Axiomatic

Axiomatic

Rezensionen
Filtern & sortieren
96 - 100 von 102
Axiomatic vor 2 Jahren 28 22
6
Flakon
5
Sillage
6
Haltbarkeit
8
Duft
Seemannsgarn 2.0
Obacht, drei Groschen Eintritt bitte!

Und ein Schiff mit acht Segeln
Und mit fünfzig Kanonen
Wird liegen am Kai.

Ja, das hier ist der Duft der Seeräuber Jenny & Querelle und allen sympathisch obskuren Landratten noch dazu.
Bitte, sollten hier moralisch bedingte Phobiereflexe und Standesdünkel Ekzeme und Pusteln auslösen, rate ich vor der weiteren Lektüre ab. Notfalls kann ja die Heilsarmee erbauende Lieder für die gepeinigte Seele spielen. Und ein Münchener Edelkaufhaus kann sicher mit teurem Balsam aufwarten. Das hier ist eine andere Geschichte, eine stolze und mit dem Herz am rechten Fleck. Den Mutigen wünsche ich viel Spaß beim Lesen.

Manchmal spielt das Schicksal einem etwas Glück zu. Unverhofft und trostlos im modrigen Strandgut wühlend, stach plötzlich eine rubinrote Buddel hervor. Trapezförmig und mit einem aparten Deckel in Goldoptik, ersparte der Fund unserem Erzähler den mühsamen Gang zum Kaugummiautomaten mit den ewigen Nieten.
Er ahnte schon, das sollte sein Glückstag werden!

Rasch verzog er sich in seine feucht dunkle Höhle von Pension unweit des Hafens, um den Inhalt dieser Wunderlampe zu kosten.
Wie sollte er den wertvollen Saft gebührend huldigen mit seinen kargen Mitteln?
Wasser und Seife waren zum Glück noch vorhanden, der Schwamm durfte die letzten üblen Reste der gestrigen Rauferei abschrubben.
Noch eine flotte Rasur und eine wiederhergestellte Menschlichkeit vor dem Spiegel und ab ins Abenteuer!
Und hier seine Schilderung.

„Beim Krabbenbrötchen meines Seewolfs, der erste Spritzer schmeißt mich in längst vergangene Zeiten zurück!“
Eine Träne kullerte langsam seine raue Wange runter.
Bergamotte erfrischte wie damals, als er noch ohne großem Gezeter das Sagen im Flunderstübchen hatte. Damals hatte der Laden noch Klasse, hier konnte man tanzen, trinken und lieb haben, alles hatte seine Ordnung!
Beim weiteren Schnuppern am Handgelenk machte er Lavendel, Vetiver und weitere Gewürze aus.
„Also, ich möchte nicht rot anlaufen, aber hoffentlich schreibe ich es richtig, ich habe es nicht so mit fremden Sprachen.
Wie war das mit dem Farn und Zypern? Ihr wißt schon, diese Richtungen in Männerdüften, die mal irgendwie grün und mal irgendwie würzig seifig riechen.
Der Duft hier ist der Knaller, er ist irgendwie beides!
Ja, so eine Art Meeresjungmann, halb Wald, halb Seife.
Hee, wer lacht da in den billigen Plätzen?
Sehr witzig, kannste nicht essen, kannste nicht lieb haben…
Paß bloß auf Du, ich habe mir Deine Visage gemerkt. Wir sprechen uns noch!“

Pardon, gleich geht es weiter.

