Midnights

Midnights

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1 - 5 von 28
Midnights vor 12 Tagen 24 42
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Duft
Dunkelblaufastschwarz
Kurz bevor der Tag sich ein Veilchenfell wachsen liess, detonierte Deine verbale Bombe und legte die Welt in Trümmer. Während ich Staubpuder aus meiner Strickjacke klopfte, sah ich, dass er sämtliche meiner Wrackteile in mindestens 21 Schattierungen von Blau gefärbt hatte. „Cause you’re just a man, it’s just what you do, your head in your hands as you color me blue…“, summte ich. Du lachtest Dein kehliges Lachen und sagtest: „Nachts sind alle Katzen dunkelblau. Du kommst darüber hinweg, irgendwann. Ich habe Dir nie einen Rosengarten versprochen“. Ich wäre schon mit Gartennelken zufrieden gewesen, sagte ich. Nein, ich sagte es nicht, ich dachte es. „Ein Rosengarten! Was sage ich da?! Mediterrane Landschaften, den Duft von Orangenblüten verströmend, dem warmen Blau entstiegene Nächte und Satin-Bettlaken in Indigo, genau, das hättest Du vermutlich für angemessen gehalten“. Du sagtest es mit einem gönnerhaften Schmunzeln, konntest mich aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich ein eisblauer Schleier über Deine tonkabohnenfarbenen Augen gelegt hatte. Ich dachte darüber nach, wie man jemanden ansehen und doch nicht sehen kann und überlegte, mich vor- und richtigzustellen. Stattdessen sah ich zu, wie sich die blaue Stunde, zärtlich wie die Blütenblätter der Schwertlilie, über die Strasse und meine Gedanken legte und hoffte, sie würde niemals enden.
Du sassest so da mit Deinem himmelblauen, abgewetzten Mohair-Pullover und Deinem „Ich komme gerade aus dem Bett“-Haar, Dir mit jeder Faser Deines Wesens bewusst, dass nur hinreissend gutaussehende Menschen sich solche Nachlässigkeiten leisten können. Im Radio sang Joni Mitchell davon, auf dem Meer gewesen zu sein und eine Muschel mitgebracht zu haben. Du zogst an Deiner Zigarette und bliesest blauen Dunst über unsere Köpfe. „Du Melancholiker“, sagtest Du, „Blau ist Deine liebste Stimmung. Das ist so sentimental, so vanilla... Melancholie ist die Vermeidung von Schmerz, die Verdrängung von Schwarz.“ Zum ersten Mal fühlte ich mich von Dir gesehen. Ich stand auf, zog meine Jacke an und an Deiner Zigarette, drückte diese aus und lief durch die Tür. Ich summte: „And now I do, I wanna move, out of the black, into the blue…"

*****
„L’Heure Bleu“ wollte sich von mir nicht in Worte kleiden lassen, schickte aber stattdessen diese Geschichte. Ich hoffe auf Nachsicht für die fehlende Duftbeschreibung, Düfte haben manchmal einen eigenen Willen und wollen lieber Erzählungen summen. Mit herzlichem Dank an Spatzl für diese kleine, blaue Perle, die zwar eine melancholische Geschichte erzählen wollte, mich im Grunde aber sehr glücklich macht.
42 Antworten
Midnights vor 3 Monaten 29 22
7
Sillage
8
Haltbarkeit
8.5
Duft
Alles, was blieb.
Als Du fortgingst
Kussvernarbte Haut
Aschige Körperstellen, von Berührungen versaut
Tonlos geformte Buchstaben auf den Lippen
Alles, was blieb.

