28 Peau d'Ambre 2019

Gaukeleya
18.11.2021 - 10:56 Uhr
73
Top Rezension

Die Fichtennadel überwinden

Zu Nadelgehölzduft, insbesondere Fichtennadel, habe ich ein zwiespältiges Verhältnis. Zwei wichtige, emotional gegensätzliche olfaktorische Erfahrungen sollen dies veranschaulichen.

1) Zu einer der Päppelungmassnahmen in meiner Kindheit - ich war immer überzart, besonders im Winter - gehörten neben der Einnahme von Stärkungsmitteln und Lichtduschen per Höhensonne bei meinem Kinderarzt auch muckelig warme Wannenbäder.

Meine Mutter war der Überzeugung, dass Kräuterbäder besonders effektiv seien und setzte als Badezusätze für mich wahlweise ein:

- Rosmarin zur Stärkung meines schwachen Kreislaufs
- Melisse zur Stärkung meines überempfindlchen Nervensystems
- Eukalyptus zur Erkältungsbekämpfung
- Tanne zur --- ja, für was eigentlich?? Ich weiss es nicht. Nur, dass ich darin auch baden sollte und es gern tat.

Das sind schöne, wärmende Erinnerungen.

2) Es gab da diesen einen Patienten, den Rentner Herrn R., einen Weltkriegsveteranen, zu einer Zeit, als einige Weltkriegsveteranen noch lebten. Ein wortkarger, unfreundlicher, gar finster wirkender Mann, der aus dem Krieg wohl nie richtig heimgekehrt war. Seiner Akte entnahm ich, dass er immer noch unter einem Granatsplitter leiden würde, der seit dem Krieg noch weiterhin durch sein Gehirn wanderte.

In seinen schweren, fast bodenlangen, schwarzen, knarrenden Ledermantel gehüllt, der ungute Assoziationen hervorrief, schnarrte er: "Ich bitte um eine Verrorrrdnung über meine Fichtennadelbäderrr." Auch hier blieben unschöne Assoziationen nicht aus.
Noch lange, nachdem er die Praxis verlassen hatte, hing in der Luft der Geruch von Fichtennadelessenz.

Das sind eher unangenehme Erinnerungen.

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Peau d´Ambre macht es mir leicht, mich auf meine wärmenden Nadelholzerinnerungen aus der Kindheit zu besinnen. Der Tannenbalsam ist der rote Faden, das Gerüst, auf dem der gesamte Duft aufgebaut ist. Doch das Gerüst wird hier wärmend und fein umfüttert von lieblichem Holz, sanftem Rauch, mildem Harz und goldenem Amber.

Das goldene Leuchten oszilliert auf der Haut, mal ist es mehr trocken und herb, dann wieder honigmilchig-süsslich. Zum Ende hin, kaum überraschend, obsiegt die warme Lieblichkeit, ohne das balsamische Nadelhölzchen je vollständig verglimmen zu lassen. Die Schärfe des Tannenbalsams wird so gekonnt ambriert abgepuffert, dass ich keine medizinschen Verrorrrdnungsassoziationen entwickele, sondern fast schon eine sinnliche Noblesse verspüre.

Gerade an ungemütlichen, düsteren Novembertagen wärmt er mir mit seiner schönen Balance aus wohligem Herbstabend und trostreichem Waldambiente Herz & Seele, lässt mich in Wohlsein baden wie einst die kleine Gauklerin in der warmen Kinderwanne.
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