Turandot
Turandots Blog
vor 10 Jahren - 09.09.2014
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Mir fehlt etwas

Seit ich im Ruhestand bin und damit nicht mehr an vorderster Front vor dem Parfumregal, hat sich mein Leben natürlich gründlich geändert. In ein Rentenloch bin ich nicht gefallen, dazu hat die Welt viel zu viel Schönes zu bieten, das es noch zu entdecken gilt. Und doch fehlt mir etwas.

Mir fehlt die Neugier, wenn eine Ausserndienstlerin mit edlem Koffer und verschwörerischem Lächeln in den Laden kommt und uns den nächsten wunderbaren, aufregenden und einzigartigen Duft ihres Hauses prophezeit (der uns dann doch wieder seltsam bekannt vorkommt)

Mir fehlt die schwierige Aufgabe, für Neuheiten einen adäquaten Platz im sowieso schon überfüllten Regal zu suchen.

Mir fehlt es, gedanklich die Kunden einzuordnen, die gerne selbst in den Regalen stöbern und zu beobachten, was sie dann an die Kasse tragen. Oft war mein innerlicher Tipp richtig, manchesmal lag ich aber auch himmelweit daneben.

Mir fehlt es, gemeinsam mit einer Kundin einen Duft auszusuchen und in nullkommanix in einem vertrauensvollen Gespräch, ja fast einer Plauderein von Frau zu Frau zu landen.

Mir fehlt es, wenn diese Kundin dann nach ein paar Tagen in der Mittagspause vorbei kommt, nur um mir zu sagen, wie toll der Duft ist.

Mir fehlt es, wenn Jungs, die im Rudel auftreten und deren Hosen auf Halbmast hängen, mit den Testern wild um sich sprühen und sich sooo cool vorkommen plötzlich ganz lieb und höflich werden, wenn ich ihnen anbiete, damit aufzuhören um dafür von mir die Probenschublade geöffnet zu bekommen.

Mir fehlt es, bei Stammkunden zu wissen, welchen Duft sie verwenden, was wir das letzte Mal für die Schwägerin ausgesucht haben und dass der Sohn das Abi bestanden hat. Es gibt wohl kaum ein besseres Gedächtnistraining.

Mir fehlt es, hin und wieder auf Duftschulungen gehen zu können und doch jedesmal wieder den ein oder anderen neuen Gedanken mitzunehmen oder längst Bekanntes aufzufrischen.

Mir fehlt es, den Azubis die Begeisterung weitergeben zu können, die mich für die Düfte brennen lässt und dann leise schmunzelnd zu erleben, wie sich die Kundengespräche der Mädels ändern.

Mir fehlt es, mich jedes Jahr aufs Weihnachtsgeschäft zu freuen und jedes Jahr froh zu sein, wenn es wieder vorbei ist.

Mir fehlt es, abends mit einem "hat heute wieder Spaß gemacht" nach Hause zu gehen.

Mir fehlen meine Kolleginnen

Aaaaber.............

Mir fehlt es nicht, mit Putzeimerchen bewaffnet, Regalpflege zu betreiben und genau zu wissen, dass es längst vorne wieder nötig ist, wenn man hinten fertig ist.

Mir fehlt es nicht, festzustellen, dass mehr als die Hälfte der Düfte im Regal Eintagsfliegen sind und eigentlich nur Platz wegnehmen.

Mir fehlt es nicht, mehr mit Verwaltungskram wie Bestandskontrollen, Aktionen, Kassieren, Putzen usw. beschäftigt zu sein, als mit Kundengesprächen.

Mir fehlt es nicht, sich immer wieder von Ladendieben vera....... vorzukommen.

Mir fehlt es nicht zu sehen, wie Kunden mit Dingen, die ihnen (noch) nicht gehören, umgehen.

Mir fehlt es nicht, dass Kunden der Meinung sind, wir müssten doch nur schön sein und riechen und uns entsprechend behandeln.

Mir fehlt es nicht, dass Kunden Tester als Allgemeingut ansehen und grenzenlos nachbestellt werden können und dann damit auch so umgehen.

Mir fehlt es nicht, dass Duschgeltuben geöffnet, daran gerochen und dann nicht wieder richtig verschlossen ins Regal zurück gestellt werden.

Mir fehlt es nicht, dass Make-up-Finger an unseren Regalen abgeputzt werden.

Mir fehlt es nicht, dass es Spaßvögel gibt, die regelmäßig die Sprühköpfe der teuersten Düfte verschwinden zu lassen.

Mir fehlt es nicht, dass Deos als Tester benutzt werden.

Mir fehlt es nicht, dass nach ruhigen Tagen die Füße abends mehr schmerzen, als wenn es den ganzen Tag rund geht.

Mir fehlt es nicht, morgens bei Wind und Wetter auf den Bus zu warten und mir fehlt es auch nicht, abends erst heimzukommen, wenn andere Menschen schon längst im Kino sind, oder vor dem Fernseher die Füße hochlegen.

Unterm Strich: Es war eine schöne Zeit, aber wenn ich heute meine Kolleginnen besuche, gehe ich gerne danach ins nächste Straßencafe und lasse die Seele baumeln.

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