
Midnights
Rezensionen
Filtern & sortieren
Ein gutes Leben
"Nothing unusual, nothing strange
Close to nothing at all
The same old scenario, the same old rain
And there's no explosions here
Then something unusual, something strange
Comes from nothing at all
I saw a spaceship fly by your window
Did you see it disappear?“
(„Amie“, Damien Rice)
ER
An den meisten Tagen war das Leben gut. Die Glut knisterte noch leise, eher unaufgeregt als leidenschaftlich, zwischen Holzkassetten an den Wänden, beigefarbenem Sofa, klaren, respektvollen Blicken und selbstverständlichen Berührungen. Ob dies ein erfülltes Leben oder die wohltemperierte Summe erfüllter Wünsche war, war eine Frage, die er weder laut noch sich selbst stellen wollte. Sehnsucht war nur noch ein Rinnsal. An manchen Tagen schwoll aber dieses Rinnsal an und wurde zu einem Fluss. Innert Minuten sein Bett verlassend, konnte es alles überfluten, was nicht auf Verstandeshöhe oder achtsam genug im emotionalen Safe verstaut worden war. So wie heute. Er ist zwar nicht alleine zu Hause, aber irgendetwas hat das Rinnsal innert Sekunden in tosende Gewässer verwandelt. Er geht in die Garage und nimmt die Kartonschachtel mit der Aufschrift „Unterlagen Elternhaus“ aus der hintersten Ecke hervor. Ein kleiner Stapel, sieben oder acht Fotos, beschämt zwischen zwei längst unbedeutenden Katasterauszügen versteckt.
Ein grüner Fiat Cinquecento, sie steht daneben, rotblondes Haar und ein Lachen, in dem mindestens das Glück zweier Leben Platz hätte. Der Träger ihres Tanktops ist verrutscht, sie trägt im rechten Arm Bergamotten und Zitronen und hat mit der linken Hand den unteren Teil ihres Tops in ein Auffangbecken für die Früchte umfunktioniert. Der Bauchnabel blitzt hervor, sie ist sich in diesem Moment ihrer Selbst und ihrer Wirkung nicht bewusst. Wieviel Lebensglück kann auf einem Foto Platz haben? Wie gross sind grosse Lieben? Oder sind sie nur deshalb so gross (ja, Präsens), weil sie nie ihre Erfüllung gefunden und immer noch im Limbo der in Aussicht gestellten, aber niemals eingelösten Versprechen, schwebten? Er denkt an die Rosen, die er ihr an diesem Tag geschenkt hatte, wie sie das Ferienhaus mit den nach Osten ausgerichteten Fenstern mit ihrem Duft ausfüllten. Und er erinnert sich daran, wie sie die Rosen nicht wegwerfen wollte, selbst als sie beinahe verblüht waren und leicht animalisch knurrten.
Ihm fällt das Foto in die Hände, das sie von ihm gemacht hat. Das gleiche Jahr, andere Jahreszeit, früher Winter. Er war mit dem Vorwand aus dem Haus gegangen, frische Luft schnappen zu müssen. Der vorweihnachtliche Duft von Nelken und Zimt hing noch in seinem Schal. Neben einer Tanne wartete er auf sie, die höchste am Waldrand, sein eigenes After-Shave, irgendetwas mit Galbanum und Patchouli, in der Nase. Als er sie umarmte, roch ihr Hals vertraut nach Vanille, nur angedeutet, niemals raumfüllend. Sie hatte ihm vor Wochen eine Frage gestellt. Er schaute sie flehend an und sagte „Ich kann nicht“. Gehaucht und einer Feder gleichend verliessen die Worte seinen Mund. Mit seinen Worten überzogen wurde die Feder zu einer Messerklinge. Zu Hause hat er die roten Augen auf die Kälte geschoben.
Eine Stimme ruft seinen Namen, hastig legt er die Fotos in die Kiste und schiebt sie weit hinten ins Regal. Die geröteten Augen wird er heute mit dem Staub auf den alten Kisten in der Garage erklären.
SIE
Es war wieder einmal so weit. Der vertraute, ominöse Besuch in der Garage, angebliches Suchen nach irgendwelchen Reliquien in den alten Kisten. Sie steht noch in der Küche und schaut zur höchsten Tanne am Waldrand. Sie wusste ja immer, dass es einen Auslöser geben muss, nur welchen? Sie war gerade vom Markt zurückgekommen, hatte Bergamotten, Zitronen und einen Strauss duftender Rosen auf den Tisch gestellt. Im Radio lief gerade ein alter italienischer Schlager. Sie verwirft die Frage nach dem Warum.
