Le Rivage des Syrtes 2009

Undine
11.08.2013 - 12:27 Uhr
7.5
Flakon
5
Sillage
10
Haltbarkeit
10
Duft

Lockruf der Ferne oder: Seliges Vergessen

Nach Tagen auf See, unter südlicher Sonne, endlich Land in Sicht. Wie heißt das Eiland, vor dem wir ankern? Wer sind seine Bewohner? Am Strand, dem wir im kleinen Beiboot zurudern, haben sich Menschen versammelt. Sie sprechen zu uns; aber was sagen sie? Wir versuchen es in allen Sprachen, von denen wir ein paar Brocken beherrschen, doch mit Worten können wir einander nicht erreichen. Allgemeines Schulterzucken. Dann allgemeines Gelächter. Eine Frau tritt auf uns zu, braune Haut, dunkle Locken, blitzende schwarze Augen, und bietet uns Obst an. Wir danken mit Gesten, beißen mutig in die unbekannten, duftenden Früchte, Saft tropft uns aufs Kinn. Köstliches Aroma, das wir noch nie geschmeckt haben, belebt uns: etwas Süße, ein bisschen Säure, eine Prise Bitterkeit – erfrischender könnte die Mischung nicht sein.

Die Einheimischen dirigieren uns zu einem Weg. Bäume säumen ihn, an denen wir die Begrüßungsfrüchte entdecken. Und zugleich bizarre Blüten, fremdartig duftend – nicht süß, nicht betäubend, sondern mild, sanft, weich. Von ferne weht Rauch herüber, ein balsamischer Hauch. Die Inselbewohner haben uns gastfreundlich ihren Kreis geöffnet, wir sitzen auf dem Boden, im "Gespräch" mit Händen und Füßen. Längst ist die Mittagshitze gewichen, die Sonne sinkt, die Schatten werden länger und tiefer, doch angenehme Wärme bleibt. Leichter Wind bringt Abenddüfte mit, fremdartig auch sie – verlockend… Wir Reisenden schauen uns an, wir sind uns ohne Worte einig: Wir sind neugierig auf das Innere der Insel. Wir möchten es erkunden, erleben, erfahren, mit allen Sinnen. Wir möchten verweilen. Lange.

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Natürlich kann man sich diesem Duft auch anders nähern. Kann beispielsweise – mit Anstrengung – der Duftpyramide nachspüren. Aber wozu? In der Kopfnote führen Ananas, Galbanum und Orange kein Eigenleben: Patricia de Nicolaï hat die vertrauten Noten so vermischt und verwoben, dass daraus Neues, Unbekanntes entsteht. Auch in der Herznote sticht nichts Einzelnes heraus, selbst die sonst oft vorlaute Tuberose singt brav im (nie gehörten!) Blüten-Chor. Die Basis rundet, vollendet, steigert die Stimmung: Noch nie ist mir ein Parfum begegnet, das den Lockruf der Ferne, des Reisens so plastisch, so kraftvoll in Duft "übersetzt".

Wobei man hier ohne Reiseleitung unterwegs ist, ohne Rundum-sorglos-Garantie, ohne klimatisiertes Quartier. Ohne GPS, mit nur ungefähren Karten – diese Reise führt ins Unbekannte. Das bedeutet Mühsal, Risiken, Gefahren. Doch es bedeutet auch den Reiz des Abenteuers, das Glück des Entdeckens, den Reichtum des Neu-Erfahrens, die hellwache Lebendigkeit des "Zum ersten Mal". Alexander von Humboldt und Aimé Bonpland mögen so durch Südamerika gereist sein, Maria Sibylla Merian durch Surinam, Carl Peter Thunberg durch Südafrika und Japan.

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Der Name des Parfums ließ mir keine Ruhe. Was ist so Besonderes an der Syrtenküste? Die Geografie half mir nicht weiter; eine Fährte fand ich erst beim Blick in die Literatur. Nach jahrzehntelanger Forschungsarbeit haben Altphilologen und Archäologen es geschafft, den Stationen der homerischen Odyssee konkrete Orte zuzuordnen. Am Syrtenufer (beziehungsweise auf der nahen Insel Djerba), da sind die Forscher sicher, begegneten Odysseus und seine Gefährten den Lotophagen, einem freundlichen Volk, das die Fremden mit "Lotos"-Früchten bewirtete. Und kaum hatten die Gäste gegessen, lebten sie nur mehr im Hier und Jetzt, wollten bleiben und nicht zurück aufs Schiff; sie wussten nicht mehr, wer sie waren und was ihr Ziel war, seliges Vergessen umfing sie. "Seliges Vergessen", samt Risiken und Nebenwirkungen: Auch das ist "Le Rivage des Syrtes".

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"Le Rivage des Syrtes" ist zudem der Titel eines grandiosen Romans. Julien Gracq, ein berühmter Unbekannter der französischen Literatur, hat ihn 1951 geschrieben. (Ich hatte von dem Buch gehört, es aber nie gelesen; das habe ich nun um des Duftes willen nachgeholt – Parfumo bildet ;-)))…) Gracq schickt darin einen jungen Mann auf die Reise. Aldo, der Ich-Erzähler, gehört dem Staat Orsenna an, einer großen, aber bis zur Morbidität überalterten Zivilisation. Orsenna ist seit 300 Jahren verfeindet mit dem wilden, barbarischen Farghestan. Doch so lange Orsenna feste Regeln einhält und einer bestimmten Meereslinie an der Syrtenküste – sie bildet die Grenze – fernbleibt, bleibt der Krieg kalt. Das starre Regel-Korsett, das die gesamte Gesellschaft einzwängt, hat freilich einen hohen Preis: Das Leben in Orsenna lebt nicht. Aldo, auf der Suche nach Lebendigkeit, bricht das Tabu, überschreitet die Grenze und beschwört so einen "heißen" Krieg herauf. Was schließlich geschieht, deutet der Text nur an: Der Kampf bedeutet Orsennas Untergang – und zugleich die Rückkehr des Lebens.

Der Duft ist eine eigenwillige Hommage ans Buch. Er schickt einen auf die Reise, in helle, heitere Fernen; die düsteren, beklemmenden Momente, die der Text heraufbeschwört, kann man dabei allenfalls ahnen, als Kontrast und Kehrseite. Der Duft nimmt Partei: fürs Abenteuer, fürs Wagnis. Fürs Durchatmen. Für die Schönheit, die Lebendigkeit.

Aber ist das nicht ohnehin das, wofür Duft steht?
13 Antworten