Enchanted Forest 2012

Verbena
02.06.2017 - 11:58 Uhr
49
Top Rezension
9
Flakon
7
Sillage
8
Haltbarkeit
9.5
Duft

Nicht jetzt, nicht heute, doch irgendwann

Leise raschelndes Waldgras. Flügelschlagen im dichten Geäst über ihnen. Verschwörerisches Flüstern. Ein Zweig knackt. Plötzlich Kriegsgebrüll. Zwei Brüder – beide neun – springen hinter knorrigen Stämmen hervor. Ihre kleine Schwester kreischt auf, erschrocken und verzückt zugleich. Endlich hat sie sie gefunden. Die Zwillinge wollen sich auf sie stürzen, doch sie ist zu flink für sie. Sie entwischt und dreht ihnen eine lange Nase. Bald werden sie es leid, dem Mädchen nachzujagen. Immerhin haben sie heute schon stundenlang Beeren gesammelt. Die ganze Lichtung duftet danach. Sie lassen sich erschöpft neben ihre Eltern ins Gras fallen. Vater und Mutter haben den Kindern beim Spielen zugeschaut, sie niemals aus den wachsamen Augen verlierend. Jetzt lächeln sie sich verstohlen an, wohl wissend um den Zauber, der sie beide einst hier zusammenführte.

Der Vater gibt den Söhnen ihren spannenden Fund zurück, einen von der Sonne ausgebleichten Marderschädel, den die Jungen vorhin mit wohligem Schaudern unter Beerensträuchern hervorgezogen hatten. Wahrscheinlich werden sie sich zu Hause darum streiten. Ihre Schwester hat andere Pläne. Ihr Abenteuer hat gerade erst begonnen. Es gibt so viel zu sehen und zu finden. Sie dreht sich im Tanz mit Schmetterlingen und lässt glänzende Käfer über ihre Hände krabbeln. Sie fängt eine Eidechse und lässt sie wieder frei. Ein Eichhörnchen flüchtet in Panik den nächstbesten Baum hinauf. Die Kleine gluckst vor Vergnügen.

Elfen umringen sie neugierig wie frohlockende Sonnenstrahlen, doch sie kann sie nicht sehen. Sie erlauben es nicht. Noch nicht. Ein Faun beobachtet sie, leise lachend, doch sie kann ihn nicht hören. Noch nicht. Er kennt das Geheimnis, das sich ihr eines Tages offenbaren wird. Nicht jetzt, nicht heute, doch irgendwann.

Unter dicken Wurzeln, halb verborgen im Erdreich, findet sie ein Päckchen. Es ist in grünwürzige Farnwedel gehüllt und umschlungen von einem Faden aus weißem Zwirn. Aufgeregt, doch vorsichtig löst sie den Knoten, wickelt den Inhalt aus und betrachtet ihre Beute. Getrocknete Beeren, Tannenzapfen, zart gesprenkelte Eierschalen und bunt schillernde Federn, alles gebettet auf ein weiches Moospolster. Den weißen Faden lässt sie fallen, unnütz jetzt. Ihr Kleidchen hat ja tiefe Taschen.

„Schaut, was ich gefunden habe!“ Sie breitet ihre Schätze vor Vater und Mutter aus und grinst verschmitzt. „Das habt ihr doch für mich versteckt.“ Die Eltern schütteln lachend den Kopf, doch die Kleine lässt sich nicht beirren: „Ihr habt es ja extra zusammengebunden mit einem weißen Faden.“ Ein dunkler Schatten huscht über das Gesicht ihrer Mutter, ein Hauch von Verzweiflung. Sie reißt das Mädchen an sich, inbrünstig, ungestüm. Gierig saugt sie den Duft ihrer kleinen Tochter ein, der ihr nach dem Spielen anhaftet wie eine zweite Haut. Die bitterdunkle Süße reifer schwarzer Johannisbeeren, herbgrün krautiger Blättersaft, klebrige Tannenzapfen, harzige Rinde, moosweicher warmer Waldboden.

Sie schaut zu ihrem Mann. Ihre Blicke treffen sich. Wussten sie es nicht schon immer? Sie werden ihre Tochter an diese Welt verlieren. Nicht jetzt, nicht heute, doch irgendwann. „Mami, du erdrückst mich ja!“ Sie entlässt die Kleine aus ihrer Umklammerung, küsst lächelnd die beerensaftverschmierten Wangen und zupft ihr behutsam harzklebrige Tannennadeln aus dem abenteuerlich zerzausten Haar. Es ist dicht und schwer wie das ihres Vaters, und es glänzt wie Rabengefieder.

Ganz langsam neigt sich die Sonne dem Horizont entgegen. Die Schatten wandeln ihre Gestalt. Sich wiegend kriechen sie hinter den Bäumen hervor und wachsen über Gräser und Farnbüsche. Der Vater scharrt leise mahnend mit den Hufen. Nur seine Frau kann es hören. Höchste Zeit aufzubrechen, bevor die Dämmerung heraufzieht. Länger zu verweilen wäre verhängnisvoll, denn im Banne des Zwielichts würde er für immer in den Wald zurückkehren. Sie könnte ihn nicht halten.

Sie sammeln die Kinder und die Beerenkörbe ein. Die Familie bricht auf, zurück in die Welt, die die Brüder immer als ihr Zuhause betrachten werden. Der Vater nimmt seine kleine Tochter huckepack. Sie quietscht ein fröhliches „Hü, Pferdchen!“ Die Zwillinge trotten murrend hinterdrein. Sie sind müde und hungrig und wollen endlich zurück an ihre Spielkonsolen. Sehr zum Ergötzen der begeisterten kleinen Reiterin auf seinen Schultern galoppiert der Vater übermütig den abendsonnigen Feldweg hinunter. Helles Mädchenlachen verhallt in der Ferne.

Nur die Mutter schaut sich noch einmal um. Ein letzter Blick zurück in die Schatten. Es war ein guter Tag. Die Kinder haben heute reiche Schätze gefunden, beerenfruchtig und harzduftend. Sie haben alles mitgenommen. Nur ein dünner weißer Faden liegt unbeachtet weggeworfen und vergessen auf dem dunklen Grund.

Bald schon ruft ein Käuzchen die Nacht herbei. Die ersten Sterne erwachen blinzelnd am kobaltblau samtigen Himmel. Im Schein der aufsteigenden Mondsichel erglüht silberzart schimmernd ein Einhornhaar.

Danke, Yatagan!
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