21.12.2023 - 07:01 Uhr
Midnights
27 Rezensionen
Midnights
Sehr hilfreiche Rezension
27
Der scharlachrote Fleck
„Nein?!“, perlte es träge aus ihrem Mund. Ein vorsichtiges Fragezeichen in der Intonation liess noch etwas Raum und eine kläglich hoffnungsvolle Lücke offen.
Der 24. Dezember. Welches Jahr? Es war ihr kurz entfallen. War es überhaupt wichtig? Wann hatte sie aufgehört, die Jahre zu zählen? An Stelle von Jahren sammelte sie Begehrlichkeiten, sorgfältig in schmucklosen Kisten aufgereiht.
Sie zog sich einen Träger des Kleides über die Schulter, Dior aus dem Jahr 2000, weisser Seidenchiffon mit imaginären Zeitungsseiten bedruckt. Es schien ihr immer goldrichtig, aber nie passend. „Ist das nicht etwas kurz?“ fragte er. Sie bedachte ihn mit einem milden Lächeln, sich jeden Kommentar über andere kurz geratene Dinge verkneifend, und stieg in die so gut wie neuen Satin-Stilettos, gebrochenes Weiss, mit schwindelerregendem Absatz. Eine absurde Entscheidung bei dem draussen andauerndem Schneegestöber. Je höher die Absätze, desto besser konnte sie über Hindernisse steigen, dachte sie sich. Der Weihnachtsabend bei seinen Eltern in grosser Familienrunde, ihre Mutter und ihr Vater ebenfalls anwesend, würde so manche Hürde mit sich bringen.
Sie sah ihn an. Gut sah er aus. Schon immer. Die breiten Schultern und die sportliche Statur zeugten von Vernunft und Disziplin - zwei Eigenschaften, die sich von seiner Physis auch auf sein Wesen übertragen liessen. Sie beide mit beiden Beinen im Leben, standesgemäss zwischen Work und Life erfolgreich balancierend (vorbehältlich der Definition von Erfolg), das Vorzeigepaar mit den harmonierenden Sternzeichen, das Traumpaar aus der Schulzeit. Nur die Traumhochzeit hatte nie stattgefunden. Sie redete sich ein, dass ihr Band keine Beglaubigung brauchte. Manchmal und klammheimlich fragte sie sich, ob nicht tatsächlich sie diese Illusion von Freiheit brauchte, ihr Leben jederzeit und ohne Zeugenaussage verlassen zu können. In diesen Momenten zuckte sie kurz zusammen und schüttelte sich, wie man sich schüttelt, um einen Zwangsgedanken loszuwerden. Drei Mal auf’s Holz klopfen und kurz den Kopf hin und her bewegen.
Sie kümmerte sich nicht um tickende Uhren. Die einzige Zeitmessung, die sie interessierte, war die ihrer Rolex am Handgelenk. Ihr Umfeld hingegen schien viel mehr mit Ablaufdaten und Zeugungsraten beschäftigt.
Sie trug ihr Parfum auf. Der Duft von Jasmin, Tuberose und Orangenblüten flutete den Raum und vermischte sich mit jenem ihres honigblonden Haares. Da war aber noch etwas anderes, etwas Tropisches, Schwüles, ein feuchter Film auf der Haut, das ihr Sehnsucht wie einen leisen Seufzer entlockte. Es zog sie irgendwohin, ohne genaue Koordinaten und Zielbeschreibung. Es liess die kaum sichtbaren Härchen auf ihrem Arm flimmern, so als würde ihr etwas tief in ihr Begrabenes, halb Mensch, halb Tier, kleine Signale schicken. Aus dem Nebenzimmer strömte ebenfalls ein verschwitzter Jasminschleier zu ihr herüber. Den Duft trug er nur selten, etwas von Dior, irgendein Männername, der ihr gerade nicht einfallen wollte. Sie fand seinen Duft dem bevorstehenden Anlass nicht angemessen. Zu viel Testosteron.
