Pimm

Pimm

Rezensionen
Pimm vor 6 Monaten 4 1
7
Sillage
8
Duft
Ledrig, harzig, orangenhaft, würzig, dunkelgrün, rauchig, mild-süß
... ohne wirklich nach Leder, nach bestimmten Harzen, Gewürzen, Kräutern, Hölzern oder einer Szenerie zu riechen, nicht deutlich nach Cognac oder Vanille und nur kurz nach Orange – wobei die verzehrbaren Noten wohl noch die konkretesten sind. Trotzdem hat PB in der Summe für mich einen hohen Wiedererkennungswert und alle ein, zwei Wochen habe ich ein bestimmtes Bedürfnis nach diesem Duft.

So hatte ich das vor einigen Monaten als Entwurf formuliert und wollte dann genauer auf die Einzeleindrücke eingehen und ihre Balance loben, aber inzwischen hat sich meine Wahrnehmung verändert, nämlich als wäre der Duft mit einem süßen, leicht metallischen Energydrink verdünnt worden. Im Auftakt hatte ich vorher einen ledrig-waldhaften Akkord gerochen, vielleicht gebildet durch kühle krautige Note und warmes Harz und Moos, dazu cremige, mild-süße Noten, die an abendrote Wolkenschlieren erinnern. Unter verschüttetem Zuckerwasser verlaufen diese vagen Landschaftsbilder ins Unkenntliche. Es könnte Ambrox verantwortlich sein, welches ich, seit es mir überhaupt in Düften auffällt, bei hoher Dosierung als helle, sterile Süße wahrnehme. (Insbesondere hat „Molecule 02“ für mich diese weiße, sehr süße Note.) In ohnehin süßen Düften stört das nicht unbedingt, aber vielleicht werde ich da zunehmend empfindlich. Ich schätze, es könnte auch an irgendeinem traubenhaften Frucht-Riechstoff liegen; eine hilfreiche Warnung („mit Ambrox sollte man hier klarkommen“) kann ich also nicht aussprechen.

Nach 1-2 Stunden verschwindet das Zuckrige und die bekannte gemäßigt süße, orangig-schokoladig-cremige und etwas würzige Mittel- und Spätphase stellt sich ein. Diese gefällt mir immer noch, ist nicht zu eindeutig gourmand, ist aber weniger interessant als die -erinnerte- Anfangsphase. Wobei der Duft mir – bei aller Liebe – immer zu schmeichlerisch, sentimental und warm war, um ihn tatsächlich tragen zu wollen. Jedenfalls kein Grund für weiteres Klagen, stattdessen möchte ich noch meine Notizen zu den Hersteller-Angaben und zu ähnlichen Düften verwerten.

Le Couvent hebt Orange und Weihrauch als „edle Materialien“ hervor und nennt ferner einen Cognac-Akkord und Davana. Etwas Cognac-haft riecht die cremige Süße schon, und vielleicht liefert Weihrauch die Branntwein-Note für diesen Akkord. Als eine eigenständige Hauptnote nehme ich Weihrauch aber nicht wahr. Orangensüße rieche ich selbst auf Papier nur für Sekunden und auf meiner Haut meist gar nicht. Stellenweise ist auch von bitterer Orange die Rede (bei den Noten dagegen ausdrücklich „Orange douce“), und ein Artikel [1] von Bella van der Weerd enthält eine Duftbeschreibung, die wirkt wie ein Pressetext und die eine Petitgrain-Note sowie Benzoe nennt. Etwas Vanillin wird PB schon enthalten, aber speziell die feine, vanillige Siam-Benzoe rieche ich gar nicht. Vielleicht eher die (wohl) würzigere sumatrische Sorte. Davana kenne ich aus anderen Düften überhaupt nicht. Als eine Artemisia-Art dürfte sie krautig riechen, aber Näheres traue ich mich den schillernden Beschreibungen im Web nicht zu entnehmen. Außer den genannten Noten rieche ich unscharf Würziges, leicht animalisch Harziges – Eichenmoos finde ich offenkundig, evtl. Labdanum (diese beiden kenne ich als Absolues), und Sumatra-Benzoe oder Styrax könnten passen. Außerdem vermute ich in den grünlichen und schokoladigen Noten eine mittlere Dosis Patschuli.

