Midnights

Midnights

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1 - 5 von 30
Midnights vor 1 Jahr 23 28
8
Sillage
8
Haltbarkeit
9
Duft
Der Spieltrieb (Teil I)
Die nachfolgende Geschichte ist von „Jules“ inspiriert und in Kooperation mit dem User Scentwolf entstanden - im abwechselnden Modus und ohne zu wissen, was der andere schreiben und wie er die Geschichte weiterspinnen wird.

***

Der Spieltrieb
Teil I

Er wusste um diese Sucht. Dem drängenden Wunsch nach Ekstase und Erfüllung. Das Verlangen, die Kontrolle nach und nach zu verlieren und den Kontrollverlust dabei kontrollieren zu können. Ginge das überhaupt und bis wohin würde es führen?

Wozu ein leidenschaftsloses Leben führen? War das Leben nicht schon durch die alltäglichen Pflichten alltäglich genug? War da nicht eine innere Stimme, die nach mehr Leben im Leben rief? War da nicht das Lechzen nach etwas anderem als dem Gewöhnlichen, dem Banalen?
Jenseits einer bürgerlichen Fassade gab es die verschiedensten Versuchungen, die ihn anzogen. Oder war es immer nur der gleiche Hunger nach Leben, der auf unterschiedlichen Wegen gestillt und gleichzeitig wieder geweckt werden wollte? Die Summe aller Laster bliebe immer gleich, so hieß es. Er wäre nicht der Erste gewesen, der dem Gesang der Sirenen ins Verderben gefolgt wäre. Er wusste um die Gefahr. Meistens jedenfalls.

Wie das nun mal so ist mit Süchten, toxischen Beziehungen und ausserehelichen Affären: sie fangen in charmanten Bars der 5-Sterne-Hotels und glitzernden Casinos an, gehüllt in Schleiern sorgfältig ausgesuchter Rasierwasser mit Lavendel und Geranium und dem bewusst gewählten Duft frivolen Jasmins. Der Abstieg findet seinen Zwischenhalt bei zweitklassigen Italienern ausserhalb des Stadtzentrums - verkümmerte Estragon und Basilikum als Tischdeko inklusive. Im besten Fall findet die Spätphase in schäbigen Motels statt, im schlechtesten auf Parkplätzen vorstädtischer Supermärkte, auf Rücksitzen aus abgewetztem, kümmelndem Leder. Hastige Treffen in Mittagspausen oder zwischen Arbeitsschluss und Heimfahrt, sich in einer Wolke aus nachlassenden Deodorants und angeschmuddelter Haut suhlend, anstelle von schicken Etablissements und ekstatischen Wochenenden. „Jede Sucht ist suizidal. Wer hingegen suchtfrei tut, ist schon längst tot“, sagte er in seinem Kopf mantraartig auf. So wandelte er auf dem schmalen Grat zwischen Lebenslust und Selbstzerstörung, mal erfüllt von seiner eigenen Grandiosität, mal vom Selbsthass. Wenn immer der rasende Zug zu entgleisen drohte, hechtete er gerade noch rechtzeitig in die Vorhersehbarkeit zurück.

„Zisch!“ Zwei Sprühstosse aus dem Flakon, im Haus machte sich der Duft pissigen Jasmins breit. Jawoll! Allen ans Bein pissen! Für einen kurzen Moment meinte er gesehen zu haben, wie seine Haut rissig wurde.
„Wo gehst Du denn um diese Uhrzeit noch hin?“, fragte sie.
"Joggen“, antwortete er knapp und ohne sie anzusehen.
„Um 10 Uhr abends? In diesem Aufzug?!“
„Yes, Baby, it’s Showtime!“, grinste er übertrieben mit weit aufgerissenen Augen, zog sich seine alte Lederjacke über und setzte zu einem dritten und vierten Sprühstoß an. Einen fünften pfefferte er noch nach, gerade Zahlen brachten nur Unglück.

