Bergamotto Marino 2006

Parma
07.06.2023 - 11:11 Uhr
22
Top Rezension
9
Preis
8
Flakon
6
Sillage
8
Haltbarkeit
8.5
Duft

Was ist Meer?

„Beim Aufschneiden einer Bergamotte läuft das ganze Meer heraus.“

Dieses wunderschöne, poetische Zitat des Mitparfumos Caffee machte mich neugierig und setzte Bilder frei. Allerdings stellte sich mir gleichzeitig die Frage:

Was ist Meer hier? Wie riecht es?

Denn Meer kann vieles sein: Süßwasser, Salzwasser, Gischt, Algen/Seetang, Seegras, Fisch, Sand, Stein, Holz, Küstenvegetation. Für manche auch Sonnencreme. Vielleicht sogar Kokosnuss, wenn wir an die Karibik denken.

An der Nachbildung dieses Elements arbeit(et)en sich viele Parfümeur*innen ab, und es ist und bleibt schwierig einen authentischen Ton zu treffen, denn im Prinzip ist Wasser geruchslos. Eher wird angestrebt, die es umgebenden bzw. beeinflussenden olfaktorischen Aspekte abzubilden.

Um dennoch einen im Herzen des Dufts wässrigen Eindruck zu suggerieren wird oft mit synthetischen Bestandteilen gearbeitet. Am bekanntesten ist sicherlich der Duftstoff Calone, welcher einen ozonisch-wässrigen Charakter aufweist. Helional hat einen ähnlichen Effekt, tendiert dabei aber in eine leicht blumige Richtung. Oder der IFF-Riechstoff Maritima, der leicht muffig nach Brackwasser riecht. Die Problematik dieser und ähnlicher Stoffe ist, dass sie in höherer Dosierung schnell künstlich wirken und einem realistischen Meereseindruck somit eher entgegenstehen.

‚Bergamotto Marino‘ ist das Beispiel eines marinen Dufts, der ebenfalls auf synthetische Duftstoffe zurückgreift, sie aber nicht überdosiert. Ich erhalte zwar einen leicht künstlichen Vibe, aber der ist wahrscheinlich nicht gänzlich zu vermeiden.

Aber wie riecht er nun?

Für mich nach würziger, leicht salziger, meerwassergeschwängerter Luft.

Geprägt wird der Duft meines Erachtens durch zwei Bestandteile: Auf der natürlichen Seite steht das Extrakt einer Pflanze im Mittelpunkt: Neroli. Das Öl aus den Blüten des Orangenbaums ist in diesem Fall ein besonders grün-würziges, sogar leicht salziges. Oft kennt man es in der weichen, blumigen Form aus klassischen Eau de Colognes, aber hier werden seine rauen Seiten gezeigt. Zu bewundern ist eine solche Interpretation z.B. in Aaron Terence Hughes ‚Neroli‘. Auf der synthetischen Seite wird dieser sehr pure, grünwürzige Eindruck durch einen Bestandteil unterstützt, der mich beim ersten Test an den mineralisch-luftigen Ton in Acqua di Parmas ‚Colonia Pura‘ erinnert hat, dort allerdings künstlicher und greller erscheint. Eine andere Verwandtschaft, die mir in den Sinn kam, war die zum wohl bekanntesten aller „aquatischen“ Düfte: ‚Cool Water‘.