Was die Hintergrund-Geschichte betrifft, bietet Le Couvent die „Bucht von Panama“ an, die uns bei Sonnenuntergang mit ihrem Atem sinnlich umfängt. Sinnlichkeit und Sonnenuntergangsromantik kann ich bestätigen, und falls tatsächlich viel Ambrox enthalten ist, mag das auf manche auch etwas maritim wirken. Portobelo – laut Wikipedia eine der heutigen Schreibweisen – liegt offenbar nicht in der (pazifischen) Buch von Panama, auch nicht im Golf, sondern an der atlantischen Nordküste. Schön, über den Panamakanal ist (seit 1920) die Bucht von Portobelo aus schnell zu erreichen, aber es drängt sich doch der Eindruck auf, dass man sich beim Couvent mit den obskuren Orten, die der Botaniker Louis Feuillée um 1700 bereist hatte, nicht im Detail befasst hat. Van der Weerds o.g. Artikel zufolge, wurde die Couvent-Marke 2017 mit neuem Eigentümer neu ausgerichtet. (Jean-Claude Ellena hatte aber noch nicht die kreative Leitung übernommen.) Mein Eindruck ist, dass man sich von den Mönchen und Missionaren lösen wollte, ohne ganz die Anknüpfung an den Minime-Orden zu verlieren, und da kam dieser weitgereiste Botaniker, der dem Orden angehörte, gerade recht.

Die Sillage erscheint mir mittelprächtig und mindestens angemessen ausdauernd. Preislich lag PB 2019 noch im unteren mittleren Bereich (75 € für 100 ml bei LeCouventParfums.com), inzwischen ist der Preis um fast 50% gestiegen. Kein Vergleich zu den (allerdings viel niedriger konzentrierten) Preiswundern aus der Frühzeit des Couvent.

Mit „Jazz Club“, auf Parfumo derzeit die häufigste Nennung unter den ähnlichen Düften – und die am häufigsten bestrittene, hat PB für mich einiges gemeinsam – die süßen Noten von JC in Verbindung mit warmem Harz und Gewürz haben mich gleich an PB erinnert. Der grün-ledrige Aspekt hingegen geht JC ab (trotz einiger grüner Noten in der Pyramide) und JC ist plakativ: Rum und Zigarren sind klar zu erkennen, das Harz ist deutlich animalisch, die Gewürze tüchtig scharf. (Das Zuckerwasser-Problem habe ich mit JC nicht.) Bei „Side Effect“, dem nächstmeistgenannten Verwandten, finde ich bloß die Spätphase halbwegs ähnlich – cremig, leicht süß, alkoholisch, etwas rauchig, warmer Hintergrund, Cognac mit Obstbrand versetzt. Im früheren Duftverlauf zieht SE in geradezu rasanter Abfolge sehr spezifische Eindrücke aus dem Hut (etwa Karamell, Benzin, Kaugummi, Shisha-Tabak), während sich PB langsam und fließend entwickelt und wenig konkrete Assoziationen liefert – schon gar nicht solche ausgefallenen. Von Amouage kenne ich zu wenig, um Parallelen einschätzen zu können; PB ist für mich jedenfalls kein Exzentriker oder Exot.

