Siebter

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Siebter vor 10 Jahren 28 9
Milchreispuder [mit Video]
Ja, der Name, nicht so schön. Es gibt auf Parfumo einen Thread namens „Blöde Parfumnamen“, dort begegnete mir Furze zum ersten Mal, und obwohl mir Lush schon damals sehr sympathisch war, wünschte ich mir aufrichtig, es nicht zu mögen, denn niemals würde ich mir ein Parfum mit so einem Namen holen, und sei es noch so toll. Etwa anderthalb Jahre später testete ich es dann, neugierig gemacht von meiner Freundin, und ich musste mich schwer beherrschen, es nicht sofort vom Fleck weg zu kaufen (denn zu diesem Zeitpunkt wurde es bereits aus dem Programm genommen, ich hatte noch etwa eine Woche Zeit für eine Entscheidung). Der Name stand mir dabei nicht mehr im Weg. „Furze“ klingt wie der Plural von „fur“, also „Fell“, dachte ich mir schnell, und tatsächlich ist Furze, im Folgenden also „Furs“, ein wenig fellartig. Weich, anschmiegsam. Ein bisschen wild, aber niedlich.

Wenn man Furs aufträgt, legt man sich fest. Die Dosierung erfolgt tröpfchenweise. Der erste Tropfen auf meinem Handrücken ließ mich zunächst fragen, ob ich die Begeisterung meiner Freundin nachvollziehen könne – der Duft schien angenehm, grün, neblig, warm, gleichzeitig frisch. Nicht übel, aber hm. Ich stromerte noch ein wenig bei Lush herum und verließ das Geschäft schließlich. Auf dem Weg zur U-Bahn fragte ich mich bald, woher denn dieses ausnehmend schöne süßliche Aroma herkam, welches die ganze Luft um mich herum aufzufüllen schien – ich dachte zunächst an Crêpe oder Kartoffelpuffer mit Apfelmus, aber nirgends schien ein entsprechender Stand zu sein. Zwei Minuten dauerte es bestimmt, bis ich mich selbst als Quelle dingfest machte, was mir zunächst unglaublich erschien, denn entsprechend meiner Erfahrung mit den Parfums von Lush hatte ich tatsächlich nur einen Tropfen aus der Testerpipette auf meine Haut gegeben.

Lush spielt gerne mit Referenzen, das Thema dieses Dufts ist aber ein sehr einfaches und schnell abgehandelt: der Stechginster (Furze), ein in Großbritannien weit verbreiteter Strauch, strömt bei seiner Blüte einen sehr intensiven Duft aus, der stark an Kokosnuss und Vanille erinnert. Sowohl Vanille als auch Kokosnuss sind in Furs hoch dosiert, die Wolke, die Dich einige Minuten nach dem harmlosen Auftakt umgibt, ist süß, ausladend, milchig – wie Milchreis. Für die folgenden fünfzehn bis zwanzig Stunden wird dieser Milchreis Dir nicht von der Seite weichen, Dein T-Shirt wird er für Tage imprägnieren. Und wenn der letzte Hauch in der Waschmaschine ausgespült ist, wirst Du ein regelrechtes Verlangen nach ihm haben. So geht es mir zumindest.

Mittlerweile habe ich mich von einem auf vier bis fünf über den Tag verteilte Tropfen hochdosiert, denn ich mag es sehr, in diesem Milchreis zu versinken. Das Tolle ist, dass Furs zwar süß und überaus einnehmend ist, aber nicht schwer oder klebrig. Im Gegensatz zu echtem Milchreis ist Furs pudrig. Und das ist noch sehr diplomatisch ausgedrückt; bisweilen scheint es mir beim Tragen von Furs so, als würde ich mit jeder etwas energischeren Bewegung eine halbe Handvoll Milchreispuder in die Luft werfen. Diese vom Neroli herrührende Pudrigkeit verleiht dem Duft zum einen Wucht, zum anderen aber auch eine strahlende, trockene und luftige Textur. Das nimmt Dir die Angst vor dem Ertrinken, die sich angesichts der Dominanz von Furs bisweilen bei Dir einstellen mag.

