachbarin meiner Großeltern, der die Garage samt Beet gehörte, ob ich dieses Beet für ein Sommerfensterchen benutzen dürfte. Sie lächelte und erlaubte es mir unter der Bedingung, dass ich mir viel Mühe geben müsse und sie auch ab und an das Werk bewundern dürfte. Damit war ich selbstredend einverstanden.

Ich pflückte ganz viele Blumen und Blüten im Schrebergarten meiner Großeltern und deren Hinterhof. Was das alles war, wusste ich damals nicht, aber Hauptsache es war schön bunt. Ich sammelte auch einige Holzrinden, Kräuter und fand außerdem einen Schmetterling, der nicht mehr lebte. Diesen habe ich behutsam mit dazu gepackt. So entstand eine von Holzstückchen und Rinden eingerahmte bunte Blütenpracht, der Schmetterling krönte das Ganze. Es sah so aus, als würde er über dem Blütenmeer schweben. Nach zwei Wochen Arbeit zeigte ich das Ergebnis der Nachbarin und meiner Oma. Sie waren begeistert.

Mit den Jahren vergaß ich dieses Sommerfenster. Heute jedoch rief ich bei meiner Oma in Breslau an, um ihr zum 80. Geburtstag zu gratulieren. Ich sang ihr ein Ständchen, na ja, etwas gebrüllt, aber Omi hört nicht mehr so gut, und sagte ihr, ich hätte ihr gerne Blumen in die Hand gedrückt. Da lachte sie und sagte: „Ich war gerade einkaufen für meine Gäste, die am Nachmittag kommen. Und auf dem Rückweg habe ich mir dein Sommerfensterchen angeschaut. Es ist immer noch da. Und immer, wenn ich dich vermisse, schaue ich es mir an und denke an dich.“

Sofort kam mir der Geruch dieses Kunstwerkes in die Nase! Ein Bouquet aus Dahlien, Rosen, Gänseblümchen, Gartennelken, Tagetes, Veilchen, Lavendel, Kornblumen, Weidenröschen, Gladiolen, Wicken, Jasmin, Stiefmütterchen, Petunien, Wiesenklee und Geißblatt. (Vermutlich noch mehr, aber an diese kann ich mich erinnern.) Dazu der modrig-feuchte Duft von frisch aufgewühlter Erde, von Laub und von Holz.

Mit Tränen in den Augen verabschiedete ich mich von meiner Oma und wünschte ihr noch einen schönen Tag mit lieben Gästen.

Ich wollte meine Großeltern dieses Jahr über Ostern besuchen fahren, was dann aufgrund der Situation nicht ging. Das möchte ich gerne nächstes Jahr nachholen. Dann blicke ich in den Sommer 1986 und nehme einen tiefen Zug. Im Moment zehre ich von der Dufterinnerung und denke so an die vielen Sommer bei meinen Großeltern.

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