Sie war schon immer clever genug, um schnell zu begreifen, was da lief. Der plötzliche Überschwang, der überraschende Besuch der Eltern in Italien, den er partout alleine machen musste. Auch war sie selbstsicher genug, um zu wissen, dass diese Sache vorbeigehen würde. Nicht zuletzt war sie mit ausreichend Selbstachtung gesegnet, um sich im Klaren zu sein, das Spiel nicht allzu lange mitzumachen. Hat sich dann kurz vor Weihnachten von selbst erledigt. Kein Mensch bekommt von ein wenig Kälte so rote Augen. Sie öffnet das Fenster und ruft ihm zu, dass das Mittagessen in 15 Minuten fertig ist, geht die Treppe hoch, um ihren Mantel in den Schrank zu hängen. Dabei bemerkt sie auf dem Boden eine Kiste, eine von den langen Kleidern nicht vollständig verdeckte Ecke. Sie kniet nieder und sieht sich die Etikette an: „Bilder und Briefe von Mama und Papa“. Irgendwo auf dem Boden der Kiste liegt ihre Brücke über dem Rinnsal der Sehnsucht. Aber nicht jetzt, jetzt gibt es erstmal Mittagessen.
Close to nothing at all
The same old scenario, the same old rain
And there's no explosions here
Then something unusual, something strange
Comes from nothing at all
I saw a spaceship fly by your window
Did you see it disappear?“
(„Amie“, Damien Rice)
ER
An den meisten Tagen war das Leben gut. Die Glut knisterte noch leise, eher unaufgeregt als leidenschaftlich, zwischen Holzkassetten an den Wänden, beigefarbenem Sofa, klaren, respektvollen Blicken und selbstverständlichen Berührungen. Ob dies ein erfülltes Leben oder die wohltemperierte Summe erfüllter Wünsche war, war eine Frage, die er weder laut noch sich selbst stellen wollte. Sehnsucht war nur noch ein Rinnsal. An manchen Tagen schwoll aber dieses Rinnsal an und wurde zu einem Fluss. Innert Minuten sein Bett verlassend, konnte es alles überfluten, was nicht auf Verstandeshöhe oder achtsam genug im emotionalen Safe verstaut worden war. So wie heute. Er ist zwar nicht alleine zu Hause, aber irgendetwas hat das Rinnsal innert Sekunden in tosende Gewässer verwandelt. Er geht in die Garage und nimmt die Kartonschachtel mit der Aufschrift „Unterlagen Elternhaus“ aus der hintersten Ecke hervor. Ein kleiner Stapel, sieben oder acht Fotos, beschämt zwischen zwei längst unbedeutenden Katasterauszügen versteckt.
Ein grüner Fiat Cinquecento, sie steht daneben, rotblondes Haar und ein Lachen, in dem mindestens das Glück zweier Leben Platz hätte. Der Träger ihres Tanktops ist verrutscht, sie trägt im rechten Arm Bergamotten und Zitronen und hat mit der linken Hand den unteren Teil ihres Tops in ein Auffangbecken für die Früchte umfunktioniert. Der Bauchnabel blitzt hervor, sie ist sich in diesem Moment ihrer Selbst und ihrer Wirkung nicht bewusst. Wieviel Lebensglück kann auf einem Foto Platz haben? Wie gross sind grosse Lieben? Oder sind sie nur deshalb so gross (ja, Präsens), weil sie nie ihre Erfüllung gefunden und immer noch im Limbo der in Aussicht gestellten, aber niemals eingelösten Versprechen, schwebten? Er denkt an die Rosen, die er ihr an diesem Tag geschenkt hatte, wie sie das Ferienhaus mit den nach Osten ausgerichteten Fenstern mit ihrem Duft ausfüllten. Und er erinnert sich daran, wie sie die Rosen nicht wegwerfen wollte, selbst als sie beinahe verblüht waren und leicht animalisch knurrten.
