Jingle
30.07.2021 - 04:29 Uhr
9
Sehr hilfreiche Rezension
8
Flakon
5
Sillage
8
Haltbarkeit
7
Duft

Viele feinfühlige Finger

„Geschöpf“ – ich gebe zu, dass ich mich vom Namen des Parfums habe neugierig machen lassen; die dahinterstehende Message, wir erschaffen uns selbst und entscheiden unsere Identität, finde ich tröstlich und ermutigend.

Geschöpf wirkt an mir wie ein würzig-holziger Duft mit viel Zitrus und einem modern-harzigen Weihrauch im Auftakt, er hat fast keine Süße, strahlt dafür viel Einfühlsamkeit aus.
Durch die elegante Verblendung der Noten und die insgesamte Wohltemperiertheit wirkt das Parfum feingliedrig und androgyn. Das Geschöpf ist ausgewogen, man muss auch keine einzelne Note fürchten (wie ich gerne mal den Weihrauch), allerdings sollte man die grobe Richtung Gewürzschublade schon mögen.

Geschöpf beginnt lecker zitrisch mit einem guten Schuss spritziger Säure und spricht mich direkt mit harzigen und holzigen Noten an. Sehr hübsch! Direkt anschließend bekomme ich eine Art Tee-Vibes, am ehesten Rooibos, ohne dass der Duft aber wirklich nach Tee röche. Diese Assoziation kommt, vermute ich mal, von der Kombination Tabak-Feige-Kardamom. Schon bald zeigt zeigt sich das würzig-aromatische Herz des Geschöpfs. In der Basis gibt es dann etwas mehr Feige, die Orangenblüte und generelle hyggelige Pleasantness mit den üblichen Verdächtigen.
Am charakteristischsten am Duft finde ich seine Ausgewogenheit und dass sich die Noten nebeneinander zurückhalten, niemand spielt sich in den Vordergrund oder würde laut. Das ist, auch als gesellschaftliche Utopie nebenbei, sehr harmonisch und angenehm.
Der Duft bringt Diversität mit sich, vielfältigen Aspekten kann nachgeschnuppert werden, immer wieder aufs Neue. So wird er seiner Widmung gerecht und ist in dieser Hinsicht sehr gelungen.

Gewürze sind nicht meine Richtung, deswegen fällt es mir schwer, hier Verweise zu nennen. Etra ist das einzige, das mir einfällt, aber nagelt mich nicht drauf fest. Geschöpf hat auch eine viel modernere Anmutung.

Ich wollte den Duft vor allem wegen seiner holzigen Aspekte testen, diese sind mir hier aber nicht dominant genug. Es ist für mich in erster Linie ein würziger Duft. Nett und schön, aber nicht für mich, er ist nicht mein Beuteschema.
Ich kann mir den Duft dagegen gut an einer ruhigen und eher introvertierten Person vorstellen, für einen Besuch im Buchladen oder Antiquitätengeschäft, für besonnene Momente zu Hause. Geschöpf ist unisex as can be, und ich sehe ihn im Frühling oder Herbst.

Die postulierte weltumfassende Zärtlichkeit („eine zärtliche Hommage an alle Lebewesen“ und dergleichen Werbetexte) vernehme ich hier nicht, oder maximal sehr verkopft. Dafür fehlt dem Duft der Pathos. Es ist eher die freundschaftliche Zuneigung bei einem Besuch. Man steht zusammen in der Küche, hat sich nach dem lieben Angebot „Möchtest du was zu trinken?“ für einen Tee entschieden, steht gemeinsam vor dem offenen Hängeschrank und bekommt das ganze Sortiment an Schachteln präsentiert, um sich was auszusuchen. Dann wird Carole King auf den Plattenspieler gelegt, das Vinyl knistert an und man sitzt zusammen am Küchentisch mit der großen Holzplatte (unbehandelt), und wenn man darauf mit der Tasse nasse Ringe hinterlässt, dann ist das überhaupt nicht schlimm.
4 Antworten