[1] B. van der Weerd: “A New Line from Le Couvent des Minimes: Parfums Remarquables”, 2019, Zugriff erfordert ein Benutzerkonto:
https://www.fragrantica.com/news/A-New-Line-from-Le-Couvent-des-Minimes-Parfums-Remarquables-11872.html
1 Antwort
Pimm vor 7 Monaten 3 2
7
Sillage
7.5
Duft
Zimtsüße Lebkuchen-Myrrhe
... ist, kurz gesagt, mein Eindruck. Ehe ich darauf zurückkomme, einige Bemerkungen zu den angegebenen Duftnoten und Konzentrationen, denn das ist ein ziemliches Wirrwarr für einen so jungen Duft. Auf meiner Schachtel, der aktuellen 100BON-Webseite, archivierten Versionen derselben und 100BON-Infoblättern, die noch im Web zu finden sind, habe ich sechs (etwas) unterschiedliche Pyramiden gefunden, und Bezeichnungen „Eau de Cologne Intense“ (aktuell, grünes Etikett), „Eau de Parfum“ (Infoblätter, 2021/22?), „Concentré“ (schwarzes Etikett, vor 2022?) und schlicht „Eau“ (weißes Etikett, 2022?). Um 2021 gab es offenbar auch noch ein kurzlebiges „Eau fraîche“ mit gelbem Etikett. Letzteres hört sich so an, als müsste es tatsächlich niedriger konzentriert sein als die anderen Versionen, aber ansonsten vermute ich, dass es stets die gleiche Konzentration im (niedrigen) EdP-Bereich ist. Die INCI-Liste der Inhaltsstoffe hat nur einmal, wohl beim Wechsel vom schwarzen zum weißen Etikett, eine Änderung erfahren: Zimtalkohol wurde durch drei andere Stoffe mit „Zimt“ oder „Alkohol“ im Namen ersetzt; klingt nicht dramatisch. Man scheint vor allem an der Präsentation gefeilt zu haben. Der Namenszusatz „mystérieux“ wird inzwischen auch nicht mehr verwendet.

An Duftnoten wird Zimt neuerdings nicht mehr genannt; ich schätze, das ist bloß Teil einer asketischeren Aufmachung. Eine Kopfnote „fraîcheur“ wird mal genannt, mal nicht, unklar, was gemeint ist, dito „sous-bois“/ „Undergrowth“/ „boisé“/ „Woodland“. Die Zitrusnote wechselt zwischen Bergamotte, „Citrus“ und „citron“, also vielleicht Bergamottenöl plus X. Einklang besteht bei Patschuli, Myrrhe, Weihrauch und Tonkabohne, und meistens wird auch noch Opoponax erwähnt. Papyrus ist ein (schilfhaftes) Gras, Papyrus-Holz klingt eher nach Fantasie, und manchmal heißt es stattdessen „Amber Wood“ oder „Bois d'ambre“, einmal auch noch „Cashmere oud“. Also ein schicker Name für einen Ambra-artigen Kunst-Holzakkord? Zeitweise hieß es, die Note repräsentiere ein ätherisches Öl, aber die Angaben zu Pflanzenextrakten wirken insgesamt konfus und improvisiert.

Die Noten auf meiner Schachtel stimmen mit den aktuellen Parfumo-Noten überein, abgesehen von Moschus und Unterholz vs. Frische:
Bergamotte, Zimt, „sous-bois“/ „undergrowth“; Myrrhe, Patschuli, Papyrus-Holz; Moschus, Weihrauch, Tonkabohne.
Gekauft diesen Sommer in einem Off-Price-Store. Etikett (grün) und INCI-Liste entsprechen den Fotos auf der 100BON-Webseite, die Flüssigkeit ist bei mir goldgelb, auf den Fotos dagegen klar. Zurzeit steht dort, der Duft sei ausverkauft und bald wieder verfügbar. Der Flakon ist schlicht designt, aber sprüht sehr gut.

„100% ingredients of natural origin“, heißt es auf meiner Schachtel. Da diese 100 Prozent sogar im Namen der Marke vorkommen, möchte ich darauf etwas eingehen. Dass nicht ausschließlich (unmittelbare) Naturmaterialien verwendet werden, macht schon die Moschus-Note klar. Ist nicht gewissermaßen alles Künstliche natürlichen Ursprungs? Auf der aktuellen Webseite finde ich dazu keine Präzisierung, eine frühe archivierte Version (2017) behauptete wenig überzeugend:
“Our ingredients are natural and truly authentic, all coming from a sustainable agriculture. [...]
Our perfumes are 100% natural, without petrochemicals, without artificial colors, without any synthetic ingredients. We even use organic wheat alcohol.”
Gebräuchliche Natürlichkeits-Standards wie ISO 16128 oder COSMOS schließen wohl(?) lediglich die meisten petrochemischen Erzeugnisse aus, was bei der Parfum-Formel keine große Einschränkung bedeuten dürfte. Iso-E-Super, chemisch gewonnen aus natürlichem Myrcen, sollte z.B. erlaubt sein. Phthalate dagegen, die gerne als Vergällungs- und Lösungsmittel und Fixateure eingesetzt werden, dürften nicht drin sein. Immerhin; diese gelten als gesundheitlich nicht völlig unbedenklich. Ferner also Bioethanol, Umweltverpackung, ein Verzicht auf bestimmte Farbstoffe.