„Also, ich sag’s mal so. Früher, da kannte ich solche Düfte, so geile Mackerplörren. Die hatten noch Schmackes. Und die Namen waren irgendwie kulturell, "Jazz (1988) (Eau de Toilette) | Yves Saint Laurent" und "Xeryus (Eau de Toilette) | Givenchy" und so.
Der rote Duft hier ist irgendwie verwandt mit denen, aber etwas ist anders, der ist nicht so ledrig und wuchtig. Da kommt so ne Johannisbeere oder sowas mit rein. So leicht säuerlich.
Als ich gestern dem Zackenbarsch von Ole eine verpaßte, roch es so. Ja, wie blutig und so.
Na ja, ich will ja nicht meckern, das Wässerchen hier hat es in sich. Da kommen noch so erdige und holzige Noten dazu.
Wirkt richtig edel, so stelle ich mir ganz schön teure Läden in Paris vor. Ach, die Stadt der Zwiebelsuppe…
Tschuldigung, ich träume schon wieder.“

Der Duft hält ihn ganz schön auf Trapp, wird nie langweilig. Mal leicht säuerlich und lavendel-bläulich, mal warm holzig.
„Seifig, ja genau, seifig ist er!“
Und dann kommt was ganz Neues an Riechstoff raus, etwas Chemisches.

„Ja, wie soll ich sagen, so frisch holzig. Deswegen haben Zackenbarsch Ole und ich uns gekappelt. Ja, der steht so auf moderne Unterhosen-Fäller!“
Liebe Leser, nehmen sie bitte Rücksicht, unser Erzähler hat es nicht so mit Anglismen.
„Wie soll ich sagen, früher hat man Bäume gefällt, ganz einfach. Danach hat man sich frisch gemacht und, na ja, die halben Einnahmen für Essen und Tanzen ausgegeben, um sich lieb zu haben.
Ja und heute?
Der Ole, der Luschi, sprüht sich so ne chemische Keule und schwups, die Unterhosen fremder Menschen fallen zu Boden!
Habe mir sagen lassen, dass es so ein Stoff ist, so ähnlich wie die Kotze eines Wales. Ganz genau, Wal-Kotze in frisch, holzig und süß. Soll sich Ambra irgendwas nennen, Ambraxa denke ich. Klingt nach Metaxa.“

Plötzlich plagen ihn Gewissensbisse und ein Verlangen nach Versöhnung übermannt ihn.
Vielleicht klappt es ja heute Abend wieder wie in alten Zeiten. Er muß es einfach versuchen!
Zum Glück haben die Motten seinen Kaban in Ruhe gelassen, die raue Tuch-Hose paßt noch.
„Ach, soll ich mal den einen goldenen Ohrring tragen, so ganz auf Pirat?“

Eines muß hier klargestellt werden, ewig hält das rote Segeltuch von Duft nicht. Nachsprühen, ja, Nachsprühen sollte man schon. Und das tut der Erzähler, bevor er sich in Richtung Kneipe aufmacht.

Nervös läutet er dreimal an der Klingel vom Flunderstübchen. Qualvolles Warten bis der Spion sich öffnet und schließt. Ein Passwort muß heute Abend nicht wiederholt werden, er wird als Stammgast erkannt und reingelassen.
Oh je, wie in alten Zeiten, jetzt drehen sich alle um. Schnell seinen Platz in der dunklen Ecke ansteuern.

Und da wartet auch schon der Ole mit einer nicht zu übersehenden Schramme an der Wange.
Böses Anstarren, dann neugieriges Beschnuppern, schließlich ein Gespräch.
Der Duft scheint beide zu versöhnen, ihre Welten werden vereint. Gutes aus der alten, Modisches aus der neuen.
Sie gönnen sich eine ganze Flasche Metaxa wie in alten Zeiten.
Und dann heulen sie sich die Seelen aus den Lungen.
Sie schaffen es, mit dem gesamten Flunderstübchen vereint, die Sehnsucht nach Piräus anzustimmen.

„Ein Schiff wird kommen und meinen Traum erfüllen
Und meine Sehnsucht stillen, die Sehnsucht mancher Nacht“

Tja, wer sagt es denn, manchmal spült das Meer wahre Schätze an.