Ein Sehnsuchtsszenario in drei Kapiteln. Aufwachen, noch in der Zwischenwelt zwischen Traum und Wirklichkeit, vorsichtig hoffnungsvoll. Merken, dass nichts davon ein Traum war. Zwischen zerwühlten Laken den Duft wahrnehmen, der nicht der eigene ist, und von der herben Erkenntnis zu Boden gedrückt werden, zurückgelassen worden zu sein. Sich benebelt aus dem Bett schälen, über die eigenen Füsse stolpern, nach Balance suchen, nur um ein paar Schritte weiter auf dem Küchenstuhl die letzte Rettungsinsel zu finden. Zeit gewinnen, prokrastinieren, zwei Zigaretten rauchen und den Kaffee kalt werden lassen. Silben mit den Lippen formen, Buchstaben eines Namens, der sich nicht mehr aussprechen lässt, verstummend aufgeben. Ins Bad gehen, im Spiegel begutachten, was vom Ich noch übriggeblieben ist. Die Kussnarben notdürftig verarzten, Aschenabdrücke auf der Haut dissoziiert betrachten, dort, wo glühende Berührungen zu Staub zerfallen sind. Nochmals ins Bett gehen, das Gesicht ins vertraut fremde Kissen drücken, warten. Wenn ein zurückgelassenes Nichts ein Alles wird. Irgendwann geht es vorbei.
Ach ja, der Duft: eine kleine Prise Neroli, viel Eichenmoos und Patchouli, süsslich-menschelnde Basis. Nebensache. Duftgewordene, zerbrechliche Dringlichkeit, gespeist aus Intimität, Sehnsucht, Verzweiflung und der Erinnerung an die eine Stelle eines anderen Nackens, in der das eigene Gesicht stets Zuflucht gefunden hat.

Mit sehnsüchtigem Dank an die Herz-Schützin @Jeob für diese melancholische Welt in D-Moll. Es hätte ein Statement werden sollen, wollte sich aber partout nicht auf 1000 Zeichen beschränken lassen.
22 Antworten
Midnights vor 5 Monaten 27 40
8
Sillage
9
Haltbarkeit
10
Duft
Der scharlachrote Fleck
„Nein?!“, perlte es träge aus ihrem Mund. Ein vorsichtiges Fragezeichen in der Intonation liess noch etwas Raum und eine kläglich hoffnungsvolle Lücke offen.

Der 24. Dezember. Welches Jahr? Es war ihr kurz entfallen. War es überhaupt wichtig? Wann hatte sie aufgehört, die Jahre zu zählen? An Stelle von Jahren sammelte sie Begehrlichkeiten, sorgfältig in schmucklosen Kisten aufgereiht.
Sie zog sich einen Träger des Kleides über die Schulter, Dior aus dem Jahr 2000, weisser Seidenchiffon mit imaginären Zeitungsseiten bedruckt. Es schien ihr immer goldrichtig, aber nie passend. „Ist das nicht etwas kurz?“ fragte er. Sie bedachte ihn mit einem milden Lächeln, sich jeden Kommentar über andere kurz geratene Dinge verkneifend, und stieg in die so gut wie neuen Satin-Stilettos, gebrochenes Weiss, mit schwindelerregendem Absatz. Eine absurde Entscheidung bei dem draussen andauerndem Schneegestöber. Je höher die Absätze, desto besser konnte sie über Hindernisse steigen, dachte sie sich. Der Weihnachtsabend bei seinen Eltern in grosser Familienrunde, ihre Mutter und ihr Vater ebenfalls anwesend, würde so manche Hürde mit sich bringen.

Sie sah ihn an. Gut sah er aus. Schon immer. Die breiten Schultern und die sportliche Statur zeugten von Vernunft und Disziplin - zwei Eigenschaften, die sich von seiner Physis auch auf sein Wesen übertragen liessen. Sie beide mit beiden Beinen im Leben, standesgemäss zwischen Work und Life erfolgreich balancierend (vorbehältlich der Definition von Erfolg), das Vorzeigepaar mit den harmonierenden Sternzeichen, das Traumpaar aus der Schulzeit. Nur die Traumhochzeit hatte nie stattgefunden. Sie redete sich ein, dass ihr Band keine Beglaubigung brauchte. Manchmal und klammheimlich fragte sie sich, ob nicht tatsächlich sie diese Illusion von Freiheit brauchte, ihr Leben jederzeit und ohne Zeugenaussage verlassen zu können. In diesen Momenten zuckte sie kurz zusammen und schüttelte sich, wie man sich schüttelt, um einen Zwangsgedanken loszuwerden. Drei Mal auf’s Holz klopfen und kurz den Kopf hin und her bewegen.
Sie kümmerte sich nicht um tickende Uhren. Die einzige Zeitmessung, die sie interessierte, war die ihrer Rolex am Handgelenk. Ihr Umfeld hingegen schien viel mehr mit Ablaufdaten und Zeugungsraten beschäftigt.