Überzeugender ist ein Bestreben, natürlich /wirkende/ Düfte zu schaffen. Aktuelle Texte zur Unternehmens-Philosophie preisen die Natur als Inspiration, die mentalen Effekte ätherischer Öle und Einfachheit in komplexen Zeiten:
“I have always been fascinated by the olfactory power of essential oil on the mind. They reconnect us to nature. I knew we had to go back to the essentials: the perfume rather than the bottles, the community rather than marketing, zero waste rather than overconsumption.” (C. Bombana, Gründer)
Andernorts: “The time of expensive, ostentatious perfume, proudly sitting on a bathroom shelf, is over! [...] We will always prefer to dream in nature than in front of the face of a famous muse. [...] [O]ur prices are fair, our labels readable, our compositions transparent, green and clean.”
Also eher keine beträchtlichen Mengen ausgewähltester Naturmaterialien (Herkunftsländer werden nicht einmal genannt), aber doch im Mittelpunkt je zwei natürliche Duftnoten. Die Auswahl dieser Hauptnoten wirkt wenig ambitioniert – naheliegender als Myrrhe und Weihrauch wäre eigentlich nur Weihrauch und Myrrhe, was immerhin Zeitbedarf, Kosten und Risiken bei der Entwicklung gesenkt haben mag. Die Originalpreise liegen schon an der Grenze zum Mittelfeld; andererseits gab's zumindest früher Nachfüllflaschen, Reisegrößen und deutliche Nachlässe.

Um endlich zu meinem Dufteindruck zu kommen: Ich rieche einen zimtigen Akkord, der sich besonders anfangs aus der Nähe überraschend intensiv ausnimmt, geradezu schrill und dadurch auch wenig natürlich. Trocken, leicht pudrig, brennend, leicht warm-würzig, aber nicht pfeffrig. Auch deutlich bitter und etwas trockenholzig. Ich tippe auf (aus Tonkadüften und -bohnen bekanntes) hochdosiertes Cumarin und bereits zu Beginn markantes phenolisch-süßes Patschuli. Auf einem Teststreifen scheint Zitrussäure den Auftakt kurzzeitig abzumildern, auf meiner Haut ist davon (wie so oft) erst bei zwei Sprühstößen ein wenig zu merken. Auf Distanz nimmt die Intensität von Zimt et al. rasch ab, vielleicht hebt sich dadurch für mich dieser Akkord von weiter reichenden gebäckhaften Noten ab: Mild-honighaft süß, trocken teigig, pudrig, aber auch etwas buttrig. In der Summe wirkt das auf mich schon ohne den Zimt wie ein weicher Lebkuchen, mit Zimt erst recht weihnachtlich und ziemlich süß, bis hin zu marzipanhaft. Mit Blick auf die teighafte Struktur, würde mich ein wenig Heliotrop(-in) nicht wundern. Ich meine auch, durchgängig etwas Labdanum zu riechen, und wohl auch Vanillin.

