Hofnärrin

Draussen liegt Schnee, genau der richtige Zeitpunkt, um vom Frühling zu träumen. Ist der Frühling erst einmal da, hab ich eh keine Musse mehr. Dann wecken Fliegen, Landwirtschaftsmaschinen und nordisch walkende Rentnerinnen in mir die Sehnsucht nach Winter. Also kommt her, ihr Maiglöckchen und mischt mein eingefrorenes Herz auf! Gestartet wird mit Diorissimo. Der erste Aufsprüher kommt zu 100% aus der Retorte. Diese Lily, schiesst mir durch den Kopf, hat ihr Leben lang kein Valley gesehen! Maiglöckchenduft kann nicht auf natürliche Art extrahiert werden, lasse ich mich gern von Parfumo belehren. Weniger gern lasse ich mir diese Tatsache unter die Nase reiben. Die Machart von Diorissimo erinnert mich an Escale à Portofino, ebenfalls von Dior. Ein gekonnter, aber etwas klinischer und klischeehafter Duft, den ich, vor allem wenn es heiss ist oder ich mir selber zu kompliziert werde, ganz gerne mag. Maiglöckchen und klinisch geht in meinen Augen aber gar nicht; Maiglöckchen müssen Erde an den Füssen haben und sollten weder ihre Giftigkeit noch ihre Verletzlichkeit mit stechender Frische zu überspielen suchen.
Mit der Zeit wird Diorissimo eine Spur weicher und die Haltbarkeit ist gut, was man von Un Matin au Jardin – Muguet en Fleurs von Yves Rocher absolut nicht behaupten kann. Schade, das viel günstigere Matin au Jardin ist nämlich, auch wenn himmelschreiend romantisch, irgendwie glaubhafter. Mein Favorit ist Penhaligon’s. Es beginnt stinkig, was mich an das abgestorbene Grün erinnert, welches unter dem Schnee zum Vorschein kommt und behält diese Stinkigkeit bei, während das Maiglöckchen wie ein Frühlingsfee daraus hervortritt und die Szene beherrscht, und zwar auch noch lange nachdem Diorissimo bereits wieder abgedankt hat...

Ich habe Shali während meiner Ferien in einem provenzalischen Touristen-Kaff gekauft, es regnete in Strömen, die Kinder waren quengelig und mir war langweilig. Ich schnupperte mich durch eine Reihe eher unspektakulärer Provence&Natur Düfte und blieb bei Shali hängen. Shali schien mir das pure Gegenteil meines damaligen Umfelds, nämlich warm, trocken, exotisch und preiswert, und was meinen quengelnden Nachwuchs anbetraf: unbeschreiblich süss.
Tatsächlich, davon überzeugte ich mich vor dem Zubettgehen, entwickelte sich Shali verlässlich in Richtung Stillleben zum Thema „orangenhaltige Bitterschokolade auf Crème Brulée vor unscheinbarem Blumenstrauss“. Für mich ein Grund, am nächsten Tag dem provenzalischen Kaff erneut meine Aufwartung zu machen und den Duft zu erwerben.
Ach herrje, brauch ich noch weiter zu schreiben? Zuhause war das Wetter gut, der Nachwuchs liebenswert, die Langeweile weg und Shali auf meiner Haut irgendwie peinlich.
Was fange ich bloss mit dir an? Sagte ich zu der schlanken Glasflasche mit ihrem billigen Plastikdeckel. „Du hast mir weiss Gott nichts zuleide getan, du verursachst weder unangenehme Nebengeräusche noch Kopfweh und machst auch keinen stinkenden Abgang, du bist was du bist und hast es schlicht nicht verdient, dass man dich schlecht behandelt.“ Aus lauter Verlegenheit ging ich mit ihr ins Bett. Und siehe da: Das funktionierte. Morgens ein Spritzer Shali auf mein Laken und ich schlafe nachts wie auf Pudding. Für lumpige 22 Euro und ohne mein Schlafzimmer umstellen zu müssen. Da können die Hersteller von Boxspringbetten allesamt einpacken!

Diese Einladung anzunehmen war ein Fehler. Ein perfektes Haus mit perfekten Bewohnern in Beige, auch die Einrichtung ist beige und vor allem: bar jedes Stilbruchs. Gesmalltalkt wird in Elfenbein und die Käsehäppchen sind Crème de la Crème. Irgendjemand hat sich an White Linen vergriffen, ich kann aber nicht herausfinden, wer. Die Fenster stehen offen und ein frisches Lüftchen zieht durch die Räume; ich bin zwar passend, aber zu leicht gekleidet. Oder ist mir wegen der zahnpastahaltigen Herzlichkeit so kalt? Ausserdem kneift dieses Miststück von eierschalenfarbenem Spitzen-BH, den ich mir extra für den Anlass zugelegt habe. Ein Königreich für einen meiner Schlabberpullis! Weit und breit nichts Böses in Sicht, und trotzdem oder gerade erst recht: Wie kann ich mich so schnell wie möglich vom Acker machen ohne meinen Gastgebern allzu sehr auf die Zehen zu treten?

Mein Bauch hat die Misere begriffen, noch bevor es meinem Kopf gelungen ist, die Fakten zu ordnen. Auf dem Gestell, wo jahrzehntelang die wohlbekannte bauchig-violette Flasche gethront hat, steht eine andere. Es tue ihm leid, beteuert das schmalbrüstige Verkäuferlein. Auf meine ängstliche Frage hin scheine ich in seinen Augen um zusätzliche zwanzig Jahre gealtert zu sein. Das ursprüngliche Poison, belehrt er mich, sei von wegen Political Correctness längst aus dem Verkauf genommen worden. Dior produziere jetzt neu neben Midnight- und Hypnotic– und wie sie alle hiessen auch Poison-Vegan und Poison-Halal, Kreationen, die bei den Kundinnen äusserst gut ankommen würden. Er beeilt sich, mit entsprechend besprühten Papierchen vor meiner Nase herum zu wedeln. Die neuen Poison-Substitute riechen genau wie sie klingen: Gut gemeint. Ich rase nach hause und halte meinen letzten Vorrat ans Fenster. Wie viel ist da noch drin? Zehn Milliliter vielleicht? Im Internet, stelle ich fest, sind die Preise ins Nirvana explodiert. Das darf doch nicht wahr sein. Poison begleitet mich nun schon seit fast dreissig Jahren. Als ich es zum ersten Mal aufsprühte, musste ich lachen, was mich aber keineswegs daran hinderte, es ernst zu nehmen. Poison verschmilzt mit meiner Haut. Es provoziert und besänftigt und es ist mir kein bisschen verleidet. Ich will es nicht ständig um mich haben, aber in Reichweite. Und zwar bis ich das Zeitliche segne.
Schweissgebadet wache ich auf. Ich muss mich so schnell wie möglich mit einer Notration eindecken. Auf dass dieser Albtraum nie, nie Wirklichkeit werde....

Sommer auf der Kippe. Ich streife durch den Wald. Der Boden ist weich, das Licht honigfarben. Beeren, überall Beeren! Bin ich in einem Märchen gelandet? Sind das Zauberbeeren? Werde ich mich in eine Prinzessin verwandeln, wenn ich davon nasche? Oder, was ich viel eher zu glauben bereit bin, in eine Katze oder ein Eichhörnchen? Ein Stück weiter vorne befindet sich ein trüber kleiner Teich. Höre ich Nymphen kichern? Ich muss öfters hierherkommen, der Ort ist so tröstlich. Und der Beerenduft etwas kurzlebig, aber geheimnisvoll und was ich sehr schätze: Verlässlich.