Im Hauseingang seiner Eltern duftete es nach Mandarinen. Wäre es nicht tiefster Winter gewesen, hätte sie schwören können, Johannisbeeren würden sie säuerlich in der Nase kitzeln. Was war mit ihr bloss los? Da war es wieder, dieses Dunkle, nicht zu fassen, nicht in Worte zu kleiden, der ungebetene Gast, der nur kurz vorbeischaut und doch einen nachhaltigen Schleier der Unruhe zurücklässt. Die Stimme seiner Mutter riss sie aus den Gedanken: „Meine Liebe, Du bist ja nackt, nicht mal eine Strumpfhose?!“ Sie schmeckte die bittere Note trotz der als Sorge getarnten Zuckerglasur. Eine weitere Bemerkung, die sie heute nur mit einem milden Lächeln bedenken wollte. Sein Vater meinte, dass es ihm gefiele, zwinkerte ihr komplizenhaft zu und nahm ihr den schneeweissen Kaschmirmantel ab.
Es folgten Küsschen, Umarmungen, Onkel und Grosstanten und der Duft derer Pelzmäntel, welche man nur in einem gewissen Alter tragen konnte, ohne einen Farbanschlag zu riskieren. Champagner liess harzige Gespräche geschmeidiger fliessen. Sie hingegen trank Rotwein, die missbiligenden Blicke ihrer Mutter ignorierend. Eine ungeschickte Bewegung seiner Schwester, die gerade im Begriff war, eine Champagnerflasche zu öffnen, und ein roter Fluss bahnte sich seinen Weg über die Zeitungsseiten ihres Kleides. Sie musste lachen und dachte sich, na endlich, endlich ist das Kleid entjungfert. Immer goldrichtig, niemals passend. Jemand hatte ihr ein Tuch gereicht, um das Nötigste aufzuwischen, bevor das Rinnsal ihre Stilettos erreichen konnte. Plötzlich merkte sie, wie es um sie herum still wurde. Verwirrt sah sie sich um und sah ihn hinter sich, feierliches Gesicht, erwartungsvoll angespannt, wie es sich gehört auf dem linken Knie. Die Frage hallte im Raum, ohne ihre Ohren vollends zu erreichen. Gerührte Gesichter und zusammengeschlagene Hände vor den Mündern.
„Nein?!“, perlte es träge aus ihrem Mund. Ein vorsichtiges Fragezeichen in der Intonation liess noch etwas Raum und eine kläglich hoffnungsvolle Lücke offen. In diesem Moment knallte der Korken der Champagnerflasche, an dem seine Schwester seit geraumer Zeit herumgefummelt hatte, diese Antwort wohl nicht erwartend. Laute von eingezogener Luft und das Weichen aller Rührung aus den Augen füllten sämtliche Leerstellen aus. Sie lachte schallend: „Nein, ich will nicht!“ Sie wollte noch kurz ein „Tut mir leid“ hinterherschieben, für eine Lüge schien ihr aber der Moment unpassend. Dafür entschlossen und mit ernster Miene: „Nein, das will ich nicht, ich muss los, danke für das Fest!“ Und das war aufrichtig gemeint.
Draussen schneite es nur noch leise. Die Stille kontrastierte die Sintflut hinter ihr, deren Tosen mit jedem weiteren Schritt nur dumpfer wurde und irgendwann nicht mehr zu fühlen war. Sie, die weisse Schneekönigin mit dem scharlachroten Fleck auf dem Kleid, präzise in ihren Stilettos über den watteweichen Teppich stöckelnd. Ein Auto hielt neben ihr. „Zum Bahnhof“, der Fahrer nickte und sie stieg ein. „Sie leben wohl in einer anderen Klimazone“, sagte der in die Jahre gekommene Herr. „Noch nicht", flüsterte sie mehr zu sich als zu ihm.
Am Bahnhof holte sie einen kleinen Koffer, der wer weiss wie lange schon im Schliessfach auf sie gewartet hatte. Sich leichten Schrittes zwischen den teils lüsternen, teils verachtenden Blicken der wenigen Reisenden hindurchschlängelnd, stieg sie in den Zug ein und setzte sich in ein leeres Viererabteil. Die Durchsage verkündete als nächsten Halt den Flughafen. Ein attraktiver, wenn auch etwas junger Mann mit funkelnden Augen, schwarz wie Labdanum, fragte, ob der Platz neben ihr frei sei. „Nicht mehr dieses Jahr, mein Lieber, nicht mehr dieses Jahr!“ Sie lachte schallend, in seinen Ohren klang sie hysterisch. Er zog kopfschüttelnd davon. Sie lächelte und sagte zu sich: „Vielleicht Casablanca“. Die kaum sichtbaren Härchen auf ihrem Arm begannen zu flimmern.