Und Myrrhe und Weihrauch? Eine herb-säuerliche Note, die ich von Weihrauch-, Myrrhe- und Opoponaxöl zu kennen meine, ist dabei. Die wabrige Textur der Harze dürfte den Teig auflockern: M&E wirkt nicht stickig und in der Hinsicht angenehmer als das entfernt ähnliche „Pi“ von Givenchy. Die dunkle, lakritzhafte Bittersüße von Myrrhe rieche ich nicht recht heraus. Ein dunkler Unterton, den auch Weihrauch besitzt, ist wohl dabei. Diesen kann ich auch kulinarisch als Alkohol im Lebkuchen auffassen. Im Verlauf rieche ich manchmal eine leichte kirchenhafte Nuance, aber zu einer Hauptrolle bringt es der Weihrauch nie. Mit der Zeit mäßigt sich das Zimtige, bleibt aber lange deutlich präsent. Später riecht man vielleicht den leichten, hell-süßen Aspekt der Myrrhe deutlicher.

[*] Zeichenlimit erreicht; Haltbarkeit, Sillage und Fazit folgen unten als Kommentar.
2 Antworten
Pimm vor 11 Monaten 5 5
3
Sillage
8
Duft
Natürliches mediterranes Zitrus-Cologne Anno 1819
Viel Zitronen- und Gewürznelkenöl, ist mein Eindruck. Diese Materialien nennt auch das Label, ferner Rosmarin. Orangenöl meine ich auch zu riechen. Also recht kulinarisch, erinnert mich von daher nicht an Reinigungsprodukte, und Bitterorangenöle nehme ich auch nicht wahr, von daher 4711 nicht ähnlich genug, um entsprechend veraltet zu wirken. Die Kombination von Zitrusölen mit Küchenkräutern scheint nie aus der Mode gekommen zu sein. Die Kopfnote des Sankt-Helena-Cologne ist spritzig, fröhlich und köstlich. Allerdings sind die ätherischen Öle so flüchtig, dass der Duft – auf Haut wie auf Kleidung – schon nach wenigen Minuten nur noch aus unmittelbarer Nähe wahrzunehmen ist und nach einer Stunde auch das kaum noch. Diese Herz-/ Basisphase riecht außer sauer und würzig auch ölig, vielleicht durch Rosmarin.

Zum historischen Hintergrund sind die Informationen auf napoleon-cologne.fr für mich etwas verwirrend; ich habe mir folgenden Ablauf zurechtgelegt: Napoleon traf 1815 in seinem Exil auf Sankt Helena ein und verwendete dort ein aus Europa importiertes Eau de Cologne, man weiß nicht welches. 1819 ergab sich eine Versorgungslücke – unklar weshalb – und Napoleons Gefolge, speziell sein Kammerdiener und Bibliothekar Louis-Étienne Saint-Denis (bekannt als Mamelouk Ali), fertigten auf Sankt Helena ein Cologne an, das wohl dem bis dato importierten ähneln sollte. Im englischen Text (usa.napoleon-cologne.com) klingt es so, als seien örtliche Pflanzen verwendet worden:

“Mameluke Ali pieced together the Eau de Cologne in a traditional way according to the local resources available on the island. Nearby, he mainly had access to citrus trees from which he extracted and collected the essences contained in the fruit peel, using compression with a natural sponge. He also harvested rosemary and cloves, which he distilled to extract their essence. These oils and some others were then mixed with wine spirit in good proportions.”

Aus praktischen Gründen vermute ich eher, dass importierte Vorräte an Früchten und Gewürzen verwendet wurden – der französische Text lässt diese Möglichkeit offen, er spricht von „des citrus“ anstatt „citrus trees“ und verwendet das allgemeinere „récolter“ anstelle von „harvest“. Interessant wäre ja, für mich zumindest, welche Öle außer den explizit genannten noch verwendet wurden. Jedenfalls wohl keine speziellen Parfumzutaten wie Bergamottenöl. Die improvisierte Destillation von irgendwelchen Blütenölen erscheint mir auch wenig plausibel. Eher vorstellbar sind weitere Kräuter, vielleicht in kleinen Mengen und dadurch geruchlich nicht leicht zu identifizieren, welche auch das Farnesol in der Allergenliste erklären könnten. Die Zitrusfrüchte waren vermutlich schlicht Zitronen und Orangen.