*

Für den zweiten Teil sei auf die Rezension von Scentwolf verwiesen (https://www.parfumo.de/Parfums/Dior/Jules_Eau_de_Toilette/rezensionen/363193). Ein herzliches Dankeschön für das inspirierende Zuspielen von Wortbällen. Oder drei. Gerade Zahlen bringen nur Unglück.
28 Antworten
Midnights vor 1 Jahr 30 43
7
Sillage
8
Haltbarkeit
8.5
Duft
Deine (./?)
Catherine
Februar 1945, Paris

Cher M.
Die Februartage sind trist und grau. Ich schreibe kurze Briefe an Dich, die ich im Anschluss ins Feuer werfe. Sie können Dich nicht mehr erreichen. Morgen wird Anna fünf Jahre alt. Heute werde ich noch einen Kuchen backen, viel Gewürznelke, so wie Du es mochtest und Anna es mag. Ich habe im kleinen Blumengeschäft am Kanal Nelken gekauft und denke daran, wie Du sie mir damals mitgebracht hast. Du Banause hattest sie mit Rosen verwechselt. Ich mochte keine Nelken, war enttäuscht und habe sie schmollend auf den Küchentisch gepfeffert. Heute kann ich mir nichts Schöneres vorstellen. Mit jeder Nelke, die eingeht, geht ein Teil von Dir. Darum kaufe ich immer wieder einen neuen Bund.
Deine.
Catherine

*

Anna
April 1973, Paris

Cher F.
Maman feiert morgen ihren 55. Geburtstag. Ich bin vorgestern aus der Bretagne angereist. In der Wohnung von Maman war ich schon lange nicht mehr. Hier scheinen die Uhren stehen geblieben zu sein, dabei ist sie noch so jung. Kühl ist es in den Räumen, in jedem steht ein Bund Nelken. Maman trägt eine rote Nelke im Revers, als würde sie jeden Moment Widerstand leisten wollen. Das tut sie aber nicht. Sie macht Feuer am Abend. Manchmal erwischt sie sehr harziges Holz, das den Raum würzig flutet. Immer wieder wirft sie kleine Zettel ins Feuer, ich frage nicht warum. Sie vermeidet es auch, Fragen zu stellen. Zum Beispiel diejenige, warum ich am Morgen so lange im Bad bin und Wein zum Abendessen ausschlage. Wir beide schweigen wissend und tun ahnungslos. Wirst Du da sein, wenn ich zurückkomme? Oder sind Deine Augen im Rückspiegel und der aufgewirbelte Staub das Letzte, was ich von Dir gesehen habe?
Ich hätte gerne mit „Deine“ unterschrieben. Wir beide wissen, dass dahinter ein Fragezeichen stehen müsste.
Anna.

*

Isabella
März 1996, Nizza

Cher D.
Ernsthaft? Nelken? Damit hättest Du Catherine, meiner Grossmutter, eine Freude gemacht. Ist das nun verstaubt oder zeitlos? Du Nostalgiker. Ich bin gerade bei Maman, wie Du weisst. Sie ist nicht mehr die Gleiche, seit sie die Bretagne verlassen hat. Papa scheint auch verändert. Ich stelle keine Fragen, aber ich glaube, Maman hat ihm nie verziehen, dass er sich aus dem Staub gemacht hat, als sie mit mir schwanger war. Sie hat nie was gesagt, aber ich sehe in ihren Augen, dass sie ihn gelegentlich dorthin wünscht, wo der Pfeffer wächst. Ihre eigene stille Nelkenrevolution.
De toute façon, ich denke an Dich und die Nacht vor meiner Abreise. Alanis sang davon, dass sie eine Hand in der Hosentasche hat, während ich meine unter Deinem T-Shirt vergrub. Die Bettlaken habe ich nicht mehr gewechselt und würde mich jetzt und sofort am liebsten darin wälzen. Zu Vanilla für Dich? Wer Nelken schickt, sollte nicht mit Steinen werfen. Ich habe nicht gesagt, dass ich mich MIT DIR darin wälzen würde. So magst Du doch Deine Frauen am liebsten, nicht wahr?! Unberechenbar. Wirst Du da sein, wenn ich zurückkomme?
Deine (?)
Isabella
43 Antworten
Midnights vor 1 Jahr 31 43
7
Sillage
8
Haltbarkeit
9
Duft
Dunkelblaufastschwarz
Kurz bevor der Tag sich ein Veilchenfell wachsen liess, detonierte Deine verbale Bombe und legte die Welt in Trümmer. Während ich Staubpuder aus meiner Strickjacke klopfte, sah ich, dass er sämtliche meiner Wrackteile in mindestens 21 Schattierungen von Blau gefärbt hatte. „Cause you’re just a man, it’s just what you do, your head in your hands as you color me blue…“, summte ich. Du lachtest Dein kehliges Lachen und sagtest: „Nachts sind alle Katzen dunkelblau. Du kommst darüber hinweg, irgendwann. Ich habe Dir nie einen Rosengarten versprochen“. Ich wäre schon mit Gartennelken zufrieden gewesen, sagte ich. Nein, ich sagte es nicht, ich dachte es. „Ein Rosengarten! Was sage ich da?! Mediterrane Landschaften, den Duft von Orangenblüten verströmend, dem warmen Blau entstiegene Nächte und Satin-Bettlaken in Indigo, genau, das hättest Du vermutlich für angemessen gehalten“. Du sagtest es mit einem gönnerhaften Schmunzeln, konntest mich aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich ein eisblauer Schleier über Deine tonkabohnenfarbenen Augen gelegt hatte. Ich dachte darüber nach, wie man jemanden ansehen und doch nicht sehen kann und überlegte, mich vor- und richtigzustellen. Stattdessen sah ich zu, wie sich die blaue Stunde, zärtlich wie die Blütenblätter der Schwertlilie, über die Strasse und meine Gedanken legte und hoffte, sie würde niemals enden.
Du sassest so da mit Deinem himmelblauen, abgewetzten Mohair-Pullover und Deinem „Ich komme gerade aus dem Bett“-Haar, Dir mit jeder Faser Deines Wesens bewusst, dass nur hinreissend gutaussehende Menschen sich solche Nachlässigkeiten leisten können. Im Radio sang Joni Mitchell davon, auf dem Meer gewesen zu sein und eine Muschel mitgebracht zu haben. Du zogst an Deiner Zigarette und bliesest blauen Dunst über unsere Köpfe. „Du Melancholiker“, sagtest Du, „Blau ist Deine liebste Stimmung. Das ist so sentimental, so vanilla... Melancholie ist die Vermeidung von Schmerz, die Verdrängung von Schwarz.“ Zum ersten Mal fühlte ich mich von Dir gesehen. Ich stand auf, zog meine Jacke an und an Deiner Zigarette, drückte diese aus und lief durch die Tür. Ich summte: „And now I do, I wanna move, out of the black, into the blue…"

