Photo 1990 Eau de Toilette

Peanut
17.12.2019 - 13:50 Uhr
71
Top Rezension

Drei viertel voll

Ich hatte in den Herbstferien Prospekte verteilt, um ihn dir zu Weihnachten zu kaufen. Ich hatte keine Vorstellung von dem Duft. Ich hatte keine Ahnung von Duftnoten, Hölzern, Eichenmoos, aber du musstest ihn einfach bekommen: Ein Fotograf sollte „Photo“ besitzen und tragen, fand ich.

Ich hatte keine Ahnung, ob er zu dir passen würde, denn der Duft erschien mir nebensächlich. Der Name war es, der für mich zählte. Meine Ignoranz gepaart mit guten Absichten wurde belohnt: Denn „Photo“ passte genau, duftete er in etwa wie das Wässerchen aus dem Schüttflakon, das in deiner Dunkelkammer immer waberte, wenn ich dich besuchte, um nicht mit dem Bus von der Schule nach Hause zu fahren. Holzig-süßlich und herb-seifig, irgendwie generisch, dennoch alles andere als beliebig.

Der Duft fiel irgendwann ein wenig aus der Zeit. Er wurde unsichtbarer in der Fülle der immer spritzigeren, sportlicheren Neuerscheinungen, du trugst ihn aber unbeirrt. Nicht ausschließlich, aber kontinuierlich. Ich schenkte ihn dir immer mal wieder, denn er gehörte zu dir wie dein Knipsfinger, dein Bart und deine zu locker sitzenden Pullover.

„Im Badezimmer sind noch persönliche Dinge“ sagte die Hospizschwester, als wir deine Sachen zusammenpackten. Sie machte das Fenster auf und ließ kalte Luft ins Zimmer strömen. Draußen eilten Menschen hin und her, um die allerletzten Weihnachtseinkäufe zu machen, die alljährlichen, unvermeidlichen Verzweiflungsgeschenke zu besorgen, naturgemäß kurz vor Ladenschluss. Ich ging ins Bad und sah mich um: Deine Schuhe neben der Sauerstoffflasche, deine Lavendelseife, Zahnbürste. Am Waschbecken der Flakon „Photo“. Ich hatte keine Ahnung, dass du ihn bis zuletzt bei dir hattest. Es war gewiss nicht derselbe Flakon, wie der an Heiligabend vor fünfundzwanzig Jahren. Aber dergleiche.

Ich steckte ihn ein und nahm ihn mit nach Hause. Dich konnte ich nicht mehr mit nach Hause nehmen. Völlig unlogisch für mich, es war doch Heiligabend. So viel zu tun jetzt – und doch nichts mehr. Was macht man, wenn der Lieblingsmensch geht? Wo soll man suchen, wo finden? Kann Weihnachten überhaupt sterben und wie lange dauert eigentlich „nie wieder“? Ein leerer Kopf, ein volles Herz, ein drei viertel voller Flakon „Photo“ in der Manteltasche.

Ich habe noch immer keine Ahnung. Dein Flakon „Photo“ ist noch immer exakt drei viertel voll. Ich schnuppere immer nur vorsichtig am Sprühkopf, zu mehr fehlt mir der Mumm. Das letzte Mal hast du nämlich gesprüht – und das soll auch so bleiben. Kein anderer als dein Knipsfinger soll den Sprüher jemals betätigen. Eingestellt haben sie „Photo“ auch noch – wie zynisch. Ist vielleicht aber auch besser so, denn damit sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass ihn dieses Jahr irgendjemand irgenjemandem zu Weihnachten schenkt. So aus purem Zufall, als Verzweiflungsgeschenk kurz vor Ladenschluss.
24 Antworten