Selten kann ich einen Duft in einem Wort beschreiben, „Milchreispuder“ umreißt aber tatsächlich bereits alle wesentlichen Merkmale von Furs. Sein Verlauf ist zudem recht linear, nach dem nichtsahnendem Auftakt pendelt der Duft langsam zwischen Milchreis und bittertrockenem Neroli. Nach etwa sechs Stunden, innerhalb derer er rein gar nichts von seiner Präsenz einbüßt, dunkelt er allmählich etwas nach, die Vanille driftet in Richtung Kakao, die insgesamt sanften floralen Anteile werden noch etwas bitterer. Durchbrochen wird die lineare Entwicklung von kurz aufblitzenden Akkorden: Pergamentpapier, Sonnenlotion, Popcorn.

In seinem Wesen ist Furs ein bisschen wie Le Mâle – ein wenig aufdringlich, aber mit einem sonnigen Gemüt. Es ist ein Duft, der Dein Belohnungszentrum mit Glücksbotenstoffen überschwemmt und gleichzeitig Dein Selbstbewusstsein herausfordert, denn alle um Dich herum werden merken, auf welchem Trip Du bist.
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Siebter vor 10 Jahren 50 13
Wie After Eight, nur ohne Schokolade, dafür mit Rauch, Wachs und Holz [mit Video]
Zuallererst: toller Name! Als ich ihn das erste Mal las, war ich von der sich schnell daraus ableitenden Idee, dass ein Duft auch etwas anderes sein kann als ein mehr oder weniger passender Begleiter, nämlich die Beschreibung einer detaillierten Szenerie, so richtig „What the fuck?“-beeindruckt. Es dauerte noch eine Weile, bis ich ihn erwarb und somit endlich mit meinen Erwartungen abgleichen konnte, trotzdem bedeutete der coole Name schon einen Wendepunkt für mich.

Lush spinnen einen recht dichten Kontext um ihre Düfte und bedienen sich dabei aus allerlei Quellen: Popkultur, alte Mythen, Politik, historische Bezüge, alles sehr liebevoll ausgestaltet und mit Geschichten verwoben, die sich sehr schön weiterspinnen lassen. Damit nutzen sie die sich im Umfeld solcher Marken wie Aesop, Korres oder Molton Brown bietenden Möglichkeiten jenseits der Designerparfümerie einerseits und der gehobenen Nischenparfümerie mit Kunstanspruch andererseits am konsequentesten aus. Parfum ist nur ein Standbein von vielen für Lush, vielleicht ist das aber der Grund, weshalb sich in deren Sortiment eine derartige Fülle an zweifellos experimentellen und herausfordernden Düften befindet, die man kaum einer anderen Marke zutrauen würde. Im Einzelfall mag „Herausforderung“ dann eine diplomatische Umschreibung für „total schlecht“ sein, Weather ist jedoch ein Duft, der zeigt, dass man in einem radikal ausgenutzten Freiraum etwas absolut Unvergleichliches schaffen kann. Weather ist zudem ein tolles Beispiel dafür, was man mit dem Kontext eines Parfums machen kann.

In diesem Fall ist der Kontext archaisch und elementar und somit jeden berührend. Weather vermag es tatsächlich, ein Klima um den Träger zu schaffen - die Luft wird kühler, als ob ein Sturm herannaht, der Dir ob des plötzlichen und unerwarteten Temperaturabfalls eine Gänsehaut unter Deinem T-Shirt verschafft. Eine so unmittelbar kühlende Wirkung auf der Haut kenne ich ansonsten nur von Salben wie Wick Vaporub oder Tiger Balm. Mit Letzterem teilt der sich locker über ein bis zwei Stunden hinziehende Auftakt die medizinische Anmutung, die ein wenig an Kampfer und Wintergrün erinnert. Im Gegensatz zu Tiger Balm steht hier aber eine sehr schwere und stürmische Minze im Zentrum, die viel wütender ist als das, was man sonst so als Minze kennt. Roh, konzentriert, angriffslustig und rauchend vor donnerndem Zorn.