Ihm fällt das Foto in die Hände, das sie von ihm gemacht hat. Das gleiche Jahr, andere Jahreszeit, früher Winter. Er war mit dem Vorwand aus dem Haus gegangen, frische Luft schnappen zu müssen. Der vorweihnachtliche Duft von Nelken und Zimt hing noch in seinem Schal. Neben einer Tanne wartete er auf sie, die höchste am Waldrand, sein eigenes After-Shave, irgendetwas mit Galbanum und Patchouli, in der Nase. Als er sie umarmte, roch ihr Hals vertraut nach Vanille, nur angedeutet, niemals raumfüllend. Sie hatte ihm vor Wochen eine Frage gestellt. Er schaute sie flehend an und sagte „Ich kann nicht“. Gehaucht und einer Feder gleichend verliessen die Worte seinen Mund. Mit seinen Worten überzogen wurde die Feder zu einer Messerklinge. Zu Hause hat er die roten Augen auf die Kälte geschoben.
Eine Stimme ruft seinen Namen, hastig legt er die Fotos in die Kiste und schiebt sie weit hinten ins Regal. Die geröteten Augen wird er heute mit dem Staub auf den alten Kisten in der Garage erklären.
SIE
Es war wieder einmal so weit. Der vertraute, ominöse Besuch in der Garage, angebliches Suchen nach irgendwelchen Reliquien in den alten Kisten. Sie steht noch in der Küche und schaut zur höchsten Tanne am Waldrand. Sie wusste ja immer, dass es einen Auslöser geben muss, nur welchen? Sie war gerade vom Markt zurückgekommen, hatte Bergamotten, Zitronen und einen Strauss duftender Rosen auf den Tisch gestellt. Im Radio lief gerade ein alter italienischer Schlager. Sie verwirft die Frage nach dem Warum.
Sie war schon immer clever genug, um schnell zu begreifen, was da lief. Der plötzliche Überschwang, der überraschende Besuch der Eltern in Italien, den er partout alleine machen musste. Auch war sie selbstsicher genug, um zu wissen, dass diese Sache vorbeigehen würde. Nicht zuletzt war sie mit ausreichend Selbstachtung gesegnet, um sich im Klaren zu sein, das Spiel nicht allzu lange mitzumachen. Hat sich dann kurz vor Weihnachten von selbst erledigt. Kein Mensch bekommt von ein wenig Kälte so rote Augen. Sie öffnet das Fenster und ruft ihm zu, dass das Mittagessen in 15 Minuten fertig ist, geht die Treppe hoch, um ihren Mantel in den Schrank zu hängen. Dabei bemerkt sie auf dem Boden eine Kiste, eine von den langen Kleidern nicht vollständig verdeckte Ecke. Sie kniet nieder und sieht sich die Etikette an: „Bilder und Briefe von Mama und Papa“. Irgendwo auf dem Boden der Kiste liegt ihre Brücke über dem Rinnsal der Sehnsucht. Aber nicht jetzt, jetzt gibt es erstmal Mittagessen.
36 Antworten
Das Schattenspiel
Ein Blick hatte genügt. Keine Umwege, keine Fragen, wo wer her kommt und was wer macht, keine Bemerkungen über den Wettereinbruch und den nicht aufzuhören wollenden Nieselregen. Ein Blick quer durch die charmbefreite Bar, zwischen farblosen Menschen hindurch, die nach der Arbeit ihren Geist und die angespannten Nacken mit Hochprozentigem lockerten. Ein Blick, der die dichte Luft aus feuchten Jacken und nicht mehr ganz so frisch geduschten Menschen mit messerscharfer Sicherheit teilen musste, ehe er das Zielobjekt erreichte. Nun standen sie sich wortlos am Bartresen gegenüber, dem Blick des anderen trotzig standhaltend, und nippten an ihren Drinks. Ein grosser letzter Schluck, eine entschiedene stumme Aufforderung, jemand von ihnen zog einen Trenchcoat an, jemand eine gewachste Jacke, sie verliessen die Bar.
Sie liefen auf der menschenleeren Strasse einen halben Schritt hintereinander versetzt, zumindest jemand von ihnen wusste wohin. Nebeneinander zu gehen schien beiden zu vertraut.
Die hastige Suche nach dem Wohnungsschlüssel zog sich in die Länge. Der Jasminstrauch beim Hauseingang griente frivol wissend, der Duft so abgeklärt und dringend wie ihr Vorhaben.