Cool Water ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, da er wie Bergamotto Marino von Pierre Bourdon entworfen wurde, und wenn man sich die Einschätzung von Geza Schön zum Davidoff-Klassiker anhört (im Interview und Podcast mit dem Magazin „mare“), wird es richtig interessant. Nach Schön ist der marine Akkord in Cool Water nämlich aus einer prägnanten grünen Note (er spezifiziert sie leider nicht genauer), Orangenblüte (!), Bergamotte (!), Dihydromyrcenol und einer geringen Dosis Helional konstruiert. Für ihn ist Cool Water übrigens kein aquatischer Duft – womit er z.T. mit denen übereinstimmt, die ihn als grünen Duft klassifizieren (→ Green Irish Tweed) –, sondern die „Neuinterpretation einer frischen Orangenblüte“, was ich zwar nicht unterschreiben würde, aber eine erstaunliche Parallele zu meinem Eindruck von ‚Bergamotto Marino‘ aufweist. Denn den sehe ich analog als eine marine Interpretation des Neroli. Weshalb ich ihn auch als marinen Duft einordnen würde. Vergleicht man dazu die Basen dieser beiden Düfte (Eichenmoos, Amber, Moschus, Holz), untermauert dies den Eindruck, dass Bourdon hier Elemente seines Klassikers zitiert hat. Cool Water ist allerdings deutlich krautiger, künstlicher und lauter. Aus meiner Sicht wurde für den marinen Akkord im Bergamotto Marino deshalb nicht Dihydromyrcenol verwendet (was Cool Water für mich aufgrund der limettig-lavendelähnlichen Krautigkeit auch mehr fougèreartig macht als marin), sondern eher Helional, welches als blumig-wässrig nach Melone, Ozon und „Meeresaroma“ riechend beschrieben wird (internetchemie.info). In der Duftpyramide ist auch Melone aufgeführt und er verströmt einen ozonischen Ton, der nach „Meer“ riecht. Zumindest spielt aus meiner Sicht ein in irgendeiner Form gearteter mariner Akkord eine Rolle, wenn auch weniger prägnant als in Cool Water. An anderen Stellen wird von einem entsprechenden aus Seegras, Ambergris und Moschus gesprochen (basenotes.com), was für mich ebenfalls Sinn machen würde, wenn Seegras diesen ozonisch-wässrigen Charakter einbringen sollte. Ambergris würde ich hier in seiner natürlichen Form anzweifeln, aber die dezente Salzigkeit, die der Duft verströmt, kann von einem Amber-Riechstoff herrühren (in Cool Water ist es laut Parfumo-Datenbank wohl Ambrox), evtl. auch vom bzw. im Zusammenspiel mit einem Eichenmoos-Substitut. In Kombination mit dem Moschus entwickelt die zurückhaltende Basis dann einen leicht “cremig“-warmen, moosig-holzigen Ton, der sich thematisch passend zum grünwürzigen des Neroli verhält. Wunderbar aromatisch. Er ist daher kein superfrischer Zitrus-Aquat, wie man es dem Namen nach evtl. erwarten würde, sondern eher ein würziger Seeluft-Duft an einem wärmeren Tag. Durch die etwas angeraute Aromatik wirkt er – im traditionellen Sinne – maskulin konnotiert und dabei zeitlos-modern, understated und gepflegt.

Ebenfalls entgegen der Suggestion durch die Namensgebung, spielt die Bergamotte in meiner Nase kaum eine Rolle. Sie blitzt nur anfänglich einmal kurz in ihrer herben Zitrizität auf – unterstützt durch eine fruchtig-bittere Facette, die ich der schwarzen Johannisbeere zuschreibe –, macht dann aber fast unmittelbar dem Herzen des Dufts Platz (Neroli + mariner Akkord) und verbleibt danach nur noch in Fragmenten. Deshalb trifft es Caffees Beschreibung – in meiner Interpretation – so akkurat: Das anfängliche Aufspritzen des Bergamottesaftes und sein Davontragen durch das herausfließende Meer(wasser) (das „Davontragen“ ist allerdings meine Wahrnehmung, die evtl. nicht mit seinem Eindruck übereinstimmt!).

Pierre Boudron hat mit diesem Duft das Kunststück geschafft, seinen Klassiker Cool Water in vielen Aspekten zu zitieren, aber dennoch einen völlig eigenständigen, in meinen Augen marineren Duft zu erschaffen, der so gut konstruiert, wertig und unaufgeregt ist (u.a. ist die Haltbarkeit für ein Eau de Cologne außergewöhnlich gut - ich nehme ihn den ganzen Tag über wahr, auch wenn er nur sehr gering silliert), dass es einfach eine Freude ist, ihn zu tragen. Und in seiner Meeresnähe ist er so überzeugend, dass ich mich frage, warum er nicht bekannter ist.

Vielleicht liegt es daran, dass marine/aquatische Düfte eine Randgruppenerscheinung sind. Oder daran, dass der Duft eingestellt ist (und ihm das Schicksal dazu recht früh erfuhr). Vielleicht auch daran, dass Gianfranco Ferré eine hierzulande und eventuell außerhalb Italiens generell wenig distribuierte Marke ist (versucht mal hier an einen Ferré-Duft zu kommen!). Oder vielleicht daran, dass er v.a. für den Einsatz in Luxushotels vorgesehen war und deshalb gar nicht so sehr im normalen Parfumhandel auftauchte.

Wie dem auch sein, wenn man sich die heutzutage kursierenden Preise in den bekannten Onlinebuchten anschaut (ø ca. 150 € für 200 ml) und weiß, was der Duft bei Erscheinen 2006 gekostet hat (35 € für 50 ml, 50 € für 100 ml), kann man den Eindruck eines Liebhaber*innendufts gewinnen, der einiges richtig gemacht haben muss.
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