Ronin
06.01.2014 - 08:25 Uhr
Top Rezension
7Duft 7.5Haltbarkeit 2.5Sillage 7.5Flakon

Die Hedion-Cashmeran-Idee des talentierten Herrn Kurkdjian

Ich bin verwirrt. Weniger vom Duft "Aqua Vitae" selbst als vielmehr von dem, was ich bisher über den Duft lesen konnte. Für mich lebt das Parfum nach zitrischem Auftakt vom einem Wechselspiel von Hedion und Cashmeran: Hedion (im Englischen Hedione) ist die Substanz, die in keinem Parfum fehlen darf, um welke Blütenblätter wieder Frische einzuhauchen und mit Tautropfen zu versehen. Auch Fruchtnoten bekommen dadurch ein "wie frisch gepresst"-Siegel.
Cashmeran, auf halbem Wege zwischen den Moschus- und Holzduftstoffen, ist schwer greifbar und sehr diffusiv. Es wird auch gar nicht in Pyramide oder den bisherigen Kommentaren erwähnt, und eigentlich rieche ich die Substanz nicht so leicht heraus wie andere. Trotzdem meine ich hier Cashmeran zu erkennen. Ist es die Überlagerung von Guajak und einem Moschusriechstoff, der für mich wie Cashmeran riecht? Ich vermute eher, dass Cashmeran - obwohl verwendet - einfach nicht in der Pyramide erwähnt wird: neben Hedion noch die Nennung eines weiteren synthetischen Riechstoffs könnte irritieren und die euphemistischen, eher irreführenden Umschreibungen "Kashmirholz" oder "helle Hölzer/blond woods" waren Francis Kurkdjian vermutlich einfach zu blöd.
Zusammen mit Ethylmaltol finde ich Cashmeran recht schrecklich ("Angel", "Bois Marocain"), aber wer einen subtileren Zugang wählt wie Maurice Roucel in "Dans Tes Bras", kitzelt da echt was raus, v.a. mit Blumennoten.
Sowohl Hedion als auch Cashmeran werden also selten ihrer selbst willen eingesetzt, sondern um andere Noten ins rechte Licht zu rücken. Und so ist "Aqua Vitae" ein ungewöhnliches Parfum mit Noten im Mittelpunkt, die in der Regel hinter dem Scheinwerfer stehen und nicht in dessen Licht. Der zitrische Start ist sehr hell, strahlend, warm. Bei aller Wärme aber auch frisch. Vergleichsweise weit werden die Agrumen in den Duft hinein getragen und selbst, wenn sie nicht mehr zu riechen sind, verbleibt ein sonniges Echo. Ich vermute, das vergleichsweise lange Durchhalten der flüchtigen zitrischen Noten und das Echo sind vor allem einer hohen Dosis Hedion geschuldet. Mit dem Abklingen der Kopfnoten zieht sich der Duft zurück und eine warme und weiche, leicht blumige und pudrige Aura umspielt die Haut. Diese hält recht lange durch, so mindestens 6-8 Stunden. Ich denke, der Dufteindruck von der Sonne aufgewärmter Haut wird durch das Zusammenspiel Hedion/Cashmeran bewirkt. Die in der Pyramide angegebenen Vanille und Tonka steuern für mich eher etwas Süße bei als bewusst heraus gestellt zu werden.
Ich hatte den Duft nur einmal getragen, für ein mehrmaliges Testen gefällt er mir dann doch nicht gut genug: ich habe einige Parfums in meiner Sammlung, die diesen Eindruck gepflegter, sauberer, warmer und süßer Haut vermitteln, ohne wirklich "parfümig" zu riechen - z.B. "L’Eau d’Hiver" (einer meiner absoluten Lieblinge). "Absolue Pour le Matin", auch von Maison Francis Kurkdjian, geht in die gleiche Richtung und wenn ich noch eine Ergänzung in die Richtung möchte, dann würde ich eher diesen "Aqua Vitae" vorziehen – so ein bisschen spannender ist der "Morgenduft" für mich schon. Bevor ich jetzt falsch verstanden werde: "Aqua Vitae" hat keine große Ähnlichkeit mit den beiden anderen Genannten, aber der Effekt warmer, gepflegter Haut ist sehr vergleichbar. Und so etwas brauche ich nicht in unendlichen Variationen zu besitzen. Des Weiteren würde ich diesen absolut zu Recht als unisex eingeordneten Duft etwas lieber auf Damen- als auf Herrenhaut riechen.