Minze und Rauch sind in den ersten zwei Stunden so ziemlich die einzigen Protagonisten. Woher der zum Teil sehr raumgreifende Rauch eigentlich kommt, lässt sich aus der Notenpyramide nicht ableiten, ich vermute als Grundlage Vetiver oder eines seiner Derivate - ist aber auch ziemlich egal, dieser Rauch jedenfalls ist unglaublich komplex und nirgendwo sonst zu finden: er ist trocken, aber in derselben Art und Weise, wie Staub trocken ist, den ein Regenguss vom Kopfsteinpflaster oder einem Trampelpfad aufwirbelt, die ganze Luft um Dich herum anfüllend, ein wenig bitter und erdig. Toll ist, wie bestimmend Minze und Rauch hier wirken, wie überzeugend sie die Wucht von herannahenden Gewitterstürmen evozieren. Weather ist ein extrem konzentriertes und starkes Extrait, welches aber im Gegensatz zu vielen anderen Extraits nicht hautnah ist, sondern im Gegenteil rücksichtslos in die Umgebung abstrahlt. Wie ein Regen, der auf alles fällt und nichts auslässt.

Mit der Zeit erhöht sich die Zahl der eindeutig auszumachenden Protagonisten auf vier. Das Bienenwachs ist ziemlich vordergründig, wirkt aber nicht wächsern und unscharf, sondern grundiert Minze und Rauch mit einer luftigen und grummelnden Textur, welche die Stimmung unmittelbar vor den ersten Blitzeinschlägen heraufbeschwört und die von der Minze aufgebauten Spannung eine Oktave nach unten stimmt. Den entscheidenden Bruch erfährt Weather durch den splittrigen, trockenen und aufgeheizten Holzakkord, der zeitlupenartig über die nun tiefdunkelgrüne Minze rieselt. Zunächst vor allem rau und faserig wirkend, wird das Holz bald immer süßer und lässt Deine Haut glühen.

Meine Freundin empfindet Weather als Kuschelduft, eine Kategorisierung, der ich erstmal gar nicht folgen konnte. Für mich war dies immer ein stürmischer und wilder Duft voller Spannung und positiver Unruhe, kühl, mitreißend, so sehr, dass ich im Grunde gar nicht verstand, dass Weather tatsächlich einen sehr wuchtigen Umschwung darstellt. Es wird warm, weich, nicht unbedingt kuschelig im Sinne einer warmen Wolldecke, eher Geborgenheit vermittelnd wie die schützende Wohnung, in der Du mit einem Pfefferminztee in der Hand am Fenster stehst und auf die sturmumtoste Straße schaust. Die durch die Minze und den Rauch aufgebaute Spannung ist nach wie vor spürbar, die Perspektive ist jetzt aber eine ganz andere.

Weather ist also vor allem eine rücksichtslose Minze, staubiger Rauch, düsteres Bienenwachs und süßes Holz, in genau dieser Addition mit dem sich daraus ableitenden atmosphärischen Verlauf von Windböen, die das herannahende Gewitter ankündigen über die ersten dicken Regentropfen, die vor Dir auf dem Straßenpflaster zerplatzen bis hin zur gerade noch erreichten schützenden Wohnung, gerade als draußen die Welt richtig anfängt unterzugehen. Interessanterweise ist Weather für meine Freundin übrigens über den gesamten Verlauf ein Kuschelduft.

Die von mir dargestellte Entwicklung ist im Grunde eine Skizze. Weather offenbart innerhalb der etwa 20 Stunden nach dem Aufsprühen zahlreiche wunderbare Details, die durch den dichten Rauch schimmern; gemähtes Gras, Stein, Sand und Rost, sonnengewärmte Haut, ein T-Shirt, das vom Regen durchnässt an Deiner Haut klebt. Die Vorgabe, Weather würde einen Sturm rückwärts erzählen, sehe ich nicht absolut perfekt chronologisch umgesetzt, denn die bildhaften Eindrücke unterschiedlicher Wetterzustände blitzen zum Teil unverhofft an anderer Stelle wieder auf. Der Duft spielt mit Gegensätzen wie Trocken und Feucht, die zunehmende Dunkelheit erscheint sonnendurchflutet und warm, trockene und feuchte Erde mischt sich mit dem honigfarbenen Holz.

