Earl Grey 1994 Eau de Parfum

DasguteLeben
02.11.2016 - 18:25 Uhr
22
Top Rezension
9
Flakon
7
Sillage
6
Haltbarkeit
8
Duft

English perfume, quite!

Vor zwei Jahren stand ich an einem Wochentag vor der verschlossenen Tür von Angela Flanders viktorianischem Parfümgeschäft auf der Columbia Road - einer Marke, von der ich trotz meiner Liebe zu englischen Düften noch nie gehört hatte. Die Auslage war verlockend und ich schwor mir bei der nächsten Gelegenheit wiederzukommen.
Vor kurzem, während der fast schon traditionellen Familienwoche in London, war es dann endlich soweit und wir besuchten den Columbia Road Flower Market, zu dem all die schönen kleinen Indie-Läden auf der Straße ihre Pforten öffnen. Zwischenzeitlich hatte ich ein bisschen recherchiert und gelesen, dass Mrs. Flanders leider im April dieses Jahres im seligen Alter von 88 Jahren verstorben war: eine interessante Frau, die ihre Karriere in den sechziger Jahren im Bereich Kostümdesign machte, sich in den Siebzigern dann mit Raumdesign und Antiquitätenhandel selbständig machte und in ihren Sechzigern schließlich Parfüm für sich entdeckte und als Autodidaktin eine Nischenmarke gründete, in einem Alter wenn die meisten Menschen sich endgültig zur Ruhe setzen. Mit 84 Jahren gewann sie 2012 einen FiFi-Award für Precious One als bestes neues Indie-Parfüm. Chapeau!

Das Geschäft wird nun von ihrer Tochter weitergeführt und als ich es aufsuchte war es voller herumschnüffelnder Parfümenthusiasten. Ich hatte mir vorgenommen einen Duft als Souvenir zu erwerben und schon bei der Vorlektüre ein Auge auf Earl Grey geworfen, welches überzeugend "English" klang. Ich versuchte gut zwei Dutzend Düfte, einige sehr traditionell (die Artillery Linie), andere eher modern (Caspian, ein Cool Water Duft, Black Oudh, Precious One, eine typische Feige), aber letztlich überzeugte mich Earl Grey tatsächlich am Meisten ( das angenehm animalische Ambre Noir landete auf Platz 2). Earl Grey verkörpert in der Tat einen sehr englischen Ansatz in der Parfümerie, tut es nicht( Gruß an Asterix)? Wie Peter Ackroyd in "Albion", seiner historischen Studie des englischen Charakters argumentiert, liegt der Wesenskern der Inselbewohner ironischerweise in ihrer fortlaufenden Assimilation des Fremden. Schon die Sprache ist ja ein angelsächsisch-frankonormannisches Amalgam voller keltischer und skandinavischer Lehnwörter und seine globale Anpassungsfähigkeit ist ja auch sprichwörtlich. Wie es auch mit Gin Tonic, Paisley Krawatten und Earl Grey Tee der Fall ist kreiert dieser Duft aus Exotika etwas zutiefst Englisches, in diesem Fall mithilfe mediterraner Bergamotte (und anderer Zitusnoten), orientalischen Gewürzen, südamerikanischem Rosenholz und indischem Patchouli. Die herbe Bergamotte scheint mir mit etwas grün-süßer Limette und orangigen Noten verziert - sie ist kräftiger als die Referenzbergamotte des klaren, feinen prä-synthetischen Farina Kölnisch Wassers - aber nicht so unmittelbar intensiv wie Earl Grey Tee, wenn man seine Nase in die Teedose steckt. Teenoten sucht man in Earl Grey EdP übrigens vergeblich, es handelt sich hier nicht um einen Bvlgari Klon! Neben den Zitrusnoten nimmt man dagegen sofort eine würzige Melange wahr aus Muskatblüte, Koriander, Kardamom und Nelke - Noten die sich oft in Mrs. Flanders Düften finden und vermutlich auf die englische Potpourri-Tradition zurückgehen. Unterlegt ist dieser Gewürzteppich von leichtem Rosenholz und die Basis bildet Patchouli - nichts was auch nur annähernd dem modrig-erdigen Villoresi Patchouli oder dem brutalen Montale Patchouli Leaves ähnelte, nicht mal dem Etro Referenz-Patchouli (Vintage Version). Nein, dieses Patch ist gründlich anglisiert, frei von jeder erdigen Düsterkeit, Unterholz oder Humusnoten, ist weit mehr Sissinghurst als Sherwood Forest.

Und das ist es auch schon, diese feine Mischung begleitet den Träger gute acht Stunden mit milder Sillage - wohlerzogen, weder süß, noch zu herb und angenehm natürlich duftend, aber nicht ursprünglich sondern in der Art der drapierten Natürlichkeit eines englischen Gartens, der Natur als durch Zivilisation perfektioniertes Ideal zelebriert. Völlig abwesend ist sowohl die körperliche Sinnlichkeit als auch die künstlerische Abstraktion, welche seit Jicky die französische haute parfumerie markieren - aber will man nach Jicky riechen, wenn man zum Afternoon Tea bei der Dowager Countess of Grantham eingeladen ist? Oder wenn man clotted cream vom Körper seiner/seines Liebsten schleckt? Earl Grey Eau de Parfum duftet gut und lässt seine Träger gut duften, in der unaufdringlichen Weise viktorianischen Maßhaltens - nicht zu wenig, nicht zu viel und wirkt dabei auch nicht abgehoben elegant oder over-sophisticated: dies ist kein Duft von einem Duchaufour oder Morillas für Penhaligon's, dieses parodistische Simulacrum von "Englishness", dass sich spöttisch um Industriedüfte wickelt. Earl Grey ist das Werk einer "Dilettantin," wie man diesen Begriff im achtzehnten Jahrhundert verstand: einer mit tiefer Hingabe und Talent ihrem Sujet zugewandten Amateurin, deren Ansinnen nicht auf Pekuniäres reduzierbar ist. Earl Grey ist in der Tat was man im Englischen "fine fragrance" nennt. Testen kann man diesen wie alle Flanders Düfte nur in den zwei Londoner Läden (Columbia Road und Spitalfields) - eine Form von Exklusivität als wohlverstandene Selbstbescheidung , die wesentlich überzeugender wirkt als der übliche Nischen-Ansatz astronomischer Preise, die an Statusfixierungen appelieren, aber keinerlei Bezug zur Produktqualität haben. Glücklicherweise kann man die Düfte über eine Website (nach) bestellen - allerdings fehlt dann das Erlebnis der von Angela Flanders als viktorianische Gesamtkunstwerke gestalteten Interieurs, deren Erinnerung die dort erworbenen Düfte Um eine weitere englische Dimension bereichert.
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