Spannender als das, was ich rieche, finde ich, dass hier Hedion so sehr in den Mittelpunkt gestellt wird: seit Edmond Roudnitska es für "Eau Sauvage" als Parfumingredienz entdeckte, hat keine andere Substanz so sehr die Art, wie Parfums gemacht werden können und wie sie gemacht werden, verändert wie Hedion. Es fehlt in praktisch keinem Duft der letzten 40 Jahre und hat die Entwicklung moderner Parfumerie in Richtung Transparenz erst ermöglicht. Und so kann man "Aqua Vitae" durchaus als Kurkdjians Hommage an Edmond Roudnitska und Hedion ansehen – ähnlich dem Comme-de-Garçons-Duft "Odeur 53" von Martine Pallix mit 63 % oder Ellenas "First" für Van Cleef & Arpels mit 20 % Hedion (wobei ja jedes zweite Werk Jean-Claude Ellenas eine Hommage an Roudnitska ist, aber das ist eine andere Geschichte …).
Da ich den Duft nicht häufiger getestet habe, habe ich lange überlegt, ob es seriös ist, meine Eindrücke als Kommentar zu verfassen (oder doch lieber in "Getestete Düfte" zu veröffentlichen). Ich habe mich letztendlich dazu entschlossen, es doch hier zu posten und bitte daher um Verständnis, dass ich nicht alle Aspekte des Parfums beleuchtet habe und mich sehr auf das Hedion-Cashmeran-Zusammenspiel fokussiert habe. Der Kommentar ist auch etwas verkopft geworden, aber "Aqua Vitae" kommt mir auch etwas verkopft vor ...
9 Antworten
StulleStulle vor 7 Jahren
Ein superinteressanter Kommentar, besten Dank dafür!
Nachdem ich neulich mal den Supreme Cashmere von Polo getestet habe und mir halbwegs schlecht wurde, stellen sich mir alleine schon beim Lesen von "Cashmeran" die Nackenhaare hoch. Vielleicht zu Unrecht, aber in diesem Falle könnte das böse C seinen Beitrag zur Knieweichheit dieses Duftes geleistet haben. Und Guajak...
StilloniStilloni vor 9 Jahren
Schöner lehrreicher Kommentar - obwohl ich nur den gymnasialen Chemie-Unterricht hatte - hat mich meine Nase doch nicht getäuscht: für mich persönlich recht unausgewogenes Hedion-Cashmeran-Zusammenspiel. :)
MeggiMeggi vor 11 Jahren
Vielen Dank, dass Du Dich für's "richtig aufschreiben" entschieden hast. Ein lehrreicher Kommentar für mich.
RoninRonin vor 12 Jahren
Danke, danke, danke für das freundliche Feedback!
KirthiKirthi vor 12 Jahren
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Spannender anderer Blickwinkel als bisher! Dankeschön!
PaloneraPalonera vor 12 Jahren
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Und wieder etwas gelernt - die Wirkung von Hedion war mir bisher völlig unbekannt und wäre es auch jetzt noch, wärest Du Deinen Zweifeln gefolgt. Danke, daß Du es nicht getan hast!
LouceLouce vor 12 Jahren
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Ein Kommentar, der nicht persönliches Gefallen zum Maßstab für Beurteilung von gelungen/misslungen nimmt.... schön! Danke! Und dann noch so spannend und interessant, dass ich bei der nächsten Gelegenheit nicht so fahrig über AV hinweg riechen werde.
RivegaucheRivegauche vor 12 Jahren
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Also ich habe alles verstanden, und das mit Roudnitska sowieso :-)
AavaAava vor 12 Jahren
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Endlich wieder ein Ronin-Kommi und wieder einmal ein ganz, ganz großartiger. Ich hab ihn gerne gelesen, finde ihn spannend, lerne bei jedem deiner Kommis noch was und freue mich über jeden einzelnen. Danke!