*****
„L’Heure Bleu“ wollte sich von mir nicht in Worte kleiden lassen, schickte aber stattdessen diese Geschichte. Ich hoffe auf Nachsicht für die fehlende Duftbeschreibung, Düfte haben manchmal einen eigenen Willen und wollen lieber Erzählungen summen. Mit herzlichem Dank an Spatzl für diese kleine, blaue Perle, die zwar eine melancholische Geschichte erzählen wollte, mich im Grunde aber sehr glücklich macht.
43 Antworten
Midnights vor 1 Jahr 32 22
7
Sillage
8
Haltbarkeit
9
Duft
Alles, was blieb.
Als Du fortgingst
Kussvernarbte Haut
Aschige Körperstellen, von Berührungen versaut
Tonlos geformte Buchstaben auf den Lippen
Alles, was blieb.

Ein Sehnsuchtsszenario in drei Kapiteln. Aufwachen, noch in der Zwischenwelt zwischen Traum und Wirklichkeit, vorsichtig hoffnungsvoll. Merken, dass nichts davon ein Traum war. Zwischen zerwühlten Laken den Duft wahrnehmen, der nicht der eigene ist, und von der herben Erkenntnis zu Boden gedrückt werden, zurückgelassen worden zu sein. Sich benebelt aus dem Bett schälen, über die eigenen Füsse stolpern, nach Balance suchen, nur um ein paar Schritte weiter auf dem Küchenstuhl die letzte Rettungsinsel zu finden. Zeit gewinnen, prokrastinieren, zwei Zigaretten rauchen und den Kaffee kalt werden lassen. Silben mit den Lippen formen, Buchstaben eines Namens, der sich nicht mehr aussprechen lässt, verstummend aufgeben. Ins Bad gehen, im Spiegel begutachten, was vom Ich noch übriggeblieben ist. Die Kussnarben notdürftig verarzten, Aschenabdrücke auf der Haut dissoziiert betrachten, dort, wo glühende Berührungen zu Staub zerfallen sind. Nochmals ins Bett gehen, das Gesicht ins vertraut fremde Kissen drücken, warten. Wenn ein zurückgelassenes Nichts ein Alles wird. Irgendwann geht es vorbei.
Ach ja, der Duft: eine kleine Prise Neroli, viel Eichenmoos und Patchouli, süsslich-menschelnde Basis. Nebensache. Duftgewordene, zerbrechliche Dringlichkeit, gespeist aus Intimität, Sehnsucht, Verzweiflung und der Erinnerung an die eine Stelle eines anderen Nackens, in der das eigene Gesicht stets Zuflucht gefunden hat.

