25 Indochine 2011

FvSpee
06.05.2017 - 11:12 Uhr
36
Top Rezension
8
Flakon
6
Sillage
6
Haltbarkeit
9.5
Duft

Melancholie am Mekong

Irritiert war ich zunächst. Was ist das? Sehr ungewöhnlich. Woran ich mich festhalten konnte: Die Farbe des Duftes ist gelblich, erdig, ocker, vielleicht braun. Wie Honig, wie Curry, wie ein träger Fluss, der Erde mit sich trägt, wie eine Staubpiste durch gerodeten Tropenwald. Ansonsten: Recht viel Süße, würzige und harzig. Kaum Frische. Ist der Duft also schläfrig, träge, schwer? Dazu ist er (merkwürdigerweise) nicht weich und warm genug, und vor allem, er hat eine gewisse Unruhe, gar Nervosität, die vielleicht von einer aufreizenden Duftnote herrührt. Ich kann sie zunächst nicht identifizieren, es fällt mir zu ihr nur ein: „unangenehm organisch“. Die Nase an meiner Seite erspürt zu alledem auch eine gewisse Rauchigkeit.

Ich hatte offenbar anderes erwartet. Was? Wer schon einmal in Indochina war, diesem märchenhaft schönen Teil der Welt, eingeschlossen vom Ozean in Osten und Süden und von den Großreichen China und Indien im Norden und Westen, der bringt seine eigenen Dufterwartungen mit: Blumen, unendlich viele, üppige Blumen (wie etwa Frangipani und Lotus, die Nationalblumen Thailands und Vietnams). Kaffee, denn Indochina ist nicht nur Kaffeeanbaugebiet, sondern auch eine Hochburg der Kaffeetrinker. Reis natürlich, der allgegenwärtige Reis. Frische Früchte und Gemüse: Bananen, Papaya, Zibet, Bambus, Kokos, Süßkartoffeln, Wasserspinat. Nichts, gar nichts davon in diesem Parfüm. Dann die Hitze, die erschlagende, oft auch feuchte Hitze. Wenig auch davon zu spüren in "Indochine": Eine gewisse leicht drückende Feuchtigkeit vielleicht, aber keine Hitze; ebenso wenig aber kühlende Frische, die man der tropischen Hitze olfaktorisch entgegensetzen würde, so wie kühler zitrischer Duft zum mediterranen Sommer passt. Stattdessen diese würzige Süße, fast etwas wärmend, erinnernd von ferne an Honigkuchen, an Gewürztee mit Milch (der in Indochina nicht getrunken wird). Heißt das „Thema verfehlt“?

Ein Blick also auf die Duftpyramide: Siam-Benzoe in der Basisnote, wohl für die würzigen und rauchigen Aspekte des Duftes verantwortlich. Ein Harz, das in Räucherwerk verwendet wird und aus Thailand stammt. Passt geographisch und, ja, vielleicht auch von den Dufterinnerungen, wenn wir an die zehntausenden Tempel denken, von denen ganz Indochina übersät ist und in denen die frommen Buddhisten beständig Räucherwerk opfern. Die Herznote: laotischer Honig, schön, ja. Andererseits, ist Honig so ganz besonders für Laos? Thanaka-Holz, der Rohstoff, aus dem, fein zerrieben, die Paste gewonnen wird, die von den Burmesinnen nationaltypisch als Schminke und Sonnenschutz aufgetragen wird. Sehr besonders für Myanmar, in der Tat, aber wer kommt schon einer Burmesin so nahe, dass er den Duft dieser Paste überhaupt kennt? In der Kopfnote kambodschanischer Pfeffer (Pfeffer ist heute überall, nichts Spezifisches also) und Sri-Lanka-Kardamom: Kardamom ist kein für Indochina typisches Gewürz, und Sri Lanka liegt weit entfernt von Indochina, wenngleich es religiöse Querverbindungen durch den Theravada-Buddhismus gibt. Haben also die Parfumeure hier einfach aus jedem Land rein mechanisch, ohne wirklich eine Geschichte zu erzählen, eine Zutat zusammengeworfen und sich dabei noch teilweise in der Geographie geirrt? Der Verdacht liegt nahe.