22 Antworten
Axiomatic vor 2 Jahren 21 15
8
Flakon
7
Sillage
8
Haltbarkeit
9
Duft
Am Pool von Lanvin
Lanvin geht dieses Mal nicht durch Lavendelfelder, um eine sommerliche Erfrischung zu kredenzen. Eine ungewohnte Richtung schafft dennoch eine sehr französische Empfehlung für einen angenehm maliziösen Sommer.
Zur weiteren Besprechung des Duftes erwarte ich Sie am Pool zu einem Petit Rien und Suze auf Eis.
Ich lasse schonmal von Niagara „Pendant que les champs brûlent“ laufen - leider brennen die Felder in diesem trockenen Sommer in Frankreich.
Aber hoffen wir doch auf baldigen Regen!
Und nun auf zum Dufterlebnis!

Mme Constant scheint Lavendel fast zur Gänze aus ihren Schöpfungen verbannt zu haben, was sie natürlich unglaublich interessant macht. Gerade eines der wichtigsten Elemente in der Parfümkunst ins Exil zu treiben, bedarf schon des Mutes und Könnens.
Und hier beweist sie es für ein Haus, das sonst eher traditionell in der Herrensparte ausgerichtet ist.

Der Flakon ist gewohnt schlicht und elegant und wird von einem metallisch industriell wirkenden Deckel mit drei markanten, zackigen Streifen abgeschlossen. Ich vermisse leider die Insignien des Hauses, aber der lange Schriftzug des Duftnamens ließ wohl keinen weiteren Platz übrig. Den platzierte man sehr verhalten im unteren Bereich der durchsichtigen Acryl-Box, welche den Flakon wie ein Ausstellungsstück beschützt.
Also deutet alles auf eine ungewöhnliche Kreation hin: der Kontrast von Flakon und Deckel, das Verbergen von Lanvin, das komplette Fehlen von Lavendel. Lediglich die Farbe der Flüssigkeit ist mir vertraut, nur dieses Mal etwas heller.

Die Eröffnung des Duftes gleicht dem Sturm auf die Bastille und passt perfekt zum hochsommerlichen Juli. Eine Explosion aus Agrumen fegt alle Umgebungsgerüche weg.
Eine äußerst rebellische Mandarine ruft zum Umsturz auf. Süßlich kommt sie daher, man riecht das halbnackte Fruchtfleisch.
Diese Marianne gibt ihr Bestes gegen die konservativen Palastgarden, doch alleine wird sie es wohl nicht schaffen.
Noch ein kleines Scharmützel im Riechorgan und dann ab zur Attacke!

Verstärkung holt sie sich vom Veilchenblatt der Herznote. Dieses kommt auch prompt mit Hellebarde bewaffnet und macht kurzen Prozess mit den königlichen Riechgewohnheiten.
„Aux armes, citoyens,
Formez vos batallions,
Marchons, marchons!
Qu’une lavande impure
Abreuve nos sillons!“

Ja, so schnell ist auch eine gemächliche Lavendel-Ordnung im Hirn umgestürzt worden, ehe man sich versah.
Und die neuen jakobinischen Machthabern haben schon einen korsischen Rosmarin zum Primus inter Pares ausgerufen.
Herrje, wenn das nur gut geht!

Der kleine Korse betört das aufgebrachte Volk zunächst gewohnt grünlich und leicht würzig und reicht - dem einer Revolution geschuldeten Gütermangel folgend - knauserig etwas hedionischen Jasmin zum Besänftigen. Dennoch steht ein Regiment bewaffneter Veilchenblätter zur Ordnung mahnend stets zur Seite. Eine sonderbar grün-bläuliche Frische kühlt die Gemüter, schafft den vorläufig fragilen Frieden, um die neue Ordnung zu etablieren.
Das Volk ist entzückt, eine neue Eleganz inmitten des Sommers zieht es magisch an, alle Zweifel werden fallen gelassen.
Der Rat der Weisen empfiehlt dem Bürger Rosmarin hypnotisierende Klänge fürs Volk spielen zu lassen, Brot und Spiele hätten sich seit Ewigkeiten bestens zur Festigung neuer Verhältnisse bewährt.
„La piscine“ von Hypnolove aus dem Jahr 2016 erledigt im Handumdrehen den feierlichen Rahmen im neuen Staat. Alle tanzen ausgelassen zu den kühlen Klängen und begreifen den hinterhältigen Text nicht.
Alles riecht so neu und frisch hier. Wen wundert es, mit weißem Moschus getränkten Standarten schmücken die neuen Prachtstrassen. Hier und da werden verblaßte Portraits der heldenhaften Mandarine-Marianne aufgestellt.