Napoleon starb 1821, das Sankt-Helena-Cologne war also für maximal zwei Jahre im Einsatz. Im Text ist von einem vorübergehenden Mangel („disette momentanée“, „disette qui régnait à certains moments“) die Rede – also denkbar, dass sogar nur eine einzige Charge hergestellt wurde. Aus dem Nachlass von Saint-Denis gelangte das Rezept schließlich, frühestens 1991, in die Hände von Jean Kerléo, Mitbegründer der Osmothèque in Versailles. Welchen Beitrag er genau leistete ist mir nicht klar. Er muss wohl die Angaben zu Materialien und Mengen interpretiert haben, vielleicht hat er sich auch Gedanken über die damaligen Anbaugebiete und die Extraktionsmethoden gemacht. Bald darauf begann wohl die Vermarktung als olfaktorische Reminiszenz an die Person Napoleons, möglicherweise bereits in dem eckigen Flakon, der derzeit auf dem Parfumo-Foto zu sehen ist. „Les parfums historiques“ sichert unter Berufung auf die Osmothèque zu, dass die Formel dem Original entspricht und „100% natürlich“ ist; Angaben zur geographischen Herkunft und der Verarbeitung werden allerdings nicht gemacht.

Den zylindrischen Flakon, der auf napoleon-cologne.fr beworben wird, gibt es offenbar seit 2020. Die Formel muss gleich geblieben sein, der Preis pro Milliliter ist gestiegen. Der alte Flakon ist zur Zeit noch in einigen französischen Online-Shops erhältlich, so bin ich 2021 auch (für 54 € versandkostenfrei) an meinen derzeitigen 100-ml-Flakon gekommen. Eine 25-ml-Größe scheint neuerdings dazugekommen zu sein.

Das sind keine Preise, bei denen man sich guten Gewissens alle Stunde rundum einsprühen kann, um heiße Wochenenden zu überstehen. Zu diesem Zweck müssten sich auch noch erfrischendere Düfte finden lassen, vielleicht eher mit Bergamotte oder Bitterorange und frischeren Gewürzen. Na ja, einmal Einnebeln, um sich in den Exil-Kaiser zu versetzen, ist sicher vertretbar. Ansonsten ist es für mich ein Duft, mit dem man sich von Zeit zu Zeit eine kleine, kurze Freude macht. Allerdings sollen sich Zitrusöle auch im -angebrochenen- Flakon nicht allzu lange halten. Wie ich es verstehe, sind diese Öle in modernen Parfums meist aufkonzentriert und dadurch haltbarer; im Vergleich könnte dieses historische Cologne also besonders schnell altern. Auf der Haut dagegen scheinen auch moderne Fixativa die schönsten der Zitrusaromen nicht wesentlich langlebiger zu machen. Da die vermuteten Zutaten alle leicht als reine ätherische Öle erhältlich sind, könnte ein Diffusor eine preiswerte Alternative mit längerer Wirkungsdauer sein; damit hab ich keine Erfahrung.

Persönlicher Hintergrund (für besonders müßige Leser): Meine Eltern hatten, wohl in den späten 90-ern, einen Flakon als Souvenir aus Frankreich mitgebracht, eventuell mit Gedanken an unsere Hauskatze Napoleon. Jedenfalls wurde der noch verpackte Flakon jahrelang auf einem Regal unweit vom Katzenklo ausgestellt, ehe ich auf die Idee kam, den Duft auszuprobieren. Ich kannte zu der Zeit eigentlich bloß verschiedenartig seifige Herrendüfte, die ich unerfreulich fand, aber deren gesellschaftliche Funktion mir einleuchtete. Das Sankt-Helena-Cologne, ohne deutlichen Bezug auf Geschlecht, Alter oder sozialen Status und bereits durch seine sehr kurzzeitige Außenwirkung entschieden unfunktionell, brachte mir da eine ganz andere Perspektive. (Um mich damals schon weiter mit Parfums zu beschäftigen, erschien das Cologne vielleicht doch zu sehr als Ausnahme, und mir fehlte eine Vorstellung davon, wie ein solches Hobby erschwinglich sein könnte.)
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