Weather handelt von den Momenten, in denen wir bemerken, dass sich etwas um uns herum wandelt.
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Siebter vor 10 Jahren 47 16
Steel Feather [mit Video]
2 war das erste Nischenparfum, welches ich kennenlernte, und zwar schon ein paar Jahre, bevor ich mich selbst diesem Genre annäherte. In bestimmten Berliner Subkulturen, z.B. den avantgardistischen Ausläufern des Kunsthauses Tacheles, aber auch im Berghain, begegnete mir dieser Duft oft und prägte sich mir bald ein, ohne dass ich erfuhr (oder mich dafür interessierte), was das eigentlich war. Schon eher interessierte ich mich für Leute, die so was trugen, und so wirkte 2 als bisweilen aufflackernder Indikator für einen bestimmten Typ Mensch: kulturell offen, hedonistisch, ein wenig weird, auf jeden Fall jung und großstädtisch. Das metallische und ein wenig unnahbare 2 untermalte diesen Typ perfekt. 2 ist vermutlich nicht nur in Berlin so populär, unzählige limited Editions und ein Herrenableger sind schon ziemlich ungewöhnlich für einen Nischenduft.

Sollte ich mal in die Verlegenheit kommen, jemanden zeigen zu müssen, dass Parfum Kunst ist, werde ich 2 heranziehen. Mit 2 erweiterte sich mein Anspruch an einen Duft um eine ganz entscheidende Dimension — zuvor ging es mir vor allem um Anziehung und Wohlgefühl, seit 2 weiß ich, dass Parfum einen Kontext und sogar eine abstrakte Message transportieren kann.

Metall und Orangenschale überfluten meine Haut in den ersten Minuten, der Auftakt ist sehr aldehydisch, frisch und etwas bitter, am Rande der Übersteuerung. Sehr bald wird 2 dichter, ruhiger und bestimmter, dabei seine metallische Komponente noch eher ausbauend. Dieser Part wirkt auf mich erhaben, wie eine filigrane Metallskulptur. Das mag etwas artifiziell klingen, wenn man aber im Bad steht und auf den Sprühkopf des chromblitzenden Flakons drückt, ist das alles andere als fremd, sondern vermittelt Reinheit, Frische und Klarheit. 2 ist Kunst, aber auch sehr funktional.

Der metallische und frische Vibe weitet sich sachte zu einem zitrisch-floralen Summen mit etwas Tinte aus. Die Vorgabe lieferte japanische Sumi-Tinte, welche aus Ruß, Sesamöl und Knochenleim besteht. Beim Ansetzen dieser Tinte mit Wasser und Reibstein werden die dem Sumi-Block zugesetzten Duftstoffe frei, dazu zählen Rose, Amber, Kampfer und Orchidee, was interessant ist, da 2 all diese Komponenten mehr oder weniger frei interpretiert.

Durch sanftes Addieren und Subtrahieren entwickelt sich 2 zu einem verchromten Amberduft. Ich empfinde den Verlauf absolut nicht als linear, aber er ist ausgedehnt und ohne jeden Bruch, Gegensätze wie Metall und Amber oder Magnolie und Tinte zudem ausgesprochen harmonisch vereint. Der Duft bleibt weiterhin hell und klar, der vanillebetonte Amber verleiht ihm dabei die Anmutung einer federleichten, luftdurchlässigen Wolldecke. Von dieser Phase geht eine wundervolle Ruhe aus, alles ist warm und clean. Wer versucht, diesen Duft auseinander zu nehmen, könnte glauben, bereits in der Basis angekommen zu sein. In der tatsächlichen Basis wird 2 zunächst zart aufgeraut und etwas grüner, mit der Zeit lassen sich Zeder und Patschuli recht deutlich ausmachen. Er gewinnt dadurch die Tiefe eines verregneten Tages in der Großstadt, alles erfassend und in sich geschlossen.