Und so könnte auch das Märchen einer vollendeten Revolution enden, würde der kleine Korse nicht langsam aber sicher imperiale Gelüste verspüren und alle Macht an sich reißen!

Denn längst haben dunkle Mächte das glückstrunkene Volk infiltriert. Letzteres tanzt immer noch vergnügt und merkt nicht, dass die bürgerliche Veilchenblatt-Garde von zwielichtigen Ambroxan-Hölzern unterwandert wurde.
2015 wird als Schicksalsjahr in den Parfümannalen gehen, die Ambroxan-Unterwanderung ist geglückt. Widerstand zwecklos!

Dennoch schaffen aufrechte Komponenten hier den Ambroxan-Einfluß zu mildern und überreichen dem korsischen Rosmarin die Kaiserkrone.
Und von da an schmückt ein von Ambroxan-Kränzen geschmücktes „R“ alle Prachtbauten, offizielle Dokumente werden damit besiegelt.
Der elegant synthetische Glanz wird seinen Siegeszug eintreten.
Bis vielleicht eine neue Generation wieder zur Revolution ausruft, wie so oft jenseits des Rheins.

Ich hoffe, dass der Suze auf Eis Ihnen nicht in den Kopf gestiegen ist.
Sollen wir eine Runde schwimmen?
Auf, knallen wir ins Wasser!
15 Antworten
Axiomatic vor 2 Jahren 42 28
10
Flakon
8
Sillage
9
Haltbarkeit
9
Duft
Hanseatische Seifenblasen
Weiß. Gerade Linien. Schwarzer Schriftzug. Gewagte Definition exklusiver Pflege. Lächeln, nicht lachen. Scheinbare Emotionslosigkeit. Tiefe Erfahrung des Selbst. Prinzipien des Bauhauses in der Duftkomposition. Form folgt der Funktion. Licht und Schatten.

1981.
Bei der Berliner Funkausstellung wird die Audio CD vorgestellt.
„Fade to Grey“ von Visage hat eine neue Kälte in der Popmusik eingeleitet.
Auf den Laufstegen haben Schulterpolster, Y-Schnitt und gerade Linien endgültig mit der vorherigen Dekade gebrochen.
Eine merkwürdige Krankheit tritt in Erscheinung.
Aus Hamburg werden markante Modesignale in die Welt gesendet.

Duft.
Legen Sie von Vladimir Cosma das Stück „Gorodish“ aus dem Film Diva von 1981 ein.
Bereiten Sie Ihre Sinne vor.
Öffnen Sie Kappe und führen Sie die Flakon-Öffnung an die Nase. Lassen Sie sich nicht von den vertrauten Aldehyden täuschen und wagen Sie den Hautkontakt mit der Flüssigkeit.
Es wird ein Chypre sein, doch fällen Sie nicht zu schnelle Urteile.
Die Agrumen sind leicht und kurzlebig. Dafür begrüßt ein leises Veilchen mit einem Kuss aus dem Jahr 1975. Der wird verfliegen.
Keine Tränen bitte.
Sie haben Phase N°1 des Verlaufs geschafft. Gratuliere.

Ein salbungsvoller Honig übernimmt die Leitung. Darin befinden sich Ylang-Ylang und ein merkwürdiger Jasmin, dessen Hedion Gehirnareale und die Hormonsteuerung aktivieren wird.
Eine sehr dezente, pudrige Iriswurzel und eine trocken krautige Gartennelke werden mögliche exaltierte Gefühlsregungen kontrollieren.
Rezeptoren können keine weiteren Blüten ausmachen, dafür eine leichte frische Note des Korianders. Sie hebt und lüftet den sonst zu schweren Ablauf.
Erneut haben Sie eine weitere Etappe gemeistert. Phase N°2 wäre geglückt.

