01.12.2024 - 08:53 Uhr

ElAttarine
73 Rezensionen

ElAttarine
Top Rezension
30
Geh hindurch…!
Im Mekong-Delta mit dem Fahrrad unterwegs. Staubige Fahrwege, Flussarme, Kanäle, Zuckerrohr, Kokosplantagen, üppiges Grünzeug, Palmen und Gebüsch… Mitten im Grün ein Schild „Candy Factory“ und der Aufforderung einzutreten. Wir treten durch ein Tor und folgen dem schmalen Pfad, der schließlich zu einem Gebäude führt. Nirgendwo weitere Schilder oder Wegweiser. Vorsichtig öffnen wir die Tür und stehen in einem großen luftigen Holzgebäude mit offener Terrasse zum Fluss. Es riecht nach Bonbons, nach Staub und etwas undefinierbar und intensiv Muffigem, wie oft in Vietnam und China. An langen Tischen arbeiten Frauen daran, eingekochte Kokosmelasse in Candy-Stücke zu schneiden, sie je nach Geschmacksrichtung mit weiteren Nüssen und/oder Gewürzen zu versehen und sie weiter trocknen zu lassen. Uns wird die Produktion erklärt, wir kaufen natürlich ein paar leckere Bonbons. Und schließlich werden uns auf der einen Seite des Verkaufsbereichs Regale mit Medizin gezeigt: Flaschen mit vietnamesischem Rum, Reisschnaps und beeindruckende große Flaschen mit unterschiedlichen in Reisalkohol eingelegten Tieren, vor allem große und kleine Flussschlangen. Wir dürfen alles probieren… Aus dieser Ecke kommen auch die Düfte, die ich schon aus den vollgestopften Stadtapotheken kenne, in denen die vielen hier lebenden Chinesen Säcke, Holzkisten und Glasgefäße mit allen möglichen tierischen und pflanzlichen Körperteilen, Wurzeln, Tinkturen und Pulvern verkaufen. Undefinierbar bitter-medizinisch, muffig, dabei sind auf jeden Fall Costuswurzeln und Hirschmoschus.
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„Chéngmén“ ist chinesisch und soll „Stadttor“ bedeuten, und dieser Duft ist tatschlich wie ein Tor, das ich durchschreite, um an einen neuen Ort zu kommen. Oder eine Folge solcher Tore mit immer neuen Orten und Düften. Nach mehreren Tests (noch nicht abgeschlossen) habe ich den Eindruck, der Duft besteht aus drei Aspekten oder Schichten, die einander überlagern und immer wieder Neues eröffnen:
Erstens ist da etwas Muffig-Tierisch-Geheimnisvolles wie in den traditionellen Stadtapotheken in China oder Vietnam. Dazu trägt die recht ordentliche Animalik von Costus, Moschus und einem Teil der Oud-Sorten bei.
Zweitens entfaltet sich ziemlich bald ein recht starker Champaka-Duft, kaugummiartig-blumig, intensiv und süß. Auf der Homepage ist von „rotem Champaka-Öl“ die Rede, das ich noch nicht kenne. Verstärkt wird das Blumige durch Mimose und Maiglöckchen. Dieser Aspekt verhindert, dass sich die Animalik allein durchsetzt.
Drittens gibt es hier noch etwas Medizinisch-Strenges, vermutlich durch einen Teil der Oud-Sorten und Olive. Dieser Aspekt trägt dazu bei, dass ich wach bleibe und nicht in der Animalik oder Champakasüße versinke.
Verbunden wird das Ganze durch Iriswurzel und balsamisch-holzig-harzige Aspekte sowie eine erdige Basis (zum Glück ist das Cypriol gut eingebunden und stört mich hier nicht).
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John Biebel, der Parfumeur hinter January Scent Project, hat beruflich schon alles mögliche gemacht, er ist Produktdesign-Manager für Software im Gesundheitswesen, Maler, freiberuflicher Autor, Parfumeur und Musiker. Neben den Düften für January Scent Project ist er auch der Autor von „Black Walnut“ für American Perfumer. Zum Duft „Chéngmén“ gibt es noch ein Kunstprojekt, in dem mit Hilfe von generativer AI ein Musikvideo erstellt wurde. Auch da geht um Vorstellungen einer blühenden Stadt, die sich hinter dem schützenden alten Stadttor öffnet. In seinem Blog beschreibt Biebel, wie er ein Gespräch mit der Doktorandin Baoli Yang von der Brown University geführt hat, die dort ihr Studium über die chinesische Literatur des Mittelalters und den kulturellen Austausch zwischen China und den USA abschließt. Das Parfum solle daran erinnern, dass die Welt heute einerseits klein geworden ist, andererseits aber gegenseitiges Verstehen oft immer noch schwer sei.
