Ich fühle mich der späten Stunde geschuldet dann doch bemüßigt meinen Senf zur Sache dazu zu geben:
- Neiddebatte:
Heiligt der Zweck die Mittel in jedem Fall? Gibt einem Erfolg immer recht? Ich denke nicht. Jeremy ist ein interessantes Phänomen aber am Ende des Tages auch "nur" ein influencer. Und als solcher hat er nun mal Erfolg bei den jungen und leichtgläubigen Menschen, so wie die ganze Zunft. Und ich denke es steht mir und anderen zu diese influencer-Kultur als ziemlich ekelhaft anzusehen. Und um darüber hinwegsehen zu können, dass er ein von der Industrie gesponsorter Werbemensch ist fehlt mir bei ihm einfach die Integrität, die Expertise und die Ehrlichkeit. Das ist kein Neid, das ist subjektive Kritik. Aber natürlich lässt sich damit jedes Argument gegen eine mit fragwürdigen Methoden mehr oder weniger erfolgreich gewordenen Person wegwischen. Es ist einfach ein billiges Totschlagargument. Erfolg, oder zumindest der Verdacht darauf, machen einen Menschen nicht erhaben über Kritik. Aber besonders die Leute, die mit grenzwertigen Methoden zu diesem gekommen sind, haben oft nicht die nötige Fähigkeit zur Selbstreflexion um ihre eigene Niederträchtigkeit zu erkennen oder tun eben alles um sich selbst darüber hinwegzutäuschen. Und da passt "Die sind doch alle nur neidisch!" super ins Konzept. Wenn ich für einen Erfolg ähnlich dessen von Jeremy das tun müsste, was Jeremy tut, würde ich diesen Erfolg nicht wollen. Von Neid also keine Spur.
- Online fame:
500.000 Subscriber ist glaube ich in Zeiten der adpocalypse zwar immer noch ein ganz nettes Zubrot, aber ohne Patreons/sponsored videos/paid content wird es auch da bei manchen haarig. Zumal für die Monetarisierung die individuellen views und die Verweildauer relevant sind und man daher theoretisch Milliarden subscriber haben kann ohne auch nur einen cent zu verdienen, weil keiner davon die Videos schaut. Es ist einfach nur ein toller virtueller Schwanzvergleich mit genau so wenig Auswirkungen auf das tatsächliche Einkommen, wie dieser auf den Erfolg bei Frauen. Eine gewisse Korrelation ist da, aber ein direkter Bezug nicht. Kann natürlich sein, dass Jeremy illegalerweise verschweigt, dass die Konzerne ihm Kohle für Reviews drücken. Machen einige kleinere YouTuber auch (kostenlose Produkte ohne ein Wort dazu - ziemlich verachtenswert). Aber da ich es nicht sicher weiss will ich da nicht weiter drauf eingehen, das wäre unfair.
- Jeremy als Person:
Auch für mich war Jeremy der Einstieg in die Parfümwelt über den Hinweis zu ihm von anderen influencern (dass ich weiss, wie der Hase läuft, bedeutet nicht, dass ich den Kram nicht schaue oder manchmal sogar gut finde). Und als solcher ist er ganz okay. Nur ist sein Format halt absoluter clickbait und auf schnellen Konsum getrimmt. MacDonalds verkauft Millionen Mahlzeiten am Tag. Sterneköche kochen eine Handvoll Mahlzeiten in der selben Zeit und sind oft ohne angeschlossenes Hotel schwer rentabel zu betreiben. Wir können aber glaube ich alle zustimmen, dass McDonalds nicht besonders toll ist. Reichweite und Umsatz machen einen noch lange nicht gut. Siehe Apple... Und Jeremy ist nun mal viel Image. Wer ihn aber länger schaut merkt bei gewisser Aufmerksamkeit, dass der Typ möglicherweise eine Meise hat. Übrigens traue ich schon mal keiner Person die konstant zu enge und generell zu kleine Anzüge trägt. Der Typ versucht krampfhaft nach Geld und Erfolg auszusehen. Nach dem Motto "fake it until you make it". Es fehlt ihm jedoch - mindestens bei seiner Kleidung - ein Auge fürs Detail und echte Ahnung. Aber vielleicht ist das ja auch nur, weil ich klein und dicklich bin und deshalb Stil und Ahnung entwickeln musste, während bei Jeremy auf Grund seiner überdurchschnittlichen Attraktivität so einiges verziehen wird.