Sie werden nun mit der Androgynität der Basis konfrontiert.
Ein laizistischer Weihrauch räumt mit falschen Illusionen auf. Eine klare Denkweise ist vonnöten.
Das Abschneiden alter Zöpfe wird behutsam mit bittersüßem Benzoe erleichtert. Lehnen Sie sich zurück und entspannen Sie sich.
Ambrierte Hölzer laden zum bequemen Liegen ein.
Dem Moschus verdanken Sie den sauberen und pflegenden Gesamteindruck. Eichenmoos wird hier nicht eingesetzt. Ungewöhnlich, aber gekonnt.
Sie haben den Duftverlauf bestanden, Phase N°3 wird nun abgeschlossen. Bleiben Sie dennoch weiter auf Empfang.

Phase N°4 wird nun sämtliche Gesamteindrücke zusammenfügen.
Sie werden den Unterschied von Analogem zu Digitalem merken. Die Bässe der Basis dröhnen nicht, die Höhnen der Mittelphase vermeiden jegliche Übersteuerung. Austariert und ausbalanciert. Sehr klar. Kein Rauschen.
Sie erfahren nun Ihren Körper, Ihre Gefühle.
Doch dafür sind Sie allein zuständig.
Zwei entgegensetzte Sinuskurven werden Sie begleiten: Oben die trockenen Blüten, der frisch-zitrische Koriander, der leicht süße Honig. Unten der gezähmte Weihrauch, die leicht dunklen Harze, die edlen Hölzer. Die Schnittpunkte werden sauber vom Moschus ohne Unterbrechung abgestimmt.
Diese letzte zarte Phase wird noch eine Weile andauern.
Herzlichen Glückwunsch und angenehme Ruhe.

Mit diesem puristischen Duft-Juwel wurde eine klare Aussage Anfang der 1980er gemacht.
Etwas war anders als mit vertrauten Chypre-Düften der 1970er. Hier wurde eine minimalistisch gewagte Interpretation des Themas für eine der umfangreichsten exklusiven Pflegeserien damaliger Angebote in Deutschland präsentiert. Und die war dem Geschmack der Zeit weit voraus. Eine floral herbe, von Weihrauch und Hölzern bestimmte Schöpfung wurde den blumig lieblichen und cremigen Vorlieben entgegengesetzt. Mit Erfolg!
Der kongeniale zarte und dezente Duft von Jacques Artarit wurde in einem gelungen Flakon von Peter Schmidt abgefüllt. Diese klaren Linien, weiße Badezimmer-Kacheln heraufbeschwörend, waren ein Garant für ein Alleinstellungsmerkmal. Sogar im Museum of Modern Art in New York und im Museum Angewandte Kunst in Frankfurt/M. wurde diese Design-Ikone gezeigt.
Würde ich die verschiedenen Pflegeprodukte der Serie aufzählen, bräuchte ich etliche Zeilen.
Und all diese hohe Kunst ist nun verschwunden, wurde vom Marktgeschehen irgendwann ignoriert und von einer nicht weitsichtigen und risikobereiten Geschäftsleitung vom Sortiment genommen.

Eines kann man mir nicht nehmen: prägende Erlebnisse in den kühlen 1980ern.
Wenn ich heute den Flakon (zum Glück fast voll) in der Hand halte, kommen sie wieder, die Geschehnisse, die Gespräche, der Reifeprozess.
Dieser Duft bedeutete Ruhe und innere Einkehr inmitten der lauten, geltungssüchtigen Kompositionen der Dekade.
Er stand oft unspektakulär in den Regalen, doch genau das war seine Stärke. Schreien, den Raum füllen, das war ihm fremd. Gepflegt hat er, manchmal sogar Trost gespendet.
Und dafür bin ich seinen Schöpfern heute noch dankbar.

Es gibt ein schönes, leises Lied aus der Zeit, sehr minimalistisch und ausdrucksstark:
„Die Tänzerin“ von Ulla Meinecke.