Nun lagen sie nebeneinander in zerwühlten, moosigen Laken, die schon vor Tagen hätten gewechselt werden sollen. Der Duft der Nelken auf der Kommode legte sich über ihre Haut und mischte sich mit dem Schweiss. Die Rosen schienen weniger amused, kontrastierte, wenn nicht sogar karikierte, doch diese offensichtliche Menschlichkeit zu sehr ihre Überlegenheit. Harzige Honigperlen auf der schweissigen Stirn, erschöpft und errötet, unklar ob aus langsam verebbender Erregung oder vor Scham, wichen sie ungelenk den Blicken des anderen aus. Was hatten sie gesagt? Was hatten sie von sich gezeigt? Wer waren diese Schattenmenschen, die sich in die tierischen Niederungen des Menschseins herabliessen? Bitter säuerliches Unbehagen. Weil jemand Zeuge des eigenen Schattens geworden war? Oder hatten ihre eigenen Augen etwas an sich gesehen, was sie in eine dunkle Ecke verbannt hatten, so wie die Zuckerdose, welche die Nachbarin aus dem Urlaub in Spanien mitgebracht hatte? Schatten wie Kleinkinder, daran glaubend, dass wenn sie die Augen schliessen, niemand anders sie sehen kann. Es schien so einfach in den schützenden Membranen der Anonymität. Jetzt, wo jemand von ihnen daran dachte, dass der Sand im Katzenklo dringend gewechselt werden musste, schien die Kluft zwischen ihrem Selbstbild und dem, wer sie vor 15 Minuten waren, unüberbrückbar. Selbst die Katze auf der Kommode schaute sie verächtlich an, ernsthaft mit dem Gedanken spielend, die Vase mit den Nelken umzustossen. Das Vakuum durchbrechend stand jemand von ihnen ihnen auf, schüttelte den Kopf mit geschlossenen Augen kurz, drehte sich grinsend zum anderen um und fragte: „Honey, und was spielen wir nächste Woche?"
Sie liefen auf der menschenleeren Strasse einen halben Schritt hintereinander versetzt, zumindest jemand von ihnen wusste wohin. Nebeneinander zu gehen schien beiden zu vertraut.
Die hastige Suche nach dem Wohnungsschlüssel zog sich in die Länge. Der Jasminstrauch beim Hauseingang griente frivol wissend, der Duft so abgeklärt und dringend wie ihr Vorhaben.
Nun lagen sie nebeneinander in zerwühlten, moosigen Laken, die schon vor Tagen hätten gewechselt werden sollen. Der Duft der Nelken auf der Kommode legte sich über ihre Haut und mischte sich mit dem Schweiss. Die Rosen schienen weniger amused, kontrastierte, wenn nicht sogar karikierte, doch diese offensichtliche Menschlichkeit zu sehr ihre Überlegenheit. Harzige Honigperlen auf der schweissigen Stirn, erschöpft und errötet, unklar ob aus langsam verebbender Erregung oder vor Scham, wichen sie ungelenk den Blicken des anderen aus. Was hatten sie gesagt? Was hatten sie von sich gezeigt? Wer waren diese Schattenmenschen, die sich in die tierischen Niederungen des Menschseins herabliessen? Bitter säuerliches Unbehagen. Weil jemand Zeuge des eigenen Schattens geworden war? Oder hatten ihre eigenen Augen etwas an sich gesehen, was sie in eine dunkle Ecke verbannt hatten, so wie die Zuckerdose, welche die Nachbarin aus dem Urlaub in Spanien mitgebracht hatte? Schatten wie Kleinkinder, daran glaubend, dass wenn sie die Augen schliessen, niemand anders sie sehen kann. Es schien so einfach in den schützenden Membranen der Anonymität. Jetzt, wo jemand von ihnen daran dachte, dass der Sand im Katzenklo dringend gewechselt werden musste, schien die Kluft zwischen ihrem Selbstbild und dem, wer sie vor 15 Minuten waren, unüberbrückbar. Selbst die Katze auf der Kommode schaute sie verächtlich an, ernsthaft mit dem Gedanken spielend, die Vase mit den Nelken umzustossen. Das Vakuum durchbrechend stand jemand von ihnen ihnen auf, schüttelte den Kopf mit geschlossenen Augen kurz, drehte sich grinsend zum anderen um und fragte: „Honey, und was spielen wir nächste Woche?"