Gewürze rieche ich übrigens gar nicht, vielleicht ein klein wenig Zimt. 2 ist für mich sogar ein eher weiblicher Duft, was lange dafür gesorgt hat, dass ich ihn selten trug. Zudem dauerte es eine Weile, bis mir die konzeptionellen Aspekte dieses Dufts nicht mehr im Weg standen. Ich empfehle, 2 zwanglos und einfach so zu tragen, er ist nämlich eigentlich bedeutend tragbarer, als er zunächst anmutet. 2 ist High-End-Parfümerie, jeder Akkord stimmig, jeder Strich mit Bedacht gesetzt, Haltbarkeit und Projektion lassen wesentlich höherpreisige Parfums schamesrot werden, und dieser Duft ist so eigen, so originell — unfassbar, welche Gegensätze er nahtlos vereint, saubere Frische und sanfte Wärme, Dynamik und Erhabenheit, Vollkommenheit und Understatement. Aber 2 ist kein für sich stehendes Objekt, sein strahlendes Charisma überfordert nicht, und zwar umso weniger, je mehr man ihn einfach trägt statt ihn verstehen zu wollen. 2 ist mehr als Anziehung und Wohlgefühl, aber trotzdem auch genau das. Mittlerweile trage ich 2 oft, kein Wetter und kein Tag schließt ihn aus.
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Siebter vor 10 Jahren 25 7
Subsonic Wave [mit Video]
Artikel über rare Düfte, die schon lange den Handel verlassen haben, sind so eine Sache. Für wen schreibe ich sie eigentlich? Gerade im Falle von Helmut Langs Eau de Cologne möchte ich eigentlich ohnehin niemanden dazu anregen, ihn auszuprobieren oder gar zu erwerben, würde dies doch meine Chancen verringern, irgendwann einen Flakon davon nachzukaufen. Allerdings bin ich zuversichtlich, dass die wenigen Leser, die sich aufgrund dieser Zeilen dazu angeregt fühlen, bei eBay danach zu stöbern, ohnehin schnell abgeschreckt werden. Aber schreiben muss ich über ihn schon. Ich selbst hatte ausgesprochenes Glück, denn ich bekam ihn geschenkt. Es ist der einzige Duft, den ich nicht selbst auswählte.

Was ist eigentlich ein „skinscent“? Zum einen werden oft solche Düfte so bezeichnet, die eine geringe Abstrahlung haben, also hautnah bleiben. Gelegentlich verwendet man diesen Begriff aber auch, um Parfums zu beschreiben, die typische Hautgerüche unserer Zeit nachahmen; der Duft eines frischgebügelten Hemdes, von geduschter Haut, von Sonnencreme oder Seife. Diese Düfte sind subtil und verzichten auf den Anspruch, unbedingt als Parfum wahrgenommen zu werden. Folgt man Maurice Roucel, dem Parfümeur hinter HLC, geht dieser Duft noch einen kleinen Schritt weiter. „Er (Helmut Lang) wollte den Geruch seines Freundes auf einem sauberen Bettlaken“, sagt Roucel in einem Interview, im Original: „He wanted the juice to smell of his boyfriend’s secretions on clean sheets“.

Das erinnert vielleicht ein wenig an das Konzept von Sécrétions Magnifiques von Etat Libre d'Orange (interessanterweise liest man auch, dass der Hersteller Procter & Gamble Lang bei der Entwicklung von HLC von dieser Duftkomposition abgeraten hätte), allerdings war die ästhetische Ausrichtung der Marke Helmut Lang doch eine andere als die von ELdO. Den puristischen Ansatz seiner Mode setzt HLC bereits beim Aufsprühen souverän um: der Auftakt ist frisch, herb, dabei ruhig und, wenn es das gäbe, betont understated. Extrem schlicht. Würde ich die Noten der Pyramide anführen, lehnte ich mich damit ziemlich weit aus dem Fenster, für mich duftet es zunächst mal vor allem nach trockener Lederseife. Oder Seifenleder. Sehr dunkles, glattes Leder und crispe, klassische Seife, durchaus edgy, zumindest mit keinem Duft, den ich kenne, auch nur annähernd vergleichbar. Simpel ist dieser Duft keineswegs, aber sehr einfach zu erfassen. HLC verzichtet im Gegensatz zu den meisten Colognes auf spitze Zitrusnoten und ist dadurch von Beginn an warm und ernst.

Eine Herzphase hat dieser Duft nicht, nach etwa zwanzig Minuten setzt ein langsames, aber unaufhaltsames Morphing in die Basis ein. Es wird leiser. Im Zentrum des weiteren Verlaufs steht Heliotrop, eine etwas herbe florale Note, die sehr an Vanille und Mandeln erinnert. Über dieses Zentrum legt sich ein zartes Blütenmuster, so zart, als hätte man es nur kurz aus dem Augenwinkel erfasst, bevor es schon wieder verschwunden ist. Spätestens jetzt wird kaum noch jemand an ein Parfum denken, wenn er diesen Duft wahrnimmt, eher an eine gute Bodylotion, ein wohlduftendes Haarwachs oder einfach: „Dieser Mann riecht wirklich gut“.