- Kickstarter:
Ich stehe der ganzen Sache extrem skeptisch gegenüber. Im besten Fall wird ein Produkt erschaffen, dass eine Hand voll von Menschen sehr erfreut, das aber ansonsten an mangeldem Interesse der großen FIrmen und Kapitalgeber gescheitert wäre. Aber im Kern der Sache wird hier das Risiko einer Unternehmung komplett auf den Kunden umgewälzt, ohne dass dieser - wie bei Fremdkapital üblich - gute Zinsen für sein Risiko erwarten darf oder - wie bei Eigenkapital - Beteiligung am Erfolg der Unternehmung in Form von Dividende erhält. Es vereint also das volle Risiko (Produkt ist nicht wie angepriesen, Katze im Sack gekauft, Produkt wird nie fertig und Geld ist weg, etc.) ohne irgend einen der Vorteile. Als nur durch ein paar Semester BWL nebenher gestählter Langzeitstudent erscheint mir das zumindest so. Auch hier lasse ich das Argument, dass das funktioniert und etabliert ist nicht gelten. Auch hier wird im negativen Fall mit den Wünschen und Träumen der Menschen gespielt um das Risiko auf sie abzuwälzen bzw. Geld zu machen. Klar kann das auch ne gute Sache sein, wenn das Produkt stimmt und man sich des Risikos gewahr ist. Aber es ist nicht das gleiche, wie ein blind-buy bei einem bekannten Parfüm, weil da meist deutlich mehr Informationen vorhanden sind. Man kauft zwar immer noch die Katze im Sack, aber Rasse, Farbe und Gewicht sind bekannt, wenn auch nicht das exakte Tier. Und bei blind-buys ist auch fast jedem klar, dass das alles andere als vernünftig ist. Ab und an mal geht schon klar, andere Leute gehen ins Casino also warum nicht?
- Hater/fanboys:
Ich denke die irrationalen hater und die gehirngewaschenen fanboys erkennt man dann doch recht leicht. Nur sie selbst sind sich oft nicht ganz bewusst, dass sie in diese Kategorie fallen. Ein paar der Kommentare hier fallen unter diese, erstaunlicherweise oft mit der Projektion des hater/fanboytums auf andere. Es besteht ein Unterschied dazwischen die Möglichkeit in Betracht zu ziehen und zu erklären, warum man dies denkt und dem schlichten Vorwurf um ohne Argumente jemanden mundtot zu machen. Jeremy selbst löscht scheinbar negative Kommentare unter seinen Videos. Das ist für mich absolut unterste Schublade. Natürlich ist es okay oder sogar gewünscht Beleidigungen und fragwürdige Inhalte zu moderieren, aber das ist nicht das gleiche, wie Kritik. Und wer nicht Willens oder in der Lage ist sich damit auseinanderzusetzen ist für mich schon nicht gerade mit Integrität gesegnet, aber das kann auch an mangelnder Zeit liegen. Wenn man jedoch die Zeit hat diese zu löschen, dann zieht dieses Argument für mich nicht und man offenbart sich als armes Würstchen. Man kann es unkommentiert stehen lassen, wann man sich nicht die Zeit nehmen möchte, aber es aktiv zu entfernen, wenn es lediglich Kritik ist, ist einfach schwach.
- Kickstarter Reichtum:
Ich weiss nicht, ob ich da so die Ehrfurcht vor habe. Nicht mal 10.000 verkaufte Flakons? Das drückt die Produktionskosten doch noch nicht so arg. Mich interessiert nicht die komplette Summe, sondern was am Ende bei Jeremy hängen bleibt. Da ist natürlich die Frage, ob der Erfolg nicht so riesig ist, wie einige das herbeifantasieren oder ob er seine fanboys abzockt, was nicht gerade die feine Art wäre. Ich hoffe, dass er bescheiden aber lukrativ bleibt und er es schafft irgend wo in der gesunden Zone dazwischen zu landen. Der Mann hat einen Traum - ob der jetzt Weltfrieden, das eigene Parfüm oder doch nur maximale Bekanntheit und Reichtum ist sei mal dahingestellt - und er versucht ihn zu realisieren. Seine Methoden sind aus meiner Sicht nicht ganz astrein, aber auch nicht direkt niederträchtig und ich gönne ihm den Erfolg, für den er arbeitet und sich zum Affen macht.
- Starparfumeur Alberto Morillas:
Der ist schon ein ganz großer mit vielen Erfolgen und man weiss ja auch nie so ganz genau, wann es am Parfumeur lag oder nicht viel eher an den Einschränkungen - meist finanzieller Art - oder der Kreativdirektion bzw. den focus groups, die dann glaube ich selbst einen Titanen der Zunft in die Knie zwingen können. Aber da Jeremy jetzt nicht gerade der bewandertste ist - auch wenn er sein Näschen täglich mit reinen atherischen Ölen trainiert - könnte ihm Herr Morillas auch eine der Formulierungen die niemand sonst wollte gegeben haben
Ich meine es ist zwar nett einzelne Rebsorten herausschmecken zu können oder sogar das terroir aber das bedeutet nicht, dass man automatisch beurteilen kann, was ein guter Wein ist und noch weniger, was der Konsument am Ende wünscht.
- Büroduft:
Klar weckt das Assoziationen von Langeweile, Angepasstheit und Spießertum, aber ich gebe zu bedenken, dass auch einige sehr gute und/oder beliebte Düfte in diese Kategorie passen. Mir fallen spontan "Reflection Man" und beide "L'Homme" "L'Homme (Eau de Toilette)" ein.
Glückwunsch und Dank an jeden, der es durch den ganzen Kommentar geschafft hat