35 Antworten
Von endlosen Sommern und verblichenen Postkarten…
Es ist 14:27 Uhr. Die sommerliche Mittagssonne hat ihren Höchststand vor gut drei Wochen erreicht, nur will sich keine Erleichterung einstellen. Die Hitze drückt auf die Gliedmassen und die Gedanken. Ein Vakuum aus körperlicher und geistiger Hemmnis. Am Horizont ein Hitzeflimmern, wellenartige Vibrationen, den Flammen ähnlich, so heiss, dass alles kurz davor ist, in einem metallischen Blau aufzugehen. Die Stille der staubigen Landstrasse wird nur vom Zirpen der Grillen und dem Summen anderer Kerbtiere unterbrochen. Aber auch die wirken träge und geben Geräusche nur deshalb von sich, weil sie nicht anders können. Wer wählen kann, vermeidet jede Bewegung und jeden Ton. Minimalismus der Existenz, ein Leben in Zeitlupe.
Die Luft in unsichtbarem Tremor. Jeder am Morgen noch so klare Duft ist mittlerweile in Hitze getränkt und wie ein alter Sonnenschirm von der Sonne ausgeblichen.
Die in der Zwischenzeit trocken gewordene Schale der am Vormittag geschälten Orange liegt noch auf dem Holztisch. Die Erinnerung an ihre Saftigkeit ist vermeintlich zum Greifen nah, entwischt jedoch wie die Fruchtfliegen, wenn man danach zu fassen versucht. Die ausgepressten Zitronen liegen sauer in der Luft und suggerieren eine Vorstellung von Frische, welche selbst am Abend nicht wirklich eintritt. Das aus Rillen quellende Harz auf dem Holztisch ist schon ganz weich, kurz vor flüssig, eine Fliege hat sich darin verfangen. Die Halbsträucher der Strohblume, mittlerweile verkahlt, duften würzig, honigwarm und dennoch trocken. Bei jeder Duftwelle verwandelt sich der Mund in eine Staubwüste. Als ob sie es wüssten, werfen Wachholdernadeln kühle und balsamische Rettungsleinen, immer dann, wenn die Sinne zu überhitzen drohen. Der Lavendel gibt noch leise Lebenssignale von sich, den Kopf nur schwer auf den Schultern tragend.
In der abgedunkelten Küche liegt der noch frische Fenchel in seinem süsslichen Grün. Ihn zu verstauen, war wohl zu anstrengend gewesen. Der Bund Rosmarin, in ein Wasserglas gestellt, ist von der leblosen Hitze unbeeindruckt und flutet die Räume mit seiner Würze. Die Zeit zieht sich endlos hin und findet den Weg nicht mehr. Wie die Postkarte aus dem Sommerurlaub im letzten Jahr, die nie angekommen ist. Vermutlich ist auch sie mittlerweile verblichen und vergilbt wie dieser Tag.
***
Als hätte man den Sommer in einem Flakon eingefangen. All seine Lebendigkeit, seine Trägheit, die Hitze, die Geräusche der Insekten, die Sehnsucht nach Erfrischung, die staubigen Strassen…
Zitronen so naturalistisch sauer, dass mir das Wasser im Mund zusammenläuft. Fenchel so süsslich frisch, als stünde ich in aller Frühe am Marktstand. Immortelle so würzig, staubig, trocken, als liefe ich über mediterrane Klippen. Dort, wo mich
I-I Terralba intellektuell berührt hat, trifft mich „Sempreviva“ authentisch und ohne Abstraktion mitten ins Herz. Leise, mit trägen Bewegungen eines Sommertages, schleicht er sich an, unerwartet. Und ich frage mich, wann genau die Sommer aufgehört haben, sich ewig anzufühlen.
Die Luft in unsichtbarem Tremor. Jeder am Morgen noch so klare Duft ist mittlerweile in Hitze getränkt und wie ein alter Sonnenschirm von der Sonne ausgeblichen.