Sie trug ihr Parfum auf. Der Duft von Jasmin, Tuberose und Orangenblüten flutete den Raum und vermischte sich mit jenem ihres honigblonden Haares. Da war aber noch etwas anderes, etwas Tropisches, Schwüles, ein feuchter Film auf der Haut, das ihr Sehnsucht wie einen leisen Seufzer entlockte. Es zog sie irgendwohin, ohne genaue Koordinaten und Zielbeschreibung. Es liess die kaum sichtbaren Härchen auf ihrem Arm flimmern, so als würde ihr etwas tief in ihr Begrabenes, halb Mensch, halb Tier, kleine Signale schicken. Aus dem Nebenzimmer strömte ebenfalls ein verschwitzter Jasminschleier zu ihr herüber. Den Duft trug er nur selten, etwas von Dior, irgendein Männername, der ihr gerade nicht einfallen wollte. Sie fand seinen Duft dem bevorstehenden Anlass nicht angemessen. Zu viel Testosteron.

Im Hauseingang seiner Eltern duftete es nach Mandarinen. Wäre es nicht tiefster Winter gewesen, hätte sie schwören können, Johannisbeeren würden sie säuerlich in der Nase kitzeln. Was war mit ihr bloss los? Da war es wieder, dieses Dunkle, nicht zu fassen, nicht in Worte zu kleiden, der ungebetene Gast, der nur kurz vorbeischaut und doch einen nachhaltigen Schleier der Unruhe zurücklässt. Die Stimme seiner Mutter riss sie aus den Gedanken: „Meine Liebe, Du bist ja nackt, nicht mal eine Strumpfhose?!“ Sie schmeckte die bittere Note trotz der als Sorge getarnten Zuckerglasur. Eine weitere Bemerkung, die sie heute nur mit einem milden Lächeln bedenken wollte. Sein Vater meinte, dass es ihm gefiele, zwinkerte ihr komplizenhaft zu und nahm ihr den schneeweissen Kaschmirmantel ab.

Es folgten Küsschen, Umarmungen, Onkel und Grosstanten und der Duft derer Pelzmäntel, welche man nur in einem gewissen Alter tragen konnte, ohne einen Farbanschlag zu riskieren. Champagner liess harzige Gespräche geschmeidiger fliessen. Sie hingegen trank Rotwein, die missbiligenden Blicke ihrer Mutter ignorierend. Eine ungeschickte Bewegung seiner Schwester, die gerade im Begriff war, eine Champagnerflasche zu öffnen, und ein roter Fluss bahnte sich seinen Weg über die Zeitungsseiten ihres Kleides. Sie musste lachen und dachte sich, na endlich, endlich ist das Kleid entjungfert. Immer goldrichtig, niemals passend. Jemand hatte ihr ein Tuch gereicht, um das Nötigste aufzuwischen, bevor das Rinnsal ihre Stilettos erreichen konnte. Plötzlich merkte sie, wie es um sie herum still wurde. Verwirrt sah sie sich um und sah ihn hinter sich, feierliches Gesicht, erwartungsvoll angespannt, wie es sich gehört auf dem linken Knie. Die Frage hallte im Raum, ohne ihre Ohren vollends zu erreichen. Gerührte Gesichter und zusammengeschlagene Hände vor den Mündern.

