Heute kam eine Sendung an, die ich schon gespannt erwartet hatte. Aufgrund einiger positiver Rezensionen hier auf Parfumo war ich neugierig geworden. Die Einordnung des Duftes sprach mich an, und so bestellte ich mir unter anderem davon eine Abfüllung bei einem Online-Händler.
Es ist, wie es ist. Manchmal wird eine Erwartungshaltung erfüllt, manchmal sogar übertroffen. Aber mindestens genauso häufig wird sie eben auch enttäuscht. So war es in diesem Fall. Meine Reaktion auf den Duft ist vielleicht extrem; aber ich war davon regelrecht abgestoßen. Angewidert. Ich war auch ratlos. Was stimmt denn mit den Leuten nicht, die so einen Geruch positiv bewerten, vielleicht sogar als angenehm beschreiben? Wie kann man so etwas überhaupt produzieren? Mit der Bezeichnung „Parfum” versehen? Und sich dafür auch noch bezahlen lassen? Nicht für viel Geld und gute Worte möchte ich so etwas auf der Haut tragen!
An dieser Stelle ein Wort der Warnung:
Der nun folgende Text hat zwar einen ganz elementaren Bestandteil dieser Parfum-Plattform zum Kern; nämlich unsere Beurteilung eines Duftes. Aber es dauert, bis ich zum Kern vorgedrungen bin. Und einen Nutzen hat der Text auch nur für diejenigen, die Spaß an theoretischen Wortklaubereien und küchenphilosophischen Betrachtungen haben. Alle anderen bitte ich, mir ihre vernichtenden Kommentare zu ersparen und einfach an dieser Stelle zu lesen aufzuhören! Ihr macht alles richtig. Es gibt kein Problem.
Das Parfum, das ich bestellt hatte, war also ein totaler Griff ins Klo, wie Sokrates zu sagen pflegte. Auf Altgriechisch natürlich. Mein naheliegender Gedanke: Ich wollte mein Erlebnis gerne mitteilen. Eine Rezension des Duftes schreiben. Aber dann fiel mir ein Passus ein, den ich in den Richtlinien zum Verfassen von Rezensionen gelesen hatte: Sei fair! heißt es da. Und „plop-plop-plop” fingen in meinem Kopf die Fragen an, sich aufzutürmen. Wie, bitte, schreibt man denn einen fairen Verriss? Eine faire, aber schlechte Bewertung? Was, wenn ich nun wirklich nichts Positives über den Gegenstand meiner Betrachtung sagen kann? Mir wurde klar, dass die Fragen eher philosophischen Charakter haben – von den möglichen Antworten ganz zu schweigen. Und dass beide nicht nur zu diesem speziellen Parfum, das mich so angewidert hatte, einen Bezug haben würden, sondern ganz allgemein gültig sind. Also habe ich das Thema hier im Forum eröffnet – und meine Rezension erstmal vertagt. Besser ist das.
Es ist doch bemerkenswert, dass wir Fairness in der Regel gerade dann wahrnehmen, wenn sie – unserer Meinung nach – NICHT vorhanden ist. Schon kleine Kinder schreien lautstark: „Das ist unfair!" Aber niemals „Hurra, Juhu, Yeah (oder was begeisterte kleine Kinder eben so schreien), das ist voll fair!” Und sie schreien immer dann, wenn sie sich im Nachteil fühlen. Wenn das Geschwisterchen beispielsweise ein Eis kriegt, sie selbst aber nicht. (Wahrscheinlich haben sie sich dafür vor einer Stunde den Bauch mit Süßigkeiten vollgeschlagen, als das Geschwisterchen gerade schlief, aber das ist jetzt egal.) Bei Erwachsenen ist es überraschend ähnlich. Ich habe noch nie von jemandem gehört, der die eigene Gehaltserhöhung als unfair bezeichnet hätte – selbst wenn er jetzt ungleich mehr verdient als seine Kollegen, die mehr oder weniger das gleiche leisten. Es wird vielmehr genau umgekehrt sein: Sobald der Flurfunk über diese Gehaltserhöhung berichtet, wird das Gegrummele losgehen. Warum ausgerechnet der. Andere leisten doch mindestens genauso viel. Ich selbst hätte eher eine Gehaltserhöhung verdient. Aber in diesem Laden geht es eben nicht fair zu!