Die in der Zwischenzeit trocken gewordene Schale der am Vormittag geschälten Orange liegt noch auf dem Holztisch. Die Erinnerung an ihre Saftigkeit ist vermeintlich zum Greifen nah, entwischt jedoch wie die Fruchtfliegen, wenn man danach zu fassen versucht. Die ausgepressten Zitronen liegen sauer in der Luft und suggerieren eine Vorstellung von Frische, welche selbst am Abend nicht wirklich eintritt. Das aus Rillen quellende Harz auf dem Holztisch ist schon ganz weich, kurz vor flüssig, eine Fliege hat sich darin verfangen. Die Halbsträucher der Strohblume, mittlerweile verkahlt, duften würzig, honigwarm und dennoch trocken. Bei jeder Duftwelle verwandelt sich der Mund in eine Staubwüste. Als ob sie es wüssten, werfen Wachholdernadeln kühle und balsamische Rettungsleinen, immer dann, wenn die Sinne zu überhitzen drohen. Der Lavendel gibt noch leise Lebenssignale von sich, den Kopf nur schwer auf den Schultern tragend.
In der abgedunkelten Küche liegt der noch frische Fenchel in seinem süsslichen Grün. Ihn zu verstauen, war wohl zu anstrengend gewesen. Der Bund Rosmarin, in ein Wasserglas gestellt, ist von der leblosen Hitze unbeeindruckt und flutet die Räume mit seiner Würze. Die Zeit zieht sich endlos hin und findet den Weg nicht mehr. Wie die Postkarte aus dem Sommerurlaub im letzten Jahr, die nie angekommen ist. Vermutlich ist auch sie mittlerweile verblichen und vergilbt wie dieser Tag.
***
Als hätte man den Sommer in einem Flakon eingefangen. All seine Lebendigkeit, seine Trägheit, die Hitze, die Geräusche der Insekten, die Sehnsucht nach Erfrischung, die staubigen Strassen…
Zitronen so naturalistisch sauer, dass mir das Wasser im Mund zusammenläuft. Fenchel so süsslich frisch, als stünde ich in aller Frühe am Marktstand. Immortelle so würzig, staubig, trocken, als liefe ich über mediterrane Klippen. Dort, wo mich

17 Antworten
Der Unberührbare
Als Enkel von Kouros kennt er sich mit Brustbehaarung und Halsketten aus Gelbgold bestens aus. Ihm selbst ist das zu plakativ. Seine Brusthaare hat er akkurat gestutzt, nicht zu kurz, er bevorzugt die kühlen Flächen des Weissgoldes. Der marmorglatte Blick unbefleckt von tiefen Gedanken. Nicht, dass er sie nicht hätte. Er schiebt sie nur lieber zur Seite. Statt trüber Gedanken trägt er lieber einen Lorbeerkranz auf dem Kopf, etwas Rosmarin, Lavendel, Muskatellersalbei und Rosengeranie fein eingeflochten. Über seine Honiglippen tropft würzige Rhetorik, nie ganz klar, ob wahr oder erfunden. Skeptische Blicke lacht er mit einem „Was ist auch schon die Wahrheit?!“ weg. Seine Tage unter der griechischen Sonne sind lang. Leinenhemd über die schweissig salzige Haut gezogen, drei Knöpfe offen, Meereswasser noch im von der Sonne leicht gebleichten Haar, es zieht ihn in die Nacht. Seine Nacht beginnt, sobald die Sonne untergeht. Dann wird er ein anderer. Der Marmorblick weicht moosigen Augen, Patchouli und Vetiver auf den Lidern. Das tierische Funkeln als Charme getarnt, der Versuch, das Tier in Schach zu halten, nicht mal halbherzig. Seine Laken sind stets frisch bezogen und sauber. Sein Geist ist es nicht.
Bin ich dieser Mann? Definitiv nicht. Darf ich „Él“ tragen? Ich will. Um die Weisheit einer lieben Parfuma sinngemäss zu zitieren: jeder Duft braucht ein Sandkorn, und manchmal ist dieses der Träger. Bei „Él“ bin ich gerne ein Sandkorn.
Bin ich dieser Mann? Definitiv nicht. Darf ich „Él“ tragen? Ich will. Um die Weisheit einer lieben Parfuma sinngemäss zu zitieren: jeder Duft braucht ein Sandkorn, und manchmal ist dieses der Träger. Bei „Él“ bin ich gerne ein Sandkorn.
20 Antworten
Die Brücke zum Herbst
„ What must it be like to grow up that beautiful?
With your hair falling into place like dominoes
My mind turns your life into folklore
I can't dare to dream about you anymore…“
(„Gold Rush“, Taylor Swift)
Hörst Du die Bienen summen?