„Nein?!“, perlte es träge aus ihrem Mund. Ein vorsichtiges Fragezeichen in der Intonation liess noch etwas Raum und eine kläglich hoffnungsvolle Lücke offen. In diesem Moment knallte der Korken der Champagnerflasche, an dem seine Schwester seit geraumer Zeit herumgefummelt hatte, diese Antwort wohl nicht erwartend. Laute von eingezogener Luft und das Weichen aller Rührung aus den Augen füllten sämtliche Leerstellen aus. Sie lachte schallend: „Nein, ich will nicht!“ Sie wollte noch kurz ein „Tut mir leid“ hinterherschieben, für eine Lüge schien ihr aber der Moment unpassend. Dafür entschlossen und mit ernster Miene: „Nein, das will ich nicht, ich muss los, danke für das Fest!“ Und das war aufrichtig gemeint.

Draussen schneite es nur noch leise. Die Stille kontrastierte die Sintflut hinter ihr, deren Tosen mit jedem weiteren Schritt nur dumpfer wurde und irgendwann nicht mehr zu fühlen war. Sie, die weisse Schneekönigin mit dem scharlachroten Fleck auf dem Kleid, präzise in ihren Stilettos über den watteweichen Teppich stöckelnd. Ein Auto hielt neben ihr. „Zum Bahnhof“, der Fahrer nickte und sie stieg ein. „Sie leben wohl in einer anderen Klimazone“, sagte der in die Jahre gekommene Herr. „Noch nicht", flüsterte sie mehr zu sich als zu ihm.

Am Bahnhof holte sie einen kleinen Koffer, der wer weiss wie lange schon im Schliessfach auf sie gewartet hatte. Sich leichten Schrittes zwischen den teils lüsternen, teils verachtenden Blicken der wenigen Reisenden hindurchschlängelnd, stieg sie in den Zug ein und setzte sich in ein leeres Viererabteil. Die Durchsage verkündete als nächsten Halt den Flughafen. Ein attraktiver, wenn auch etwas junger Mann mit funkelnden Augen, schwarz wie Labdanum, fragte, ob der Platz neben ihr frei sei. „Nicht mehr dieses Jahr, mein Lieber, nicht mehr dieses Jahr!“ Sie lachte schallend, in seinen Ohren klang sie hysterisch. Er zog kopfschüttelnd davon. Sie lächelte und sagte zu sich: „Vielleicht Casablanca“. Die kaum sichtbaren Härchen auf ihrem Arm begannen zu flimmern.
40 Antworten
Midnights vor 6 Monaten 21 35
7
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8
Haltbarkeit
9.5
Duft
Ein gutes Leben
"Nothing unusual, nothing strange
Close to nothing at all
The same old scenario, the same old rain
And there's no explosions here
Then something unusual, something strange
Comes from nothing at all
I saw a spaceship fly by your window
Did you see it disappear?“
(„Amie“, Damien Rice)

