Room 64 (Eau de Parfum) von RAAW Alchemy

Room 64 2021 Eau de Parfum

4ajbukoshka
16.04.2022 - 10:52 Uhr
17
Top Rezension
7.5Duft 10Haltbarkeit 9Sillage 8Flakon

Tavor ohne Lorazepam. Gepflegter Aschenbecher und Geborgenheit.

Es war wieder einer dieser Tage. Sie kannte es schon. Der Frühling blinkte ihr von allen Seiten und Leuchtreklamen in 2, 3 und 4D entgegen. Währenddessen hielt Jasmin vergilbte Fotografien in der Hand. Fotografien, die die Vergangenheit konserviert hielten. Auch nach zig Jahren musste man sich die Finger waschen, nachdem man die Fotos aus der Box gekramt hatte, denn man konnte ihnen nicht nur ansehen(!), woher sie stammten.
Jasmin erinnerte sich an diesen Tag, wie sie mit 17 Jahren, Freiheit in der Luft, ein bisschen Angst in und ihren Koffer mit allen Habseligkeiten, die ihr blieben, mit sich tragend, vor den großen Türen von Nummer 64 stand und ‚sie‘ das letzte Mal in ihrem Zuhause besuchen sollte und diese Fotos mitnahm. Nur geliehen, um sie zu digitalisieren und sie dann zurückzubringen. Es waren nicht viele, doch für beide bedeuteten sie eine halbe Welt. ‚Sie‘ kramte damals diesen dunkelroten samtenen Umschlag aus einer Schublade. ‚Sie’ war zwar verrückt, aber irgendwo, tief im Inneren, vielleicht immer noch sie selbst, wer auch immer ‚sie‘ gewesen war. Bekannte beschrieben sie als angsteinflößend. Temperamentvoll, schön, die Schönste in ihrem Dorf soll sie gewesen sein. Ihre Schwester erzählte, sie war schon als Jugendliche garstig gewesen und hatte Depressionen, seit sie denken konnte. Jasmin runzelte die Stirn. Wer weiß, wieviele Frauen es in diesem Dorf irgendwo im Nirgendwo der Weiten der Berge gegeben hatte. Jasmin konnte kaum atmen, so sehr stank es in dieser Wohnung. Auf 30 Quadratmetern Fläche wurde geraucht und selten gelüftet. Die Wände waren schon auf den ersten Blick bräunlich-gelb, noch gelber, wenn man die Fotos anhob und sich des Kontrasts bewusst wurde. ‚Sie’ saß mit leicht zittrigen Händen da und zog an der Zigarette, nicht einmal richtig, es sah seltsam aus. ‚Sie’ paffte quasi eine ganze selbstgestopfte Kippe weg, etwa fünf Zigaretten lang. Diese 250er Packung Hülsen reichte ihr nicht ganz eine Woche. Jasmin fand es bewundernswert, schlief ‚sie’ doch von 20 - 12 Uhr. Bewundernswert und abstoßend. ‚Sie‘ blickte auf. In diesem Moment wurde ihr Jasmins Anwesenheit wohl wieder bewusst. „Hast du mein Tavor gesehen?“ Jasmin schüttelte den Kopf. Kam dafür nicht der Medikamentendienst? „Ich brauche es unbedingt! Kannst du bitte gehen und welches holen? Ich halte es nicht aus.“ Jasmin nickte, froh, diesem Käfig für ein paar Minuten zu entkommen. Die nächste Apotheke gegoogelt machte sich Jasmin auf den Weg.
Tavor… „Entschuldigen Sie, kann ich Ihren Ausweis und die Verschreibung sehen?“ Jasmin hatte keinen und kramte nach einem Dokument, das ihr Alter bestätigte. „Nein, das kann ich Ihnen nicht geben. Wofür brauchen Sie es?“ „Für meine Mutter. Sie ist zuhause und es geht ihr nicht gut, sie bekommt es immer, hier.“ Jasmin kramte eine leere Schachtel heraus, vergilbt. Nach einer kurzen Diskussion gab Jasmin klein bei. „Xanax, irgendetwas? Was soll ich tun?“ „Rufen Sie in der Klinik an. Vielleicht sollte man sie besser einweisen, hier haben Sie eine Notfallnummer.“ Das wäre ihr Ende, ‚sie’ würde sie hassen. Nein. Jasmin verließ die Apotheke, ihr Optimismus auf einen angenehmen Tag bei ‚ihr‘ sie ebenso. Zurück bei ‚ihr‘ blieb Jasmin erst einmal wieder die Luft weg. „Hast du es?“ Jasmin nickte und hoffte, es wäre ihr nicht anzusehen, dass sie log. „Ich bringe dir ein Glas Wasser dazu.“ - „Bitte zwei Stück!“ Sie ging in die Küche und drückte die Tabletten aus dem Blister. „Warum dauert das so lange?“ „Moment!“ Als Jasmin mit dem Glas Wasser und einem geschnittenen Apfel zurückkam, lag ‚sie‘ auf dem Sofa. Sie war kreidebleich, bestimmt weil sie nie lüftete oder weil sie sich an einer Zigarette verschluckt hatte. Der Aschenbecher quoll über. „Hier - und iss etwas dazu. Die Dame in der Apotheke meinte, dir könnte übel davon werden, wenn du es auf leeren Magen einnimmst.“ „Warum ist es weiß? Das ist kein Tavor! Willst du mich vergiften?! Ich habe es schon immer gewusst, seit dem Tag, an dem du geboren bist, du bist mein Ende.“ „Das ist nicht Tavor, aber es ist Lorazepam. Der Wirkstoff von Tavor, in exakt der gleichen Dosierung. Das Original konnte ich mir nicht leisten.“ Hoffentlich glaubte ‚sie’ es. Anscheinend schon. „Du bist ein gutes Kind. Und jetzt lass Mama sich ein bisschen ausruhen.“
Das tat Jasmin zu gerne. Während ‚sie‘ schlief, packte sie die restlichen Zinktabletten in die Dose mit der Aufschrift „Tavor. Lorazepam“. Hier würde sie nicht bleiben, höchstens bis morgen. Draußen begann es zu regnen. Jasmin öffnete alle Fenster und setzte sich flach durch den Mund atmend in die Ecke, das Handy in der einen, den Zettel mit allen Telefonnummern für den Notfall in der anderen Hand. Die Augen auf ‚sie‘ gerichtet begann Jasmin, die Nummern einzuspeichern und nach einer anderen Bleibe zu suchen.

