Chizza
Gedankenspiele
vor 2 Jahren - 17.12.2021
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Releasepolitik der nischigen Nische - kritische Gedanken

Als eine Art Poweruser wenn es um das Testen von Düften geht, nahm ein Gedanke immer mehr Form in meinem Kopf an und zwar Nischenmarken und deren Releasepolitik. Es wäre wohl zu einfach zu behaupten dass hier gerne mal zu viel herausgegeben wird und das unkommentiert stehen zu lassen. Dahinter können schließlich so wichtig wie banale Wünsche wie die komplette Lebensfinanzierung, Passion oder was auch immer stecken. Erst wollte ich auch Oudlabels wie Ensar herausnehmen denn es ist nachvollziehbar dass man Oud je nach Destillation unterscheidet und neuen Düften dann neue Namen gibt. Andererseits führt das dazu dass Sammler sich auch den besagten neuen Düften widmen. Nun ist ebenfalls festzuhalten dass Ensar beispielsweise in den letzten Wochen eine zweistellige Anzahl neue Düfte, nahezu alles Special Editions, auf den Markt gebracht hat. Das finde ich etwas viel. Nicht den Preis, 15ml für 1700 USD, da sind wir uns einig, da steht man für gewöhnlich ja nicht mal auf. Schnäppchen eben.

Nun wurden hier nicht nur neue Düfte aufgefahren, sondern vielmehr Kreationen, die im Prinzip auf alten Releases aufbauen und diese quasi optimieren. Das ist dann doch…bescheiden. Nichts gegen Optimierungen aber warum nicht optimieren unter demselben Namen? Wenn ich die Guidelines meiner Abteilung optimiere, dann geschieht dies auch nicht unter großem Wirbel.

Also was ist der Grund? Die Produktion kleiner Batches samt „once gone, forever gone“ um ständig neues aufzubieten? Nur so kurbeln sich Verkäufe an? Möglich. Kostengründe? Ebenso möglich. Jedenfalls liefern bei Ausverkauf nicht alle Marken neue Batches nach sondern veröffentlichen stattdessen neue Kreationen, ich deutete dies bereits an. Vielleicht um nicht nur Interessenten der alten Releases sondern auch die Besitzer der alten Veröffentlichungen anzusprechen? Möglich.

Okay, okay, genug draufgehauen, ich mag Ensar ja eigentlich aber Kritik muss erlaubt sein. Kommen wir zum eigentlichen Thema dieses Blogs: immer mehr Marken bringen immer mehr Düfte binnen immer kürzerer Zeit auf den Markt. Damit meine ich explizit nicht die Designhäuser mit Flanker 300 Millionen. Nein, ich meine die Nischen-Nischen-Szene. Beispiel Alkemia; Parfumo-Statista sagt: rund 70 neue Düfte alleine in 2020, also ungefähr alle fünf Tage ein Duft. Ich glaube es nicht wenn mir jetzt jemand sagt dass das ein Zeichen für wahnsinnige Kreativität ist. Das ist für mich eher so wie 20 Kilo Äpfel beim Bauern mit den Kindern pflücken und nun überlegen, was macht man denn so mit Äpfeln um am Ende wirklich nicht viel weiter zu kommen als einen Kuchen zu backen und die so zu essen. Bei gewissen Marken kann man Inhaltsstoffe erkennen, welche sich wie ein roter Faden durch den Katalog ziehen.

Man könnte zahlreiche Marken nennen und oftmals denke ich mir dann: die ersten Düfte waren gut, der Rest, naja, manchmal ist weniger mehr. Aktuell für mich am Beispiel Pineward zu sehen. Erst tolle Düfte, immer mehr nachgefragt, dann weitere Düfte, nun auch eher austauschbar.

Das mag ja auch alles gar nicht so von den Parfumeuren angedacht sein. Es sind Künstler, sie frönen ihrer Passion und da ist es vielleicht schnell mal so dass man Release um Release herausbringt, zumal man sich zu Anfang auch eine Basis schaffen muss. Calaj ist ein gutes Beispiel. Es wird fleißig veröffentlicht aber die Düfte unterscheiden sich teils erheblich, man spricht so auch mal andere Käufer an. Das ist schon was anderes als immer Wald oder Oud. Miguel Matos ist auch nicht knauserig was neue Düfte angeht aber auch hier haben wir eine wahnsinnige Spannbreite. Dagegen lässt sich nichts sagen.

Ein anderer Gedankengang ist aber dass dieses Thema hier auch irgendwie ein Ausdruck dieses Parfumzeitalters ist. Wir leben in einer Welt in der man vieles mit Hilfsmitteln erreichen kann, Informationen und Desinformationen sind im Übermaß vorhanden. So wie viele kleine Marken existieren, die sich das Handwerk selbst beigebracht haben, so ist es ebenfalls wahr dass e-Commerce und eine vernetzte, niemals ruhende Welt dazu führen dass es eben genügend Käufer der 70 neuen Alkemia-USA-Releases gibt, die dann überspitzt auch noch alle aus Bulgarien oder woher auch immer stammen. Ohne die heutigen Freizügigkeiten in dieser Hinsicht wäre das alles wohl kaum möglich. Apropos Zeitgeist: auch unsere hedonistische Wegwerfgesellschaft offenbart sich hier, auch so können viele neue Veröffentlichungen erklärbar sein. Regelmäßig massive Souk-Angebote mit „nur ein Sprüher entnommen, Blindbuy“ widerlegen das jetzt nicht.

Jetzt habe ich viel schwadroniert und wollte diesen Blog auch eigentlich löschen aber gestern bei unserer Weihnachtsfeier kam mir nach einer interessanten Konversation mit einem ehemaligen Kollegen dann doch die ein oder andere Idee, die mir vorher für diesen Blog fehlte. Was, wenn einfach Zeit fehlt? Damit meine ich nicht dass wir immer weniger Zeit haben obwohl wir immer mehr automatisieren und damit delegieren, ich meine Saugroboter, Fensterroboter, alle möglichen Lieferdienste et cetera.

Ich führe mal das gestrige Gespräch ins Feld, wir sprachen irgendwann über Kafka, kamen auf Sturm und Drang und ich meinte dass mich Wieland unfassbar langweilt obwohl er toll umschreiben kann. Klar, dann ging es zu Schiller und Goethes Faust, dem ersten Band. Band II ist ja im Prinzip ein einziges intellektuelles Geplänkel, da lese ich mehr Erläuterungen als alles andere. Im Prinzip gibt es kaum ein paar Zeilen in Faust I welche nicht mehrdeutig interpretiert werden können und das ist schlicht genial. Für mich viel besser als Schiller. Aber: Goethe hatte Zeit, hatte Bildung und hat das verweben können ohne irgendwann unter Druck zu geraten. Und das fehlt vielleicht. Vielleicht nicht bei den ersten Veröffentlichungen weswegen neue Labels da oft Großartiges leisten. Aber ab da ist dieser Zustand wohl für immer fort und es muss vorangehen und es darf auch irgendwie kein Scheitern mehr in dieser Gesellschaft geben, vielleicht führt das auch zu aufgewärmten Düften.

Genug von mir, ich habe viel erzählt, viel überlegt und ich freue mich über konträre Ansichten, Denkanstöße, Diskussionen.

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