Fair nennen wir es oft, wenn es allen gleich gut geht. (Wenn es uns selbst ein wenig besser geht, sind wir bereit, diese Regel etwas weiter zu fassen.) Fairness ist also so etwas wie Ausgewogenheit. Wenn wir drei Äpfel haben und drei Kinder, bleibt der Friede gewahrt, solange jedes einen Apfel kriegt. (Selbst, wenn die Eltern leer ausgehen, aber das nur am Rande.) Drei Kinder, drei Äpfel – das ist objektiv betrachtet ausgewogen. Fairness ist also irgendwie messbar. Und es ist definitiv leichter, es als fair zu empfinden, wenn Gutes in gleichem Maß hinzuaddiert wird, als wenn jedem gleich viel weggenommen wird! Aber wie verfährt man, wenn es nicht um Äpfel geht, sondern um subjektive Einschätzungen? In einem Debattierclub bekommt jeder Redner gleich viel Redezeit. Der Fairness halber. Obwohl die schlechteren Argumente eigentlich immer die schlechteren bleiben, egal, wie oft man sie wiederholt. Man versucht also, die Diskussion um zwei subjektiv jeweils als richtig empfundene Standpunkte möglichst zu objektivieren. Wenn das aber einfach nicht geht? Wenn der Gegenstand von Natur aus weder greif- noch messbar und definitiv nicht objektivierbar ist? Wie zum Beispiel die Wahrnehmung eines Duftes …
Endlich! Nach diesem ewig langen Exkurs wieder zurück zum eigentlichen Thema! Riechen. Düfte. Und unser Urteil darüber. Ob es uns gefällt oder nicht: Unsere Riechrezeptoren sind nun mal viel enger mit dem primitiven, instinktgesteuerten Teil unseres Gehirns versynapst als mit dem für rationales Denken. Und da keine zwei Menschen denselben Schaltplan im Gehirn haben, nimmt jeder Mensch Gerüche anders wahr als alle anderen. Bums! Subjektiv. Keine Chance, das zu objektivieren. Nicht durch Wiegen, nicht durch Zählen. Das erklärt zumindest mal, warum ein und derselbe Duft so unterschiedlich beurteilt wird. Ja, manchmal sogar total gegensätzlich! Unabhängig davon, ob der eine vielleicht eine längere Nase hat als der andere. Oder mehr Rezeptoren. Das verdeutlicht aber auch die Problemstellung. Wie kann Fairness gewährleistet sein, wenn es kein objektives Urteil gibt? Müsste genau genommen nicht jede Rezension genauso viele positive Aspekte wie negative nennen? Das wäre zumindest ausgewogen!
Was das Ganze zusätzlich komplizierter macht: Paradoxerweise haben wir gar kein grundsätzliches Problem mit Unausgewogenheit, solange die positiven Stimmen überwiegen. Dabei ist – rein methodisch – eine total enthusiastische Bewertung eines Dufts genauso unfair wie ein Verriss, denn sie ist weder objektiv noch ausgewogen. Aus irgendeinem Grund erregt aber ein Ungleichgewicht zuLASTEN der positiven Stimmen viel stärker ein Gefühl der „Unfairness” als umgekehrt. Wenn jemand ständig gelobt wird, freuen sich alle mit ihm. Würde jemand pausenlos kritisiert werden, bekäme der Kritiker ziemlich bald eine ordentliche Tracht Prügel von den Umstehenden (zurecht). Weil es als unfair empfunden werden würde, dass er ausschließlich auf den schlechten Seiten des Kritisierten herumhackt, ohne die guten zu erwähnen.
So. Ist das Dilemma erschöpfend dargestellt? („Erschöpfend” bestimmt!)
Ein überwiegend positives Urteil über einen beliebigen Gegenstand, Stoff oder Menschen wird kaum jemals als unfair kritisiert werden. Ob man zu diesem Urteil wirklich durch objektives Abwägen guter und schlechter Eigenschaften gelangt ist oder nicht, ist den meisten völlig wumpe. Aber ein durchweg negatives Urteil sorgt schnell für Ärger, da es eben gefühlt super unfair ist.
In der Praxis ist das natürlich toll! Versteht mich bitte richtig. Ich ziehe eine positive, bejahende Atmosphäre genauso wie jeder andere einer negativen vor. Da sch*** ich auf die Unausgewogenheit! Und im Rahmen unserer Rezensionen kann ich den Appell an die Fairness nur unterstreichen. Jeder weiß, was damit gemeint ist. Auch ich werde meine Beurteilung des eingangs erwähnten Duftes irgendwann verfassen; in dem Wissen, dass sie eben nur meine subjektiven Eindrücke enthält (und mit der entsprechend angemessenen Zurückhaltung). Aber in der Theorie, als Gedankenspiel, fand ich es interessant, der Frage nachzuspüren, wie fair wir eigentlich in unseren alltäglichen Urteilen sein können – und was wir als fair empfinden.
Wenn Du bis hierher durchgehalten hast: alle Achtung.
Danke fürs Lesen. Und viel Spaß dabei, neue Düfte zu erkunden! Selbst, wenn mal die Essenz des Bösen darunter ist. Total subjektiv betrachtet, versteht sich.