Nicht mehr so laut wie noch vor ein paar Wochen. Beinahe träge und schlafwandlerisch finden sie zu ihrem Stock. Der Duft von Propolis kitzelt harzig die Nase.
Der Winter kann noch warten.
Siehst Du dieses Licht? Staubiges Gelb, mattgold, kurz davor, sich in Orange zu ergiessen. Vier, fünf Tage vor der Zeitumstellung wird es erdfarben sein, bevor das Ende des Oktobers seine dunkelbraune Glocke schon früh läutet.
Ziehe Deine eingelaufenen Lederstiefel an. Lass die Arbeit ruhen, all die Tiegel und Dosen mit Farbverdünner, Ölfarben und Lederpflegemittel sind auch morgen noch da. Raus! In die Arme eines entschiedenen Herbstes!
Siehst Du die Kiefer, wie sie harzt? Sie hat Balsam auf ihre Wunden gelegt. Selbstheilung. Wir Menschen sollten von der Kiefer lernen. Die Natur findet auch ohne uns statt. Aber heute sind wir mittendrin.
Hinein ins Lavendelfeld! Weisst Du noch, wie es letzen Juni hier geduftet hat? Über Wiesen sind wir getorkelt, dort, wo jetzt das Heu liegt, vielleicht vom Lavendel berauscht, vielleicht vom Orangenlikör. Du hast von Deinem Sturz vom Pferd erzählt und konntest Dich vor Lachen gar nicht mehr einkriegen. Du hast Dich schwer vor Glück ins Moos fallen lassen und Dein Gesicht darin vergraben. Danach hast Du zwei Zigaretten gedreht. Dein Tabakbeutel war feucht geworden, sie wollten partout nicht brennen. Daraufhin hast Du die gelbe Schachtel American Spirit aus Deiner kleinen, abgewetzten Ledertasche gezogen. Die Lust auf Nikotin hat Deine Vorbehalte gegenüber dem Kapitalismus besiegt. Du wolltest über Kommunismus reden und ob er nicht doch die bessere Gesellschaftsform ist. Vor Erfüllung und von Deinen Gedanken müde bist Du auf meiner Brust eingeschlafen.
Lass uns wieder ins Haus gehen! Es dunkelt ein, die Tage sind schon merklich kürzer, die Abende kühler. In der Küche habe ich noch eine Dose voller Kamilleblüten, die ich am Johannistag geerntet habe. Ich mache uns einen Tee mit Honig, und wir tun so, als seien wir die Kiefer.
***
Es gibt sie noch, die seltenen, kleinen Momente, in denen sich die Augen weiten, das Herz eine kleine Kapriole schlägt und die Hände ein wenig feucht werden. Die Eröffnung aus Ölfarbe und Farbverdünner lässt mich staunend und interessiert am Handgelenk kleben, die Stirn leicht in Falten gelegt. Dann öffnet sich das Tor zu „Casa Cuervo“ und ein an Propolis erinnernder Duft flutet meine Rezeptoren. Die sich ausbreitende Ruhe kontrastiert meine Erregung. Ein Duett aus Harz und Orange, delikat und dicht ineinander verwoben. Habe ich jemals eine derart schöne Orange gerochen? Vielleicht in „Azemour Les Orangers“. Lavendel, so kühl und klar wie ein Morgen im Herbst, ergiesst sich in warme Kamille. Das feine Geflecht dreht sich um die eigene Achse und nimmt mich in den Ringelreihen mit auf. Honig tropft auf die Kamille, süss, aber nicht klebrig, die Tonkabohne präsent, jedoch zurückhaltend. Ein Leder-Akkord sowie ein halbgrünes Tabakblatt hüpfen beschwingt in den Kreis. Drehungen in Harmonie. Ohne Konkurrenzdenken stellt sich nur die Frage, wer hier wen ins schönste Licht stellt. Und als stünde ich vor Begeisterung nicht schon in Flammen, lassen sich alle ins Eichenmoos fallen und ziehen mich mit. „Casa Cuervo“, duftgewordene Brücke zwischen Spätsommer und Herbst. Er liegt auf meiner Haut, als wäre er schon lange dagewesen. Leise, beständig, heilsam. Ich würde gerne noch so viel länger in diesem mattgoldenen Licht bleiben und lauschen.
With your hair falling into place like dominoes
My mind turns your life into folklore
I can't dare to dream about you anymore…“
(„Gold Rush“, Taylor Swift)
Hörst Du die Bienen summen?