Das Rätsel löst sich, wenn wir bedenken, dass „Indochine“ ein französischer Duft ist. "Indochina“ hat für Frankreich noch eine besondere Bedeutung: „Französisch-Indochina“, bestehend aus Vietnam, Laos und Kambodscha, also "Groß-Indochina" ohne das (stets unabhängig gebliebene) Siam (Thailand) und das (einst britische) Myanmar, war einst die Perle des französischen Kolonialreichs. Es steht für schmucke Ortschaften, in denen sich südostasiatisches Flair auf das Vorteilhafteste mit dem Ambiente französischer Provinzstädtchen verbindet (wie sich heute noch etwa in Vientiane beobachten lässt) und für weite, exotische, unerschlossene Landflächen. Es steht auch für eine koloniale Vergangenheit, die hier (trotz des blutigen Indochina-Kriegs in den 50-ern) nicht so traumatisch besetzt ist wie das Thema „Algerien“, sondern eher mit Melancholie. Der Melancholie angesichts des träge dahinfließenden Mekong, der ländlichen asiatischen Langsamkeit, der berückenden Schönheit der Töchter des Landes, der Melancholie auch angesichts der nie aufgelösten Spannung zwischen (vielleicht aufrichtigem) Entwicklungsverprechen und (teils brutaler) kolonialer Ausbeutung, der Melancholie des Verlustes und Abschieds, und vielleicht auch der Melancholie darüber, was dieses Paradies und Traumland nach der Unabhängigkeit noch an furchtbarem Leid erdulden musste.

Bedenkt man dies, dann versteht man den Duft, und dann kann man beginnen, ihn zu lieben. Er versucht gar nicht, den „wirklichen“ Duft in den Garküchen Saigons oder auf den Bauernmärkten Nordthailands wiederzugeben. Er steht für warme, üppige Schönheit, koloniale Langsamkeit und tiefe Traurigkeit zugleich: „Indochine, mon amour“.

Was die merkwürdige (relative) „Kühle“ des Duftes betrifft, sollte bedacht werden, dass es in Indochina nicht immer drückend heiß ist. In gewissen Jahreszeiten und in gewissen Gegenden, vor allem natürlich im Hochland, kann es, zumal nachts, auch empfindlich kühl werden. „Empfindlich kühl“ können dabei schon 18 Grad sein, denn die Häuser haben keine Heizung und die Menschen, wenn sie arm sind, keine andere Oberbekleidung als T-Shirts. Und in der Regenzeit herrscht eine alles durchdringende Feuchtigkeit, die schon bei leichter Kühle frösteln lässt.

Und auch mein persönliches Dufträtsel hat sich gelöst: Die „unangenehm organische Note“ vom Beginn des Duftverlaufs: So hat bei mir ein paar gute Lederschuhe einmal gerochen, nachdem es feucht geworden und nicht wieder richtig getrocknet war. Das gesamte Sohlenleder musste ersetzt werden, weil es verdorben war. Diese von mir (in Deutschland) erlebte Geschichte passt gespenstisch gut mit dem „Kolonialthema“ zusammen, denn genau das ist sicher auch mit manch einem teuren Paar Pariser Schuhe in Saigon oder Luang Prabang passiert. Bestimmt war das keine Absicht der Parfumeure, aber es passt ins Bild eines verregneten Nachmittags am Mekong.

Bisher habe ich nur meinen ersten Dufteindruck geschildert. Wie geht es weiter? Nach etwa zwei bis drei Stunden ist das „verdorbene Leder“ völlig verschwunden, oder genauer, es hat sich harmonisch zusammenstimmend mit den übrigen Komponenten verbunden. Die Nervosität des Beginns hat sich aufgelöst, ist zur Ruhe gekommen. Es bleibt noch für einige Stunden, recht hautnah inzwischen, eine sanfte und ruhige Würzigkeit, mit einer inzwischen gezähmten Süße und leicht herben Noten. Noch immer sehr ungewöhnlich und etwas geheimnisvoll, jetzt aber schön und fast schon gefällig. Die Rauchigkeit im Hintergrund bleibt bestehen, bis der Duft schließlich erlischt, oder eher, mit dem Geruch des eigenen Körpers verschmilzt. Die Harmonie ist wiederhergestellt, aber wir wissen, dass sie gefährdet bleibt.

Ich habe den Duft lieben gelernt, und wenn mir ein lieber Mensch einen Flakon davon schenken würde, ich würde ihn wie eine Trophäe bewahren den Inhalt an besonderen Tagen, vielleicht für mich selbst, benutzen. Ob ich ihn mir kaufen würde und ob man ihn "draußen" gut tragen kann, ist eine andere Frage.
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