Boccanera 2014

MajorTom
08.11.2023 - 06:39 Uhr
6
8
Preis
8
Flakon
10
Sillage
10
Haltbarkeit
5
Duft

Nie ist die Nacht so dunkel wie kurz vor Tagesanbruch

Du kannst es im Leben nie allen recht machen. Das ist weder gut noch schlecht, das ist einfach so. Weil jeder von uns (zum Glück, sonst gäbe es nur eine Sorte Mensch, was für eine Vorstellung!) seine eigenen Präferenzen hat, seine eigenen Vorstellungen, seine eigenen Ziele.

Wie oft habe ich hier schon gelesen (und auch selbst geschrieben), dass ein Duft eine mäßige Haltbarkeit, noch häufiger aber eine eher schwach ausgeprägte Sillage aufweist. Wer nach einem echten Brüller in dieser Hinsicht sucht, well, boys and girls, here you go: BOCCANERA. Ein Duft, den du niemals vergessen wirst. Schon alleine deswegen, weil du ihn kaum mehr los wirst :-)) Genau das wird von manchem meiner Vorredner dem Duft auch vorgeworfen. Zu stark, zu lange haftend. Naja, wie oben gesagt, man kann es nie allen recht machen.

Aber back to square one. Die Probe, die ich erhalten habe, kommt in Form einer Blase daher, welche oben aufgebrochen werden muss, nett anzuschauen, aber in kleinster Weise darauf hindeutend, was sich in ihr verbirgt. Das Handling ist vorsichtig ausgedrückt semi-optimal, denn als ich die Sollbruchstelle der Blase nach hinten abknicke, ergießt sich schwallartig ein guter Teil des Inhalts auf meinen Schreibtisch und über meine Finger. Ich nehme ein Tempo, um die Sauerei wegzumachen und desinfiziere meine Hände mit der herumstehenden Antivirusflüssigkeit. Dennoch, der „Schaden“ ist angerichtet, denn nachdem (das wirklich klinisch scharf riechende) Desinfektionsmittel getrocknet ist, riechen meine Finger genau wie vorher. Das Tempo ist getränkt mit Boccanera und beginnt unbarmherzig mein Büro auszuduften. Ich verlasse mein Büro und wasche mir die Hände. Als ich zurückkomme, hat sich die Duftbombe schon Bahn gebrochen, mein Büro ist zu einzigem Dufttempel mutiert. Ich kann es kaum fassen und entsorge das vollgesogene Tempo in sicherer Entfernung. Wieder zurück im Büro hängt mir der Duft weiter in der Nase, aber wieso? Ich beschnüffle meine Finger und stelle fest, dass wohl ein zweiter und ggf. vielleicht sogar dritter Waschgang von Nöten wäre, um eine Entfernung sicherzustellen. Holy shit, das Zeug hat Wumms ohne Ende und eine Haltbarkeit, wie ich es noch nie erlebt habe. Also erst mal „kleben“ lassen, gespannt auf die weitere Entwicklung.

Was ist Boccanera für ein Duft? Meine erste Assoziation ging ein bisschen in Richtung Intoxicated von Kilian, der eine ähnliche Performance bietet, in Summe aber doch süßer um die Ecke biegt. Beiden gemein ist eine Dunkelheit, die ihresgleichen sucht.
Boccanera startet gewaltig, ich kann es nicht anders sagen, das Ding haut mich fast aus dem Stuhl. Ich habe das Gefühl, dass alles, was in diesen Duft reingepackt wurde, direkt im Auftakt förmlich wieder herausplatzt und mich unter einer Lawine begräbt. Ich vernehme Kaffee, Schokolade, Pfeffer, Zimt, Harz, Holz. Alles dunkel, seeeeeehr dunkel.

Nach einer halben Stunde ist die brachiale Gewalt des Anfangs etwas vorüber und ich weiß noch immer nicht, ob das Ding jetzt hammergeil oder einfach nur schlecht finden soll. Aber ich ertappe mich dabei, dass ich immer wieder an mir schnüffle. Ein bisschen verschämt, so als ob es verboten wäre. Aber alles, was verboten ist, ist ja gerade spannend. Der Kopf sagt nein, der Bauch will es aber wissen. Du kannst nicht mit, aber auch nicht ohne leben. Das Ding ist maskulin, animalisch, promiskuitiv. Auf der anderen Seite dreckig, abstoßend, irgendwie eklig. Eine ganz komische Kombi, very strange.

Stunden später hat sich am Gesamteindruck nichts geändert. Nach wie vor befinde ich mich in einer dunklen (Duft-)Wolke. Die deutlich besser geworden ist, als sie am Anfang war, die aber genauso performt wie zu Beginn, will sagen, jede und jeder, also einfach wirklich alle nehmen dich im Vorbeigehen wahr. Du spürst förmlich die Blicke, die dir folgen, die Leute sind irritiert ob dieses Duftes, wie ich selbst ja auch.

Es ist dunkel geworden. Und die Dunkelheit passt perfekt zum Duft. Als ich auf die Straße trete, kommt mir schon wieder ein Schwall in die Nase, es ist unglaublich. Zuhause rümpfen sich die Nasen am Tisch, die Kommentare sind wenig druckreif. In einem Video wäre vermutlich ein Dauerpiepton notwendig, um nicht jugendfreie Ausdrücke auszublenden. Das zum Thema soziale Akzeptanz. Wer sich Boccanera antut, sollte wissen, was er damit lostritt und sollte auch mit den Konsequenzen leben können. Ein crowd pleaser ist das DIng ganz sicher nicht.

Das liest sich speziell im letzten Absatz ziemlich negativ. Dennoch übt der Duft einen unglaublichen Reiz aus. Er ist ein Spalter, ein Polarisierer, ein Schwarz-Weiß-Maler ohne Schattierungen. Du liebst diesen Duft oder du hasst ihn, dazwischen ist nichts. Sillage und Haltbarkeit sind aus einem anderen Universum, einfach nur galaktisch. Nomen est Omen, Boccanera macht seinem Namen alle Ehre.

Mein Problem mit dem Duft: Ich weiß gar nicht, wann ich ihn tragen sollte. Im Büro? Im Leben nicht. In öffentlichen Verkehrsmitteln? Fucking hell, niemals. Beim Sport? Wenn du aus dem Gym geworfen werden willst, bitte. Bei der Shopping tour? Wäre deiner Frau/Freundin wohl eher peinlich. In Club/Bar? Da noch am ehesten, aber was machst du am nächsten Tag, dass Ding hält locker 12 Stunden!

Der Duft ist extrem, in alle Richtungen. Ich bewundere Parfümeur Gualtieri für seinen Mut, eine solche Granate zu erschaffen und damit zu zeigen, was in der Branche möglich ist - und belohne diesen Mut mit einem Extrapunkt. Ob man sich für Boccanera entscheidet oder nicht, ist eine Frage, die jeder für sich beantworten muss. Ich kennen niemanden, der diesen Duft trägt. Auffallen ist sichergestellt. Kommentare ebenfalls. Ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein und psychische Stabilität sind weitere Voraussetzungen für einen potenziellen Träger. Nichts für jedermann…
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