MonsieurTest
MonsieurTests Blog
vor 4 Jahren - 06.06.2020
50 68

Warum sammeln wir Parfums? Kleine Nachdenkerei vor der Ankunft eines Netflux oder 4D-Synthesizers für Düfte

Briefmarken waren einst sexy! Sie zu sammeln bereitete vielen Freude und versprach tatsächlich Prestige. Ähnliches galt für Bücher oder 32 bändige Enzyklopädien in diversen Sprachen. Das waren bis vor kurzem Fetische, die in anspruchsvolle Haushalte gehörten und zur Selbstdarstellung beitrugen. Im heutigen Digitalien ändert sich das. Temps passés. Gutenberg hat‘s gegeben, das Netz hat‘s genommen. Große Online-Textsammlungen, Online Bibliotheken- und Enzyklopädien machen eigene Buchsammlungen tendenziell obsolet. Zwar schmücken sie noch manche Zimmerwand, aber so richtig sexy wirken umfangreiche Privatbibliotheken wohl nur noch für eine schwindende Minderheit von Papierophilen. Zu denen zählte Karl Lagerfeld, ein bekennender Bibliophiler, der 2012 von Geza Schön den Duft ‚Paper Passion‘ komponieren ließ und bei seinem Verlegerfreund Steidl herausbrachte.

Musikliebhaber meiner Generation haben auch schon 3 Typen von Tonträgern, die man als leidenschaftlicher Musikhörer sammelte, miterlebt und verabschiedet: Vinyl, Kompaktkassetten und CDs. Das schwere und großformatige Vinyl erlebt unter jüngeren Hörern in letzter Zeit eine Renaissance. Doch Musik an sich lässt sich in hinreichend hoher technischer Bandbreite und aus halbwegs gut bestückten Streaming-Portalen nun aus dem Netz saugen. Freilich finden sich dort bisher nur ein Bruchteil der Aufnahmen von Nischenkünsten: ältere Klassik-Aufnahmen, entlegenere Jazz-Schätze finden sich dort noch nicht. So dass eine eigene Sammlung hier neben nicht zu unterschätzenden Erinnerungswerten auch noch echte Gebrauchs- und Genusswerte beherbergt.

Nun aber endlich zu unseren Parfumsammlungen. Entschuldigt bitte mein umwegiges aber als Vergleichsfolio sachdienliches, mediengeschichtliches Intro. Aus welchen Motiven horten wir 20, 100, 1000 oder 3245 Duftflacons? Eine Seife, ein Deo, ein EdP und ein Cologne im Badezimmer, das genügt doch im Prinzip, um seiner Mitwelt duftlich nicht unangenehm aufzufallen. Den meisten hier (und mir) reicht das aber nicht! Warum? Welche Wünsche, Bedürfnisse und Sehnsüchte sind der Motor unserer Sammlung?

Die Lust an der Abwechslung und die Neugier natürlich. Man hört ja auch nicht immer die gleiche CD.

Verfügbarkeit, Verfeinerungs- und Differenzierungsfreude führen zum Sammeln. Gerade kleine und kleinste Unterschiede vermögen Connaisseurs zu fesseln. Folgt man denen, dann stehen bald 3 Habit-Rouge-Varianten, 2 Guerlain Hommes oder diverse Reformulierungen Cabochards im Schrank.

Schwer vorstellbar, dass noch mein Grossvater meine Grossmutter womöglich mit seiner fein sortierten Briefmarkensammlung erobert haben könnte. Doch selbst erlebt habe ich noch, wie bewundernde Blicke Bücher- oder Schallplattenregale streiften und deren Glanz ein wenig auf ihre*n Besitzer*in abstrahlte, der oder die dadurch nochmals attraktiver erschien.

Fernweh und Reise-Sehnsucht mögen bei den (exotischeren) Briefmarken-Sammlungen wie auch bei einigen Duftflacons eine Rolle spielen. Man kann sich damit wegträumen... Statusrepräsentation könnte beim Sammeln egal welcher Objekte auch mitschwingen: man hat das Geld, den Geschmack und das Wissen, sich diese Hunderte von Fläschchen ins Regal zu stellen. Und damit verbunden erotische Locksignale: die schöne, große und bunte Sammlung als Pfauenrad.

Besitzfreude, historischer Archivtrieb, Repräsentationsbedürfnis, Erinnerungsspeicher oder Verlustangst: wenn man schon mal das eine oder andere geliebte Parfüm vom Markt verschwinden (aussterben) sah und ähnlichen Verlustgefühlen und Trauerfällen nun vorbeugen möchte...

Welche Antriebe und Sammlungsmotive treiben Euch persönlich an oder fallen Euch noch ein? Da wäre ich gespannt, ein paar Hinweise und Antworten zu bekommen.

Meine maschinengeschichtliche These, die ich gern zur Diskussion stellen möchte, lautet: Umso mehr die anderen genannten Sammlungen (Bücher, Musik) veralteten und durch Online-Bereitstellungen abgelöst wurden, um so interessanter wurde für unseren Besitz- und Sammeltrieb – den es vermutlich seit dem sesshaft Werden des Menschen gab, und der im bürgerlichen Zeitalter aus sozialen Abgrenzungsgründen verstärkt wurde – der Wunsch nach einer Sammlung von Parfums. Denn diese sind eben weder zu streamen, noch in Vielzahl und nuancenreich zuhause zu synthetisieren.

Zumindest bis heute und wohl auch auf Sicht einiger Jahrzehnte nicht. Wobei ich spannend fände, wenn sich hierzu Chemiker und Parfümeure, die die technische Entwicklung in diesem Bereich besser als ich einschätzen können, zu Wort melden. Wann ist mit Haussynthese zu rechnen? Das im Titel erfundene Parfum-Netflux wird es ja wohl kaum je geben?!

Direkter als diese materialitätsgeschichtliche Entwertung von Konkurrenzsammlungen (für Auge, Hirn und Ohren: Bücher & Musik) stimuliert unseren Sammeltrieb vermutlich die Erfahrung, dass wir schon einige von uns geschätzte Düfte haben verschwinden sehen: Meine Nostalgie gilt etwa dem als samtig-warm erinnerten KL Homme, dem wunderbar würzigen YSL Jazz. Wie gerne röche ich einmal Guerlains Original Derby…

Derzeit sterben von meinen Lieblingsdüften, wenn ich es richtig beobachte gerade Oscar de la Renta Pour Lui, Atkinsons English Lavender und ihr Gold Medal Cologne, Guerlains Homme Ideal Cologne und das Guerlain Homme EdT. So eine Art privater Roter Liste treibt mich (neben anderen Motiven) zum archivarischen Sammeln. Der Duftschrank als Hüter der Erinnerungen – zumindest solange es noch kein Denkmalschutzamt für erhaltenswürdige Parfüms gibt. Und solange die lieben Ingenieure ihre Zauber- und Übertragungskünste noch nicht vom print at home auf den synthesize at home 4D Druck aller begehrten Düfte ausgeweitet haben.

Bin gespannt auf Eure Überlegungen oder Bekenntnisse zum Sammeltrieb!

50 Antworten

Weitere Artikel von MonsieurTest