Der 24. Dezember. Welches Jahr? Es war ihr kurz entfallen. War es überhaupt wichtig? Wann hatte sie aufgehört, die Jahre zu zählen? An Stelle von Jahren sammelte sie Begehrlichkeiten, sorgfältig in schmucklosen Kisten aufgereiht.
Sie zog sich einen Träger des Kleides über die Schulter, Dior aus dem Jahr 2000, weisser Seidenchiffon mit imaginären Zeitungsseiten bedruckt. Es schien ihr immer goldrichtig, aber nie passend. „Ist das nicht etwas kurz?“ fragte er. Sie bedachte ihn mit einem milden Lächeln, sich jeden Kommentar über andere kurz geratene Dinge verkneifend, und stieg in die so gut wie neuen Satin-Stilettos, gebrochenes Weiss, mit schwindelerregendem Absatz. Eine absurde Entscheidung bei dem draussen andauerndem Schneegestöber. Je höher die Absätze, desto besser konnte sie über Hindernisse steigen, dachte sie sich. Der Weihnachtsabend bei seinen Eltern in grosser Familienrunde, ihre Mutter und ihr Vater ebenfalls anwesend, würde so manche Hürde mit sich bringen.
Sie sah ihn an. Gut sah er aus. Schon immer. Die breiten Schultern und die sportliche Statur zeugten von Vernunft und Disziplin - zwei Eigenschaften, die sich von seiner Physis auch auf sein Wesen übertragen liessen. Sie beide mit beiden Beinen im Leben, standesgemäss zwischen Work und Life erfolgreich balancierend (vorbehältlich der Definition von Erfolg), das Vorzeigepaar mit den harmonierenden Sternzeichen, das Traumpaar aus der Schulzeit. Nur die Traumhochzeit hatte nie stattgefunden. Sie redete sich ein, dass ihr Band keine Beglaubigung brauchte. Manchmal und klammheimlich fragte sie sich, ob nicht tatsächlich sie diese Illusion von Freiheit brauchte, ihr Leben jederzeit und ohne Zeugenaussage verlassen zu können. In diesen Momenten zuckte sie kurz zusammen und schüttelte sich, wie man sich schüttelt, um einen Zwangsgedanken loszuwerden. Drei Mal auf’s Holz klopfen und kurz den Kopf hin und her bewegen.
Sie kümmerte sich nicht um tickende Uhren. Die einzige Zeitmessung, die sie interessierte, war die ihrer Rolex am Handgelenk. Ihr Umfeld hingegen schien viel mehr mit Ablaufdaten und Zeugungsraten beschäftigt.
Sie trug ihr Parfum auf. Der Duft von Jasmin, Tuberose und Orangenblüten flutete den Raum und vermischte sich mit jenem ihres honigblonden Haares. Da war aber noch etwas anderes, etwas Tropisches, Schwüles, ein feuchter Film auf der Haut, das ihr Sehnsucht wie einen leisen Seufzer entlockte. Es zog sie irgendwohin, ohne genaue Koordinaten und Zielbeschreibung. Es liess die kaum sichtbaren Härchen auf ihrem Arm flimmern, so als würde ihr etwas tief in ihr Begrabenes, halb Mensch, halb Tier, kleine Signale schicken. Aus dem Nebenzimmer strömte ebenfalls ein verschwitzter Jasminschleier zu ihr herüber. Den Duft trug er nur selten, etwas von Dior, irgendein Männername, der ihr gerade nicht einfallen wollte. Sie fand seinen Duft dem bevorstehenden Anlass nicht angemessen. Zu viel Testosteron.
Im Hauseingang seiner Eltern duftete es nach Mandarinen. Wäre es nicht tiefster Winter gewesen, hätte sie schwören können, Johannisbeeren würden sie säuerlich in der Nase kitzeln. Was war mit ihr bloss los? Da war es wieder, dieses Dunkle, nicht zu fassen, nicht in Worte zu kleiden, der ungebetene Gast, der nur kurz vorbeischaut und doch einen nachhaltigen Schleier der Unruhe zurücklässt. Die Stimme seiner Mutter riss sie aus den Gedanken: „Meine Liebe, Du bist ja nackt, nicht mal eine Strumpfhose?!“ Sie schmeckte die bittere Note trotz der als Sorge getarnten Zuckerglasur. Eine weitere Bemerkung, die sie heute nur mit einem milden Lächeln bedenken wollte. Sein Vater meinte, dass es ihm gefiele, zwinkerte ihr komplizenhaft zu und nahm ihr den schneeweissen Kaschmirmantel ab.