ER
An den meisten Tagen war das Leben gut. Die Glut knisterte noch leise, eher unaufgeregt als leidenschaftlich, zwischen Holzkassetten an den Wänden, beigefarbenem Sofa, klaren, respektvollen Blicken und selbstverständlichen Berührungen. Ob dies ein erfülltes Leben oder die wohltemperierte Summe erfüllter Wünsche war, war eine Frage, die er weder laut noch sich selbst stellen wollte. Sehnsucht war nur noch ein Rinnsal. An manchen Tagen schwoll aber dieses Rinnsal an und wurde zu einem Fluss. Innert Minuten sein Bett verlassend, konnte es alles überfluten, was nicht auf Verstandeshöhe oder achtsam genug im emotionalen Safe verstaut worden war. So wie heute. Er ist zwar nicht alleine zu Hause, aber irgendetwas hat das Rinnsal innert Sekunden in tosende Gewässer verwandelt. Er geht in die Garage und nimmt die Kartonschachtel mit der Aufschrift „Unterlagen Elternhaus“ aus der hintersten Ecke hervor. Ein kleiner Stapel, sieben oder acht Fotos, beschämt zwischen zwei längst unbedeutenden Katasterauszügen versteckt.
Ein grüner Fiat Cinquecento, sie steht daneben, rotblondes Haar und ein Lachen, in dem mindestens das Glück zweier Leben Platz hätte. Der Träger ihres Tanktops ist verrutscht, sie trägt im rechten Arm Bergamotten und Zitronen und hat mit der linken Hand den unteren Teil ihres Tops in ein Auffangbecken für die Früchte umfunktioniert. Der Bauchnabel blitzt hervor, sie ist sich in diesem Moment ihrer Selbst und ihrer Wirkung nicht bewusst. Wieviel Lebensglück kann auf einem Foto Platz haben? Wie gross sind grosse Lieben? Oder sind sie nur deshalb so gross (ja, Präsens), weil sie nie ihre Erfüllung gefunden und immer noch im Limbo der in Aussicht gestellten, aber niemals eingelösten Versprechen, schwebten? Er denkt an die Rosen, die er ihr an diesem Tag geschenkt hatte, wie sie das Ferienhaus mit den nach Osten ausgerichteten Fenstern mit ihrem Duft ausfüllten. Und er erinnert sich daran, wie sie die Rosen nicht wegwerfen wollte, selbst als sie beinahe verblüht waren und leicht animalisch knurrten.
Ihm fällt das Foto in die Hände, das sie von ihm gemacht hat. Das gleiche Jahr, andere Jahreszeit, früher Winter. Er war mit dem Vorwand aus dem Haus gegangen, frische Luft schnappen zu müssen. Der vorweihnachtliche Duft von Nelken und Zimt hing noch in seinem Schal. Neben einer Tanne wartete er auf sie, die höchste am Waldrand, sein eigenes After-Shave, irgendetwas mit Galbanum und Patchouli, in der Nase. Als er sie umarmte, roch ihr Hals vertraut nach Vanille, nur angedeutet, niemals raumfüllend. Sie hatte ihm vor Wochen eine Frage gestellt. Er schaute sie flehend an und sagte „Ich kann nicht“. Gehaucht und einer Feder gleichend verliessen die Worte seinen Mund. Mit seinen Worten überzogen wurde die Feder zu einer Messerklinge. Zu Hause hat er die roten Augen auf die Kälte geschoben.
Eine Stimme ruft seinen Namen, hastig legt er die Fotos in die Kiste und schiebt sie weit hinten ins Regal. Die geröteten Augen wird er heute mit dem Staub auf den alten Kisten in der Garage erklären.

SIE
Es war wieder einmal so weit. Der vertraute, ominöse Besuch in der Garage, angebliches Suchen nach irgendwelchen Reliquien in den alten Kisten. Sie steht noch in der Küche und schaut zur höchsten Tanne am Waldrand. Sie wusste ja immer, dass es einen Auslöser geben muss, nur welchen? Sie war gerade vom Markt zurückgekommen, hatte Bergamotten, Zitronen und einen Strauss duftender Rosen auf den Tisch gestellt. Im Radio lief gerade ein alter italienischer Schlager. Sie verwirft die Frage nach dem Warum.
Sie war schon immer clever genug, um schnell zu begreifen, was da lief. Der plötzliche Überschwang, der überraschende Besuch der Eltern in Italien, den er partout alleine machen musste. Auch war sie selbstsicher genug, um zu wissen, dass diese Sache vorbeigehen würde. Nicht zuletzt war sie mit ausreichend Selbstachtung gesegnet, um sich im Klaren zu sein, das Spiel nicht allzu lange mitzumachen. Hat sich dann kurz vor Weihnachten von selbst erledigt. Kein Mensch bekommt von ein wenig Kälte so rote Augen. Sie öffnet das Fenster und ruft ihm zu, dass das Mittagessen in 15 Minuten fertig ist, geht die Treppe hoch, um ihren Mantel in den Schrank zu hängen. Dabei bemerkt sie auf dem Boden eine Kiste, eine von den langen Kleidern nicht vollständig verdeckte Ecke. Sie kniet nieder und sieht sich die Etikette an: „Bilder und Briefe von Mama und Papa“. Irgendwo auf dem Boden der Kiste liegt ihre Brücke über dem Rinnsal der Sehnsucht. Aber nicht jetzt, jetzt gibt es erstmal Mittagessen.