Vielleicht hat jemand noch ein paar Tropfen von Bath & Beauty übrig.
Vielleicht steht ein fahrtüchtiges Auto samt Musikanlage bereit.
Vielleicht ist der Abend ruhig, die Straßen leer.
Vielleicht braucht man diese besondere Stunde der untergegangen Sonne, das sanfte Zwielicht.
Vielleicht ist es Zeit, mit sich selbst ins Reine zu kommen.

Dann erledigt das Lied alles andere.

„Wir fliegen beide durch die Nächte,
segeln durch den Tag.
Inzwischen bin ich sicher,
Du weißt, dass ich Dich mag.
Jetzt sitze ich neben Dir,
wir fahren durch die nasse Stadt.
Komm, jetzt fahr'n wir Deinen Tank leer!
Bis es ausgeregnet hat.“



28 Antworten
Axiomatic vor 2 Jahren 43 26
8
Flakon
7
Sillage
9
Haltbarkeit
8.5
Duft
Spritztour im XJ12
Well, well, well, hier liegt ein Relikt der späten 1980er vor mir. Gepflegt aber keineswegs antiquiert schaffte dieser grüne Jaguar es, über Jahrzehnte zu begeistern. Die Höhen und Tiefen des Mutterkonzerns - Eigentümerwechsel rascher als das Verfliegen der Kopfnote - konnten diesem Duft zum Glück wenig anhaben. Verändert wurde er ein wenig, aber sein Kern blieb unangetastet. Und er bleibt unbestritten das Zugpferd der Duftsparte des Autobauers. Or shall I say the roaring jaguar? Andere Zeitgenossen wurden leider eingestellt, wie "Nobile (Eau de Toilette) | Gucci" oder "Bowling Green (Eau de Toilette) | Geoffrey Beene".
Aber schauen wir uns dieses schnurrende Raubtier mal genauer an, ein weiteres Meisterwerk von Thierry Wasser nach "Dali pour Homme (Eau de Toilette) | Salvador Dali".

Die Kappe ist nun aus Plastik mit Metalloptik, früher war sie aus schönem Holz. Der Flakon hat wenige Anpassungen erfahren, hält sich aber immer noch wacker und signalisiert das grüne Thema. Vom Zerstäuber kann man eine dichte aber sehr kurze Sprühwolke erwarten. Alles in allem eine gelungene Formensprache englischen Purismus’ der Zwischenkriegszeit, wie sie in den 1980er wieder Anklang fand. Ja, die gute alte Thatcher-Zeit, doch dazu später mehr.

Eröffnen möchte dieser Jaguar mit einer mandarinenbetonten Kopfnote, welche aber nicht typisch kontinental zitrisch frisch in die Nase steigt, sondern eher an Olde English Marmelade erinnert. Und ja, hier wird alt tatsächlich mit e am Ende geschrieben.
Der Basilikum lädt sogleich zu einem tiefgrünen Erlebnis ein. Getragen von einer leicht floralen Note der Gardenie und einem kräftigen, aber kurzlebigen Thymian stellt sich dieser Gentleman vor und grinst verschmitzt, aber nicht hämisch. Er mag scheinbar herbe Mandarinen, denn sie werden fast den gesamten Duftverlauf begleiten. Es herrscht also eine verhalten humorvolle Atmosphäre, wie an diesen seltenen warmen und sonnigen Tagen im Süden Englands.
Das Firmenlogo, welches gerne hochpoliert aus Metall auf der Motorhaube den Weg zeigt, wurde hier in Form des Lavendels mit Rosengeranie umgesetzt. Das violett-grüne Kraut stimmt eine metallische, höhere Oktave an.
Die Gartennelke liefert einen leicht erdigen, trockenen, matten Einschlag.
Unser Gentleman genießt also die Fahrt in seiner dunkelgrünen XJ12 Limousine, hört sich von Fairground Attraction „Perfect“ an auf der Fahrt vom vornehmen Hampstead zum Landsitz nach Nottinghamshire und ist froh, den Autobahnring M25 um London hinter sich zu lassen.