Es folgten Küsschen, Umarmungen, Onkel und Grosstanten und der Duft derer Pelzmäntel, welche man nur in einem gewissen Alter tragen konnte, ohne einen Farbanschlag zu riskieren. Champagner liess harzige Gespräche geschmeidiger fliessen. Sie hingegen trank Rotwein, die missbiligenden Blicke ihrer Mutter ignorierend. Eine ungeschickte Bewegung seiner Schwester, die gerade im Begriff war, eine Champagnerflasche zu öffnen, und ein roter Fluss bahnte sich seinen Weg über die Zeitungsseiten ihres Kleides. Sie musste lachen und dachte sich, na endlich, endlich ist das Kleid entjungfert. Immer goldrichtig, niemals passend. Jemand hatte ihr ein Tuch gereicht, um das Nötigste aufzuwischen, bevor das Rinnsal ihre Stilettos erreichen konnte. Plötzlich merkte sie, wie es um sie herum still wurde. Verwirrt sah sie sich um und sah ihn hinter sich, feierliches Gesicht, erwartungsvoll angespannt, wie es sich gehört auf dem linken Knie. Die Frage hallte im Raum, ohne ihre Ohren vollends zu erreichen. Gerührte Gesichter und zusammengeschlagene Hände vor den Mündern.
„Nein?!“, perlte es träge aus ihrem Mund. Ein vorsichtiges Fragezeichen in der Intonation liess noch etwas Raum und eine kläglich hoffnungsvolle Lücke offen. In diesem Moment knallte der Korken der Champagnerflasche, an dem seine Schwester seit geraumer Zeit herumgefummelt hatte, diese Antwort wohl nicht erwartend. Laute von eingezogener Luft und das Weichen aller Rührung aus den Augen füllten sämtliche Leerstellen aus. Sie lachte schallend: „Nein, ich will nicht!“ Sie wollte noch kurz ein „Tut mir leid“ hinterherschieben, für eine Lüge schien ihr aber der Moment unpassend. Dafür entschlossen und mit ernster Miene: „Nein, das will ich nicht, ich muss los, danke für das Fest!“ Und das war aufrichtig gemeint.
Draussen schneite es nur noch leise. Die Stille kontrastierte die Sintflut hinter ihr, deren Tosen mit jedem weiteren Schritt nur dumpfer wurde und irgendwann nicht mehr zu fühlen war. Sie, die weisse Schneekönigin mit dem scharlachroten Fleck auf dem Kleid, präzise in ihren Stilettos über den watteweichen Teppich stöckelnd. Ein Auto hielt neben ihr. „Zum Bahnhof“, der Fahrer nickte und sie stieg ein. „Sie leben wohl in einer anderen Klimazone“, sagte der in die Jahre gekommene Herr. „Noch nicht", flüsterte sie mehr zu sich als zu ihm.
Am Bahnhof holte sie einen kleinen Koffer, der wer weiss wie lange schon im Schliessfach auf sie gewartet hatte. Sich leichten Schrittes zwischen den teils lüsternen, teils verachtenden Blicken der wenigen Reisenden hindurchschlängelnd, stieg sie in den Zug ein und setzte sich in ein leeres Viererabteil. Die Durchsage verkündete als nächsten Halt den Flughafen. Ein attraktiver, wenn auch etwas junger Mann mit funkelnden Augen, schwarz wie Labdanum, fragte, ob der Platz neben ihr frei sei. „Nicht mehr dieses Jahr, mein Lieber, nicht mehr dieses Jahr!“ Sie lachte schallend, in seinen Ohren klang sie hysterisch. Er zog kopfschüttelnd davon. Sie lächelte und sagte zu sich: „Vielleicht Casablanca“. Die kaum sichtbaren Härchen auf ihrem Arm begannen zu flimmern.
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