Mit sehnsüchtigem Dank an die Herz-Schützin @Jeob für diese melancholische Welt in D-Moll. Es hätte ein Statement werden sollen, wollte sich aber partout nicht auf 1000 Zeichen beschränken lassen.
22 Antworten
Midnights vor 2 Jahren 32 43
8
Sillage
9
Haltbarkeit
10
Duft
Der scharlachrote Fleck
„Nein?!“, perlte es träge aus ihrem Mund. Ein vorsichtiges Fragezeichen in der Intonation liess noch etwas Raum und eine kläglich hoffnungsvolle Lücke offen.

Der 24. Dezember. Welches Jahr? Es war ihr kurz entfallen. War es überhaupt wichtig? Wann hatte sie aufgehört, die Jahre zu zählen? An Stelle von Jahren sammelte sie Begehrlichkeiten, sorgfältig in schmucklosen Kisten aufgereiht.
Sie zog sich einen Träger des Kleides über die Schulter, Dior aus dem Jahr 2000, weisser Seidenchiffon mit imaginären Zeitungsseiten bedruckt. Es schien ihr immer goldrichtig, aber nie passend. „Ist das nicht etwas kurz?“ fragte er. Sie bedachte ihn mit einem milden Lächeln, sich jeden Kommentar über andere kurz geratene Dinge verkneifend, und stieg in die so gut wie neuen Satin-Stilettos, gebrochenes Weiss, mit schwindelerregendem Absatz. Eine absurde Entscheidung bei dem draussen andauerndem Schneegestöber. Je höher die Absätze, desto besser konnte sie über Hindernisse steigen, dachte sie sich. Der Weihnachtsabend bei seinen Eltern in grosser Familienrunde, ihre Mutter und ihr Vater ebenfalls anwesend, würde so manche Hürde mit sich bringen.

Sie sah ihn an. Gut sah er aus. Schon immer. Die breiten Schultern und die sportliche Statur zeugten von Vernunft und Disziplin - zwei Eigenschaften, die sich von seiner Physis auch auf sein Wesen übertragen liessen. Sie beide mit beiden Beinen im Leben, standesgemäss zwischen Work und Life erfolgreich balancierend (vorbehältlich der Definition von Erfolg), das Vorzeigepaar mit den harmonierenden Sternzeichen, das Traumpaar aus der Schulzeit. Nur die Traumhochzeit hatte nie stattgefunden. Sie redete sich ein, dass ihr Band keine Beglaubigung brauchte. Manchmal und klammheimlich fragte sie sich, ob nicht tatsächlich sie diese Illusion von Freiheit brauchte, ihr Leben jederzeit und ohne Zeugenaussage verlassen zu können. In diesen Momenten zuckte sie kurz zusammen und schüttelte sich, wie man sich schüttelt, um einen Zwangsgedanken loszuwerden. Drei Mal auf’s Holz klopfen und kurz den Kopf hin und her bewegen.
Sie kümmerte sich nicht um tickende Uhren. Die einzige Zeitmessung, die sie interessierte, war die ihrer Rolex am Handgelenk. Ihr Umfeld hingegen schien viel mehr mit Ablaufdaten und Zeugungsraten beschäftigt.

Sie trug ihr Parfum auf. Der Duft von Jasmin, Tuberose und Orangenblüten flutete den Raum und vermischte sich mit jenem ihres honigblonden Haares. Da war aber noch etwas anderes, etwas Tropisches, Schwüles, ein feuchter Film auf der Haut, das ihr Sehnsucht wie einen leisen Seufzer entlockte. Es zog sie irgendwohin, ohne genaue Koordinaten und Zielbeschreibung. Es liess die kaum sichtbaren Härchen auf ihrem Arm flimmern, so als würde ihr etwas tief in ihr Begrabenes, halb Mensch, halb Tier, kleine Signale schicken. Aus dem Nebenzimmer strömte ebenfalls ein verschwitzter Jasminschleier zu ihr herüber. Den Duft trug er nur selten, etwas von Dior, irgendein Männername, der ihr gerade nicht einfallen wollte. Sie fand seinen Duft dem bevorstehenden Anlass nicht angemessen. Zu viel Testosteron.