„It's got to be perfect
It's got to be worth it, yeah
Too many people take second best
But I won't take anything less
It's got to be, yeah
Perfect“

Die erwähnte bitter-süße Blues-Ballade mit älteren Klängen könnte nicht besser zum Jahr 1988 passen. Im Vereinigten Königreich haben etliche Jahre Thatcherismus ihre Spuren hinterlassen. Konservativ und postmodern besinnt man sich auf vermeintlich glorreiche Zeiten vergangener Jahrzehnte in Musik, Kunst und Mode. Ein betörender Nebel im Sinne von House & Garden und Laura Ashley hat sich über die kaufkräftige höhere Mittelschicht gelegt.

Das Tempo vom elegant sportlichen Viertürer wird etwas erhöht, ohne zu schnell zu werden. Die Herznote ist bereits an einem vereinbarten, diskreten Treffpunkt eingestiegen und macht es sich im Fond bequem.
Sandelholz und Eichenmoos - hier nicht gelistet - spiegeln die gediegene Ausführung für die Autoinsassen wieder. Alles riecht so herrlich fabrikneu hier.
Die Muskatnuss verbindet sich perfekt mit der Mandarine und gibt dem Duft diesen unverwechselbaren Akkord.
Und nun führt die Fahrt durch einen Wald mit vielen Tannen.
Da ist er, ein Fougère durch und durch, sehr balsamisch mit den anderen Herznoten perfekt abgerundet, sauber und gepflegt, wie frisch rasiert.
Englisches Understatement im tiefsten Sherwood Forest.

Erst im letzten Drittel der Fahrt läßt die Raubkatze das ambrierte Leder an Patchouli spüren, Moschus und Tabak in einer leicht rauchigen Umsetzung zeugen von menschlichem Verlangen. Doch auch hier achtet man auf Haltung und Selbstbeherrschung, soweit es die Situation erlaubt und man auf eine eher einschläfernden linearen Erzählung besteht.

Es sein denn, dass das Objekt der Begierde längst eine Kassette ins Radio gesteckt hat und „Christine“ von The House of Love zielstrebig abgespielt.
Und wie das 1988er Indie-Lied einschlägt!
Plötzlich bekommt der Muskatnuss-Mandarine-Akkord eine verführerische Umdeutung.

„You're in deep, pristine
With a God-like glow“

Der balsamisch saubere Tannenhain wird zum Zauberwald.

„And the whole world dragged us down
Not a sonnet not a sound
And the whole world turned aside
The cruelest hand just turned an eye“

Und ein leises Begehren auf der ledernen Rückbank zwingt zum Lockern des Krawattenknotens.

„Heart and the glory and me
Chaos and the big sea“

Und so biegt unser Jaguar-Fahrer an der nächsten Kreuzung ab und fährt die abseitige Landstraße zum, nennen wir es verhaltend diskret, The Concupiscent Fox - Inn am Rande des Waldes und läßt jemand anderes bei „Land of Hope and Glory“ von Edward Elgar vor dem Union Jack aufrecht stehen…

Wenn das alles nicht auf Archie Leach hindeuten könnte. Genial gespielt von John Cleese im erfolgreichen Straßenfeger „Ein Fisch namens Wanda“ von 1988.
Dieser brave, aufrechte Anwalt fährt gerne mit einem XJ12 zum Gericht. Sein gutbürgerliches Zuhause ist von einer distanzierten, snobistischen Ehefrau und einer zickigen, konsumgeilen Tochter bestimmt. Er spielt hier keine große Rolle und bekommt wenig Beachtung.
Bis er eines Tages einen Klienten vertreten soll, der etwas mit einem Diamantenraub vermutlich zu tun hat.
Aber ich werde hier den Filmspaß nicht verderben. Es lohnt sich, den Film anzuschauen!