Wem das zu „meta“ war:
Tabak, authentischer, extrem starker, weniger saftiger, sondern angetrockneter Tabak, macht den Auftakt und ist bis zur Basis, die auch am nächsten NACHMITTag noch zu erahnen ist (nach dem Duschen, wohlgemerkt), zu riechen.
Der Raum ist ein Aschenbecher, allerdings einer ohne die allermeisten der Stoffe, die den ekligen Geruch eines Raucherzimmers respektive Aschenbecher ausmachen. Vergleichbar nicht mit dem jemandem, der aus einer Raucherkneipe kommt und dann duschen geht, sondern schätzungsweise eher mit jemandem, der nicht raucht, aber in einer Zigarettenfabrik arbeitet.
Der Raum suggeriert aus der Distanz Geborgenheit, man vernimmt deutlich die durch Vanille gesüßte Jasmin, bei näherem Hinsehen gruselt es einen doch etwas. Patchouli tut wohl sein Übriges. Hin und wieder riecht es auch wirklich nach Zigarettenrauch.
Seltsamerweise wurde er beim ersten Ausführen nach draußen als „lecker“ wahrgenommen (Zitat: „Woooaaah, Tshajbu, du riechst immer so lecker!“), allerdings hatte Tshajbukoshka an dem Tag nach dem Auftragen Pfannkuchen gebraten, vielleicht hat man die auch noch etwas in den Haaren gerochen. Vielleicht kam für die beiden Proband*innen, die, wie man erwähnen sollte, beide Raucher*innen sind, die Vanille am deutlichsten durch, für Tshajbukoshka als rauchfreie Person ist das ein sehr potenter, leicht gesüßter Aschenbecher, der nicht dem persönlichen Gusto entspricht.
Man hält ihn aus, wenn man muss, aber mehr als ein Mal muss es dann auch nicht sein.
12 Antworten
AurasnifferAurasniffer vor 9 Monaten
1
Uff ich liebe diese Rezension
DuftfArb3nDuftfArb3n vor 10 Monaten
2
Grosses Kompliment, sowohl für den „Meta“-Text als auch für die Erläuterung danach. Super gut geschrieben. Das konnte ich mir alles olfaktorisch, optisch und auch stimmungsmässig fast schon etwas zu gut vorstellen…es graust einem auch fast ein wenig, gerade wenn es einem evtl. die eine oder andere nicht so geniessbare Erinnerung hervor holt.
Pokal von mir.
4ajbukoshka4ajbukoshka vor 10 Monaten
Die Erinnerung an Grausiges sollte einen nicht mehr grausen können, meint Jasmin, denn sie kann einem dort, wo sie ist, nichts mehr tun und einen im besten Fall eher daran erinnern, wie fortschrittlich der Weg war, seit die Realität zur Erinnerung wurde. Frohe Weihnachten und alles Gute für Menschen, die unter psychischen Erkrankungen leiden oder Angehörige solcher Menschen sind. Vielen Dank für die lieben Worte der Wertschätzung - denn zumindest werden sie hier so verstanden.
TradescantiaTradescantia vor 3 Jahren
1
Nicht alles ist Wunschkonzert.
Weder der Duft, noch das Leben, wie es seine Geschichten stetig fortschreibt.
Interessante Rezension mit Feingefühl.
4ajbukoshka4ajbukoshka vor 4 Jahren
Wer etwas „Frohes“ sucht, wird hier definitiv nicht fündig - wohl weder beim Duft noch bei dessen Beschreibung. Upsi.
Medusa00Medusa00 vor 4 Jahren
1
Bin hin- und hergerissen, aber ich glaube ich brauch jetzt einen frohen Duft.
DelightfulDelightful vor 4 Jahren
1
Wow! Was für eine großartige bedrückend feinfühlige Duftkurzgeschichte! Ich bin ganz angetan, außer vom Duft! Kann mich aber nicht zwischen Nase rümpfen oder Interesse entscheiden, jedoch gehört der Geruch von gesüßtem Aschenbecher nicht wirklich zu meinen favorisierten Duftnoten ;D.. Hab ich sehr gerne gelesenen :)
FloydFloyd vor 4 Jahren
1
Ich mag Deine atmosphärisch dichte Metaebene! Klasse!
HasiHasi vor 4 Jahren
1
war toll zu lesen! ^^
PollitaPollita vor 4 Jahren
1
Das mit dem Aschenbecher kenne ich auch zu gut, beispielsweise bei Memoirs of a Trespasser und inzwischen leider auch ein bisschen bei Eau Duelle. In der Abstrahlung duften die wunderschön vanillig. Für mich schwingt immer die Kippe mit.
ExUserExUser vor 4 Jahren
1
Klasse Rezension! Egal ob Meta oder ganz konkret ... toll geschrieben :)
4ajbukoshka4ajbukoshka vor 4 Jahren
Mein herzlichster Dank geht an Karumi für die Möglichkeit, mal wieder etwas außerhalb meines Horizonts zu testen :)).