35 Antworten
Midnights vor 6 Monaten 21 28
8
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8
Haltbarkeit
10
Duft
Das Schattenspiel
Ein Blick hatte genügt. Keine Umwege, keine Fragen, wo wer her kommt und was wer macht, keine Bemerkungen über den Wettereinbruch und den nicht aufzuhören wollenden Nieselregen. Ein Blick quer durch die charmbefreite Bar, zwischen farblosen Menschen hindurch, die nach der Arbeit ihren Geist und die angespannten Nacken mit Hochprozentigem lockerten. Ein Blick, der die dichte Luft aus feuchten Jacken und nicht mehr ganz so frisch geduschten Menschen mit messerscharfer Sicherheit teilen musste, ehe er das Zielobjekt erreichte. Nun standen sie sich wortlos am Bartresen gegenüber, dem Blick des anderen trotzig standhaltend, und nippten an ihren Drinks. Ein grosser letzter Schluck, eine entschiedene stumme Aufforderung, jemand von ihnen zog einen Trenchcoat an, jemand eine gewachste Jacke, sie verliessen die Bar.
Sie liefen auf der menschenleeren Strasse einen halben Schritt hintereinander versetzt, zumindest jemand von ihnen wusste wohin. Nebeneinander zu gehen schien beiden zu vertraut.
Die hastige Suche nach dem Wohnungsschlüssel zog sich in die Länge. Der Jasminstrauch beim Hauseingang griente frivol wissend, der Duft so abgeklärt und dringend wie ihr Vorhaben.

Nun lagen sie nebeneinander in zerwühlten, moosigen Laken, die schon vor Tagen hätten gewechselt werden sollen. Der Duft der Nelken auf der Kommode legte sich über ihre Haut und mischte sich mit dem Schweiss. Die Rosen schienen weniger amused, kontrastierte, wenn nicht sogar karikierte, doch diese offensichtliche Menschlichkeit zu sehr ihre Überlegenheit. Harzige Honigperlen auf der schweissigen Stirn, erschöpft und errötet, unklar ob aus langsam verebbender Erregung oder vor Scham, wichen sie ungelenk den Blicken des anderen aus. Was hatten sie gesagt? Was hatten sie von sich gezeigt? Wer waren diese Schattenmenschen, die sich in die tierischen Niederungen des Menschseins herabliessen? Bitter säuerliches Unbehagen. Weil jemand Zeuge des eigenen Schattens geworden war? Oder hatten ihre eigenen Augen etwas an sich gesehen, was sie in eine dunkle Ecke verbannt hatten, so wie die Zuckerdose, welche die Nachbarin aus dem Urlaub in Spanien mitgebracht hatte? Schatten wie Kleinkinder, daran glaubend, dass wenn sie die Augen schliessen, niemand anders sie sehen kann. Es schien so einfach in den schützenden Membranen der Anonymität. Jetzt, wo jemand von ihnen daran dachte, dass der Sand im Katzenklo dringend gewechselt werden musste, schien die Kluft zwischen ihrem Selbstbild und dem, wer sie vor 15 Minuten waren, unüberbrückbar. Selbst die Katze auf der Kommode schaute sie verächtlich an, ernsthaft mit dem Gedanken spielend, die Vase mit den Nelken umzustossen. Das Vakuum durchbrechend stand jemand von ihnen ihnen auf, schüttelte den Kopf mit geschlossenen Augen kurz, drehte sich grinsend zum anderen um und fragte: „Honey, und was spielen wir nächste Woche?"
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