Im Hauseingang seiner Eltern duftete es nach Mandarinen. Wäre es nicht tiefster Winter gewesen, hätte sie schwören können, Johannisbeeren würden sie säuerlich in der Nase kitzeln. Was war mit ihr bloss los? Da war es wieder, dieses Dunkle, nicht zu fassen, nicht in Worte zu kleiden, der ungebetene Gast, der nur kurz vorbeischaut und doch einen nachhaltigen Schleier der Unruhe zurücklässt. Die Stimme seiner Mutter riss sie aus den Gedanken: „Meine Liebe, Du bist ja nackt, nicht mal eine Strumpfhose?!“ Sie schmeckte die bittere Note trotz der als Sorge getarnten Zuckerglasur. Eine weitere Bemerkung, die sie heute nur mit einem milden Lächeln bedenken wollte. Sein Vater meinte, dass es ihm gefiele, zwinkerte ihr komplizenhaft zu und nahm ihr den schneeweissen Kaschmirmantel ab.

Es folgten Küsschen, Umarmungen, Onkel und Grosstanten und der Duft derer Pelzmäntel, welche man nur in einem gewissen Alter tragen konnte, ohne einen Farbanschlag zu riskieren. Champagner liess harzige Gespräche geschmeidiger fliessen. Sie hingegen trank Rotwein, die missbiligenden Blicke ihrer Mutter ignorierend. Eine ungeschickte Bewegung seiner Schwester, die gerade im Begriff war, eine Champagnerflasche zu öffnen, und ein roter Fluss bahnte sich seinen Weg über die Zeitungsseiten ihres Kleides. Sie musste lachen und dachte sich, na endlich, endlich ist das Kleid entjungfert. Immer goldrichtig, niemals passend. Jemand hatte ihr ein Tuch gereicht, um das Nötigste aufzuwischen, bevor das Rinnsal ihre Stilettos erreichen konnte. Plötzlich merkte sie, wie es um sie herum still wurde. Verwirrt sah sie sich um und sah ihn hinter sich, feierliches Gesicht, erwartungsvoll angespannt, wie es sich gehört auf dem linken Knie. Die Frage hallte im Raum, ohne ihre Ohren vollends zu erreichen. Gerührte Gesichter und zusammengeschlagene Hände vor den Mündern.

„Nein?!“, perlte es träge aus ihrem Mund. Ein vorsichtiges Fragezeichen in der Intonation liess noch etwas Raum und eine kläglich hoffnungsvolle Lücke offen. In diesem Moment knallte der Korken der Champagnerflasche, an dem seine Schwester seit geraumer Zeit herumgefummelt hatte, diese Antwort wohl nicht erwartend. Laute von eingezogener Luft und das Weichen aller Rührung aus den Augen füllten sämtliche Leerstellen aus. Sie lachte schallend: „Nein, ich will nicht!“ Sie wollte noch kurz ein „Tut mir leid“ hinterherschieben, für eine Lüge schien ihr aber der Moment unpassend. Dafür entschlossen und mit ernster Miene: „Nein, das will ich nicht, ich muss los, danke für das Fest!“ Und das war aufrichtig gemeint.

Draussen schneite es nur noch leise. Die Stille kontrastierte die Sintflut hinter ihr, deren Tosen mit jedem weiteren Schritt nur dumpfer wurde und irgendwann nicht mehr zu fühlen war. Sie, die weisse Schneekönigin mit dem scharlachroten Fleck auf dem Kleid, präzise in ihren Stilettos über den watteweichen Teppich stöckelnd. Ein Auto hielt neben ihr. „Zum Bahnhof“, der Fahrer nickte und sie stieg ein. „Sie leben wohl in einer anderen Klimazone“, sagte der in die Jahre gekommene Herr. „Noch nicht", flüsterte sie mehr zu sich als zu ihm.

Am Bahnhof holte sie einen kleinen Koffer, der wer weiss wie lange schon im Schliessfach auf sie gewartet hatte. Sich leichten Schrittes zwischen den teils lüsternen, teils verachtenden Blicken der wenigen Reisenden hindurchschlängelnd, stieg sie in den Zug ein und setzte sich in ein leeres Viererabteil. Die Durchsage verkündete als nächsten Halt den Flughafen. Ein attraktiver, wenn auch etwas junger Mann mit funkelnden Augen, schwarz wie Labdanum, fragte, ob der Platz neben ihr frei sei. „Nicht mehr dieses Jahr, mein Lieber, nicht mehr dieses Jahr!“ Sie lachte schallend, in seinen Ohren klang sie hysterisch. Er zog kopfschüttelnd davon. Sie lächelte und sagte zu sich: „Vielleicht Casablanca“. Die kaum sichtbaren Härchen auf ihrem Arm begannen zu flimmern.
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