Sekrete irgendwelcher Boyfriends entdecke ich in HLC nicht, dafür ist er viel zu clean. Jedoch nicht aseptisch oder cool, sondern sehr menschlich. Zurückhaltend, ruhig. Nicht minimalistisch, eindimensional oder abweisend, sondern puristisch. Zudem ausgesprochen maskulin. Dabei lebt der Duft von der Nähe zur Haut und auch von seiner Wärme; würde man ihn noch in drei Metern Entfernung wahrnehmen, erschiene die von ihm vermittelte Intimität sicherlich verwirrend. Die zurückhaltende Projektion entspricht den Erwartungen an ein Eau de Cologne, die Haltbarkeit jedoch übertrifft die vieler Eau de Parfums. HLC hält seine mit der Haut verschmelzenden Aura aus mandeliger Moschusheliovanille mit Lotionvibe und ein bisschen Sandelholz mit bemerkenswerter Ausdauer aufrecht. Dem widersprechende Erfahrungen führe ich auf Testläufe mit Restmengen aus Miniphiolen zurück – wie schon angedeutet, dieser Duft ist selten geworden. Ist man jedoch in der Lage, ihn einem Cologne entsprechend zu dosieren, kann man sich für wenigstens zwölf Stunden auf ihn verlassen.

Nimmt man eBay-Preise zum Maßstab, ist dies mein wohl teuerster Duft. Normalerweise lehne ich auf Hypes basierende Preise ab; ich werde mir vermutlich keinen einzigen meiner d/c-Düfte nachkaufen, denn bis sie leer sind, sind die Preise vollends durch die Decke gegangen. Der Preis der wenigen noch erhältlichen Flakons von Helmut Langs Eau de Cologne basiert allerdings nicht auf Hypes, sondern zum einen darauf, dass er rund zehn Jahre nach seiner Einstellung kaum noch zu finden ist, zum anderen auf seiner Qualität. Wer ihn kennt, weiß, dass er diesen Preis wert ist, denn dies ist ein ungewöhnlich detailliertes und warmes Cologne mit einer fantastischen Haltbarkeit. Es gibt eine Handvoll Parfums, die ich gerade mal so in Bezug zu ihm setzen könnte, aber in meiner Welt steht er eigentlich ganz für sich, unvergleichbar. Und so special er ist, lässt er sich doch zu wirklich jeder Gelegenheit tragen. Perfektion. Preis spielt keine Rolle.
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Siebter vor 10 Jahren 30 11
Nanotrees harvest the sun's energy to turn water into hydrogen fuel
Obwohl ich viel Zeit mit Büchern verbracht habe, fiel mir die geruchliche Komponente dieser intensiven Beschäftigung erst auf, als ich mich schon einige Zeit mit Parfum auseinandersetzte. Ich gelangte an eine Abfüllung von Diors Bois d'Argent, welches mich sofort und völlig unvermutet an den Geruch vergilbter Bücher erinnerte, die bei ihrem Zerfallsprozess oft eigentümlich süß, modrig und gleichzeitig trocken riechen können. Dieser Duft der allmählichen Zersetzung begleitete mich viele Jahre, in Büchereien wie in Antiquariaten, und obwohl ich ihn damals kaum bewusst wahrnahm, finde ich ihn heute sehr angenehm, denn dies war der subtile Hintergrund für vielerlei literarisches Erleben.

Meine Papierassoziationen zu Bois d'Argent mögen vom Parfumeur beabsichtigt gewesen sein oder nicht, in erster Linie ist das ein hochwertiger Irisduft mit gefälliger Amberbasis und vor allem ein typisches Parfum. Typisch an Parfums ist schon immer, dass sie im Grunde äußerst abstrakt sind. Erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit bietet sich dem Parfumeur die Möglichkeit, Dufteindrücke aus unserem modernen Alltag abzubilden, was zu der bemerkenswerten Situation führt, dass authentische und photorealistische Düfte im Grunde Avantgarde sind. Paper Passion ist photorealistisch, er bildet genau das ab, was er vorgibt: Papier.