Eine Freundin schenkte mir in jungen Jahren ein Buch mit Texten klassischer Zen-Meister, und als Widmung legte sie mir eine Abbildung eines Gemäldes von Ando Hiroshige mit einem Stadttor bei und diesen Worten: Geh‘ hindurch! Daran erinnert mich dieser Duft nach langer Zeit wieder. Auch wenn ich ihn im Alltag nicht oft tragen würde, hat er viele unvertraute und faszinierende Facetten.
Das begleitende AI-Film- und Musikprojekt: https://www.youtube.com/watch?v=ZqyhV86UO_k
Der Blog/”In Conversation with Medieval Chinese Literature Scholar Baoli Yang: Borders, China, and Cultural Exchange“:
https://www.januaryscent.com/blog
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„Chéngmén“ ist chinesisch und soll „Stadttor“ bedeuten, und dieser Duft ist tatschlich wie ein Tor, das ich durchschreite, um an einen neuen Ort zu kommen. Oder eine Folge solcher Tore mit immer neuen Orten und Düften. Nach mehreren Tests (noch nicht abgeschlossen) habe ich den Eindruck, der Duft besteht aus drei Aspekten oder Schichten, die einander überlagern und immer wieder Neues eröffnen:
Erstens ist da etwas Muffig-Tierisch-Geheimnisvolles wie in den traditionellen Stadtapotheken in China oder Vietnam. Dazu trägt die recht ordentliche Animalik von Costus, Moschus und einem Teil der Oud-Sorten bei.
Zweitens entfaltet sich ziemlich bald ein recht starker Champaka-Duft, kaugummiartig-blumig, intensiv und süß. Auf der Homepage ist von „rotem Champaka-Öl“ die Rede, das ich noch nicht kenne. Verstärkt wird das Blumige durch Mimose und Maiglöckchen. Dieser Aspekt verhindert, dass sich die Animalik allein durchsetzt.
Drittens gibt es hier noch etwas Medizinisch-Strenges, vermutlich durch einen Teil der Oud-Sorten und Olive. Dieser Aspekt trägt dazu bei, dass ich wach bleibe und nicht in der Animalik oder Champakasüße versinke.
Verbunden wird das Ganze durch Iriswurzel und balsamisch-holzig-harzige Aspekte sowie eine erdige Basis (zum Glück ist das Cypriol gut eingebunden und stört mich hier nicht).
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John Biebel, der Parfumeur hinter January Scent Project, hat beruflich schon alles mögliche gemacht, er ist Produktdesign-Manager für Software im Gesundheitswesen, Maler, freiberuflicher Autor, Parfumeur und Musiker. Neben den Düften für January Scent Project ist er auch der Autor von „Black Walnut“ für American Perfumer. Zum Duft „Chéngmén“ gibt es noch ein Kunstprojekt, in dem mit Hilfe von generativer AI ein Musikvideo erstellt wurde. Auch da geht um Vorstellungen einer blühenden Stadt, die sich hinter dem schützenden alten Stadttor öffnet. In seinem Blog beschreibt Biebel, wie er ein Gespräch mit der Doktorandin Baoli Yang von der Brown University geführt hat, die dort ihr Studium über die chinesische Literatur des Mittelalters und den kulturellen Austausch zwischen China und den USA abschließt. Das Parfum solle daran erinnern, dass die Welt heute einerseits klein geworden ist, andererseits aber gegenseitiges Verstehen oft immer noch schwer sei.
Eine Freundin schenkte mir in jungen Jahren ein Buch mit Texten klassischer Zen-Meister, und als Widmung legte sie mir eine Abbildung eines Gemäldes von Ando Hiroshige mit einem Stadttor bei und diesen Worten: Geh‘ hindurch! Daran erinnert mich dieser Duft nach langer Zeit wieder. Auch wenn ich ihn im Alltag nicht oft tragen würde, hat er viele unvertraute und faszinierende Facetten.
Das begleitende AI-Film- und Musikprojekt: https://www.youtube.com/watch?v=ZqyhV86UO_k
Der Blog/”In Conversation with Medieval Chinese Literature Scholar Baoli Yang: Borders, China, and Cultural Exchange“:
https://www.januaryscent.com/blog
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