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loewenherz’ Blog
vor 9 Jahren - 22.08.2015
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Das Privileg Parfumo

Ich habe keinen spontanen Anfall von Weltschmerz oder Rührseligkeit heute, das gleich vorweg. Diese Worte stecken mir schon lange im Hals; ich habe bisher nur nicht den richtigen Zeitpunkt gefunden, ihnen die zwei, drei Augenblicke zu gönnen, die sie brauchen und verdienen, um angemessen formuliert zu werden.

Parfumo.de ist eine wunderbare Seite (Danke dafür an Don und an die anderen), auf der sich wunderbare Menschen voll Herzblut über eine wunderbare Leidenschaft austauschen. Wir sind hier (im Wesentlichen) stets freundlich zueinander, wir lesen und lernen von- und lachen miteinander. Es geht dabei a priori um die - ich bin jetzt mal ganz grausam - wahrscheinlich überflüssigste Sache der ganzen Welt, geht um Tand und Flitterkram, um das 'sich besprühen' mit mal mehr mal weniger hochfeinen Substanzen, die unser Leben bereichern und schöner machen. Es geht um Schönheit und Reichtum, die wir alle das Privileg haben täglich zu genießen - wiederum: die einen mehr, die anderen weniger, die einen mit essence, die anderen mit Clive Christian - aber doch alle in einem gewissen Mindestmaß, sonst wären wir nicht hier.

Während wir diskutieren, ob Zitrone in der Kopfnote dominiert oder doch eher Bergamotte, ob Eau de Cologne besser am Vorderhals aufgetragen wird und Eau de Parfum lieber in der Armbeuge - währenddessen passieren furchtbare Dinge in der Welt, manche ganz nahe bei uns, viele davon quasi ununterbrochen. Es sind Menschen auf der Flucht vor Hunger und vor anderen Menschen, es werden Landschaften verheert, es verschwinden ganze Arten von Lebewesen. Es mangelt an Freiheit und an Zugang zu Bildung, es mangelt vielfach an Herzenswärme und an Empathie, dieser Tage, so scheint mir, ganz besonders. Es gibt Ungleichheit und Ungerechtigkeit in unserer unerträglich unperfekten Welt, in China steht eine Millionenstadt in giftigen Flammen - und nein, das ist nicht dasselbe wie der sprichwörtliche Sack Reis.

Nichts, gar nichts davon wird weniger schlimm, wenn wir hier nicht mehr schreiben würden über Chypres und Fougères, über die böse Reformulierung von 1998 und den lange ersehnten Verriss von Diors neuem Herrenduft. Nichts ist schlecht oder verwerflich daran, sich über das Luxusgut Parfum auszutauschen - es ist für uns, die wir hier lesen oder schreiben, eine Nische - wie das Herumbasteln an einer Modelleisenbahn oder der gelegentliche Gang in ein Café. Die wenigstens von uns sind gleichgültig oder gar zynisch, möchte ich annehmen (sonst schrieben sie nicht so liebevoll über Parfums, denn 'schlechte Menschen haben keine Düfte', zumindest möchte ich das gerne glauben), aber das tägliche Entsetzen muss wohl eine Pause haben und einen Ort der Ruhe in eben dem Alltag und dem Leben, das wir alle leben müssen, jeder für sich. Es ist ein kleines Wunder, dass eine Internetseite über Parfum dieser Ort sein kann.

Ich sitze hier und trinke meinen Morgenkaffee, die Sonne scheint durchs offene Fenster, und der Tag verspricht herrlich zu werden. Es geht mir gut und Euch - so scheint mir - auch. Dafür bin ich unendlich dankbar. Dass wir hier voneinander lesen dürfen, ist ein großes, ein wunderbares Privileg, an das wir uns manchmal erinnern sollten.

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