Dieses Papier ist anders als der süßliche Moder aus dem Antiquariat. Paper Passion ist rauh und trocken. Ein tintenartiger Akkord begleitet den Auftakt, lässt das Papier aber unbefleckt. Mich erinnert das weniger an Bücher, sondern vor allem an unbenutztes Zeichenpapier. Dieser Duft ist wirklich schnell umrissen: Staubtrockenes, cleanes, raues Papier, dicke Stapel davon. Hinzufügen möchte ich noch, dass Paper Passion ausgesprochen hell und frisch, bisweilen sogar herb ist. Die Tinte hält sich nur wenige Minuten, ansonsten wird Paper Passion mit der Zeit ganz sachte etwas floraler und weicher. Viel mehr passiert nicht, eine Notenpyramide wäre sicherlich entbehrlich gewesen.

Avantgardistische Parfums werden einerseits oft dafür gelobt, dass sie Grenzen ausweiten, andererseits werfen sie schnell die Frage auf, wer denn so was eigentlich tragen soll. Schon vor zehn Jahren loteten Comme des Garçons mit ihrer Synthetics-Reihe die Grenze zwischen Tragbarkeit und Untragbarkeit aus und stellten sie damit nachhaltig in Frage, dadurch entstand ein Freiraum, den Paper Passion ausnutzt. Gäbe es diesen Freiraum nicht, bliebe dieser Duft ein Konzept in irgendeiner Schublade.

Interessanterweise bezeichnet Geza Schön diesen Duft in einem Interview als "nicht mal mehr als ein konzeptionelles Design-piece", nicht dazu gedacht, täglich getragen zu werden. Dies klingt beinahe abfällig und lässt mich etwas ratlos zurück, denn ich empfinde PP nicht nur als schönen und interessanten, sondern auch als ausgesprochen funktionalen Duft. "Es ist ein Missverständnis, das anscheinend automatisch aufkommt, wenn etwas in Flakons mit einem Sprüher verkauft wird. Dann denken alle sofort: Oh! Das ist Parfum!" sagt Schön anderswo. Ich würde ihn gerne mal fragen, was man denn sonst denken soll. PP jedenfalls ist ein wunderbar lang anhaltender Duft mit einer schleierartigen Aura, der trotz seiner unangefochten synthetischen Natur niemals anstrengend wird. Trägt man PP und einen Schal, ist der Schal für viele Tage angenehm elegant beduftet. PP ist sehr frisch, ohne dafür ausgelutschte Konzepte zu verwenden, sein origineller Ansatz wird überraschend gut verstanden, in meinem Umfeld provozierte er bislang ausschließlich positive Reaktionen.

Der konzeptionelle Charakter von PP ist ziemlich vordergründig, in diesem Falle ließ der bedeutungsschwangere Kontext den Parfumeur selbst vielleicht etwas voreingenommen werden. Tatsächlich geht ein allzu verkopfter Kontext oft zu Lasten der Alltagstauglichkeit eines Duftes, ich sehe mich aber fast genötigt, Herrn Schön zu erklären, dass seine Kreation wirklich ganz hervorragend ist und sich sogar sehr einfach tragen lässt. Hätte ich einen ganzen Flakon davon, stünde er in einer Reihe mit Immergehern wie Infusion d'Homme oder Rush. PP passt zu einem großstädtischen Tag mit viel Hektik, denn er ist modern, kultiviert und dabei entspannt. Seine Natur ist antieskapistisch, er vermittelt mir die Stimmung von konzentrierter Hinwendung, kultureller Offenheit. Wer holzige und dabei frische Düfte mag, wird diese Erwartungen auf interessante Weise bedient sehen.

Ich will nicht behaupten, dass PP der missverstandene Knaller für jedermann ist, er ist schon recht speziell (das sind allerdings viele gute Düfte). Für mich ist er ein gutes Beispiel dafür, wie der um ein Parfum geschaffene Kontext das Erleben eines Duftes beeinflusst, angesichts der Äußerungen Herrns Schöns würde ich sogar von einer Mahnung sprechen.

Als ich PP mal einem anderen Parfumeur zeigte, assoziierte er mit dem Duft übrigens spontan die falsche Mimose, nicht Papier.
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