Nicht mehr so laut wie noch vor ein paar Wochen. Beinahe träge und schlafwandlerisch finden sie zu ihrem Stock. Der Duft von Propolis kitzelt harzig die Nase.
Der Winter kann noch warten.
Siehst Du dieses Licht? Staubiges Gelb, mattgold, kurz davor, sich in Orange zu ergiessen. Vier, fünf Tage vor der Zeitumstellung wird es erdfarben sein, bevor das Ende des Oktobers seine dunkelbraune Glocke schon früh läutet.
Ziehe Deine eingelaufenen Lederstiefel an. Lass die Arbeit ruhen, all die Tiegel und Dosen mit Farbverdünner, Ölfarben und Lederpflegemittel sind auch morgen noch da. Raus! In die Arme eines entschiedenen Herbstes!
Siehst Du die Kiefer, wie sie harzt? Sie hat Balsam auf ihre Wunden gelegt. Selbstheilung. Wir Menschen sollten von der Kiefer lernen. Die Natur findet auch ohne uns statt. Aber heute sind wir mittendrin.
Hinein ins Lavendelfeld! Weisst Du noch, wie es letzen Juni hier geduftet hat? Über Wiesen sind wir getorkelt, dort, wo jetzt das Heu liegt, vielleicht vom Lavendel berauscht, vielleicht vom Orangenlikör. Du hast von Deinem Sturz vom Pferd erzählt und konntest Dich vor Lachen gar nicht mehr einkriegen. Du hast Dich schwer vor Glück ins Moos fallen lassen und Dein Gesicht darin vergraben. Danach hast Du zwei Zigaretten gedreht. Dein Tabakbeutel war feucht geworden, sie wollten partout nicht brennen. Daraufhin hast Du die gelbe Schachtel American Spirit aus Deiner kleinen, abgewetzten Ledertasche gezogen. Die Lust auf Nikotin hat Deine Vorbehalte gegenüber dem Kapitalismus besiegt. Du wolltest über Kommunismus reden und ob er nicht doch die bessere Gesellschaftsform ist. Vor Erfüllung und von Deinen Gedanken müde bist Du auf meiner Brust eingeschlafen.
Lass uns wieder ins Haus gehen! Es dunkelt ein, die Tage sind schon merklich kürzer, die Abende kühler. In der Küche habe ich noch eine Dose voller Kamilleblüten, die ich am Johannistag geerntet habe. Ich mache uns einen Tee mit Honig, und wir tun so, als seien wir die Kiefer.
***
Es gibt sie noch, die seltenen, kleinen Momente, in denen sich die Augen weiten, das Herz eine kleine Kapriole schlägt und die Hände ein wenig feucht werden. Die Eröffnung aus Ölfarbe und Farbverdünner lässt mich staunend und interessiert am Handgelenk kleben, die Stirn leicht in Falten gelegt. Dann öffnet sich das Tor zu „Casa Cuervo“ und ein an Propolis erinnernder Duft flutet meine Rezeptoren. Die sich ausbreitende Ruhe kontrastiert meine Erregung. Ein Duett aus Harz und Orange, delikat und dicht ineinander verwoben. Habe ich jemals eine derart schöne Orange gerochen? Vielleicht in „Azemour Les Orangers“. Lavendel, so kühl und klar wie ein Morgen im Herbst, ergiesst sich in warme Kamille. Das feine Geflecht dreht sich um die eigene Achse und nimmt mich in den Ringelreihen mit auf. Honig tropft auf die Kamille, süss, aber nicht klebrig, die Tonkabohne präsent, jedoch zurückhaltend. Ein Leder-Akkord sowie ein halbgrünes Tabakblatt hüpfen beschwingt in den Kreis. Drehungen in Harmonie. Ohne Konkurrenzdenken stellt sich nur die Frage, wer hier wen ins schönste Licht stellt. Und als stünde ich vor Begeisterung nicht schon in Flammen, lassen sich alle ins Eichenmoos fallen und ziehen mich mit. „Casa Cuervo“, duftgewordene Brücke zwischen Spätsommer und Herbst. Er liegt auf meiner Haut, als wäre er schon lange dagewesen. Leise, beständig, heilsam. Ich würde gerne noch so viel länger in diesem mattgoldenen Licht bleiben und lauschen.
22 Antworten