Jo13579
06.02.2021 - 17:06 Uhr
17
Top Rezension
8.5
Duft

Ausflug durch die Nacht

'Gut', dachte Eugene, 'Genug für heute'. Er stand an einer Laderampe am Dock, beobachtete einige Gestalten, die große Kisten auf ein zwielichtiges Boot trugen. "Vorsicht!", bellte er. Einer seiner Männer hatte eine Kiste fallen lassen, und ein Karabinerlauf blitzte hervor. Ein leicht metallischer Dunst stieg in seine Nase, als warme Tropfen des nächtlichen Sommerregens auf die Erde und den Asphalt prasselten. Ein Mann kam auf ihn zu, mittelamerikanisch. Ein leichter Hauch von Koriander wehte von diesem zu ihm herüber. Das Abendessen war nicht lange her, aber er selbst hatte dafür keine Zeit gehabt. 'Mexikanisch wäre toll, wenn es doch nicht schon so spät wäre...' - mit knurrendem Magen blickte er ihm entgegen, und hob fragend eine Braue. Der Mann holte einen Umschlag heraus, dick gefüllt. Eugene öffnete ihn, ließ die grünen Scheine durch die Finger rauschen, nickte zufrieden. "Passt." Ein fester Händedruck, und der Mann war zwischen den Containern des Hafens verschwunden. Eugene drückte seine Mentholzigarette aus, drehte sich um, winkte die Männer zurück. Er selbst ging hinüber zu seiner Harley, strich über den Sitz. Hier in New Orleans war das Wetter schwül, das hochwertige Kunstleder nach sowjetischer Art dagegen widerstandsfähig. Das Gewebe aus Baumwolle war von dünnen Fäden süßlichen Harzes durchzogen. Es glänzte, getränkt und versiegelt durch dunkelstes Patchouliöl. Seine schwarze Lederjacke war echt. Das Leder atmete besser in der warmen Feuchte, und es musste authentisch bleiben. Die zwei Zylinder brummten, aus dem verchromten, hochgebogenen Auspuff stieg der leichte Geruch verbrannten Benzins. Sie fuhren los, und als sie vom Hafengelände in Richtung Stadt abbogen, kamen sie an einer kleinen Straßenbaustelle vorbei. Die Arbeiter hatten erst spät Feierabend gemacht, und der Regen nieselte zischend auf den noch warmen Asphalt. Kurz darauf sahen sie einen Zebrastreifen in der Ferne. Das trübe, gelbe Licht der Straßenlaterne warf seinen Schein auf eine kleine, alte Frau. Der Bingoabend war spät geworden, und, in Richtung der herannahenden Motorräder blickend, setzte sie einen Fuß auf die Straße. Ihre kleine Wohnung war gleich auf der anderen Straßenseite, und ein dumpf beleuchtetes Fenster verriet, wo ihr Mann geduldig auf ihre Heimkehr wartete. Hoffentlich war er nicht schon wieder über den letzten Artikeln der Morgenzeitung eingeschlafen. Eugene hob im Fahren schweigend die Faust, die anderen verstanden. Sie wurden langsamer, hielten an. Das Licht ihrer Scheinwerfer spiegelte sich auf dem nassen Asphalt. Gemütlich überquerte die lächelnde Greisin die Straße, während Eugene sich eine weitere seiner Mentholzigaretten ansteckte. Auch er hatte ein Herz, und der sanfte, warme Geruch seiner Umgebung ließ ihn ruhig und zufrieden werden. Auch er freute sich auf sein warmes Bett, und vielleicht war noch genug Zeit, seinen Kindern eine kleine Geschichte vorzulesen.
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