Ein paar Bemerkungen für Parfumos dennoch.
Mrs Wendy Leach, von Maria Aitken gespielt, hat tatsächlich "Shalimar (Eau de Cologne) | Guerlain" auf ihrem Schminktisch stehen.
Jamie Lee Curtis, hier als Wanda Gershwitz, sprüht sich exzessiv vor einem Rendezvous ein. Leider konnte ich den Flakon nicht richtig deuten.

Ach ja, sollte jemand eine nette Spritztour mit Jaguar for Men vorhaben, The House of Love hat von „Christine“ eine Peel-Session.

Viel Spaß!
26 Antworten
Axiomatic vor 2 Jahren 27 18
9
Flakon
7
Sillage
7
Haltbarkeit
8
Duft
Als es passierte
Ich muss gestehen, nach einem flüchtigen Versuch Tabac Man zu Unrecht abgeschrieben zu haben. Und da jeder eine zweite Chance verdient, habe ich mich doch zum spontanen Kauf entschieden. Bereuen tue ich es nicht!

Er wollte sich mir nicht auf Anhieb erschliessen, roch er doch plakativ und stereotypisch beim Aufsprühen. Aber man sollte nach diesem ersten Eindruck den Vorurteilen im Kopf keinen freien Lauf lassen!

Kreiert wurde das Wässerchen im Jahr 2000. In jener Zeit herrschte eine merkwürdige Mischung aus nostalgisch ironischer Erinnerung an vergangene Jahrzehnte, hier besonders die 1970er und anfänglichen 1980er, und einer seichten Entschärfung herausstechender Kreationen.
Je länger ich mich mit Tabac Man befasse, desto spannender finde ich die Komposition. Der Duftverlauf gestaltet sich wesentlich komplexer, als der (zum Glück) karge Name vermuten läßt.

Es kommen mir ein paar musikalische Assoziationen in den Kopf.
Da wäre zunächst Beethovens Streichquartett op.135 in F-Dur. Der Anfang ist gemächlich und nett anzuhören. Ach, der gute alte Ludwig, keiner stört sich dran! Doch die Themen werden nach und nach komplexer, fordernder, dichter. Plötzlich ist die Stimmung eine gänzlich andere, eine Ernsthaftigkeit fordert Konzentration und Haltung, ohne dabei die Heiterkeit gänzlich zu unterdrücken.

Aus dem Pop-Bereich wäre die Gruppe Paula zu erwähnen. Zur Jahrtausendwende schafften sie es mit ihrem Hit „Als es passierte“ in die Charts. Doch dazu mehr im Verlauf des Duftes.

Also, dann knöpfe ich mir jetzt den geschrumpften, gut griffigen Flakon in Schwarz und lasse mich treiben. Der Sprühkopf läßt keine Wünsche übrig, hochqualitativ. Ein paar Zischer und ab an die Spree!

Für mich eröffnet der Duft wie das Berliner Kaufhaus Alexa, nicht schäbig, nicht zu edel. Zur sportlichen Grundstimmung jogge ich aber in Richtung Karl-Marx-Allee. Hier herrscht sowjetischer Neoklassizismus in monotoner Wiederholung, welcher seine Entsprechung in den vermeintlich sehr angenehmen Hesperieden samt eines aquatischen Akkords von Lavendel und Minze hat.
Da wäre er, der Duft der Umkleide, des Sportstudios, der Norm. Ich spaziere vom Strausberger Platz in Richtung Osten entlang der erneuerten Brunnen vor den blockartigen Häusern und komme mir wie in einer geometrischen Reihe vor: in regelmäßigen Abständen wiederholt sich etwas. Die Allee bietet keinen Fluchtpunkt, kein Wahrzeichen wie etwa einen Obelisken oder einen Triumphbogen. Es ist unklar, wohin die Reise geht. In meinen vorschnellen Gedanken wohnen vereinheitliche Menschen in diesen sozialistischen Palästen.

So startet auch das Lied von Paula. Sehr gefällig, funky, man möchte sofort die Hüften schwingen. Der anfängliche Text läßt sich gut einprägen, gemütlich einfach. Man könnte denken, dass der Song ohne Hürden konsumiert werden kann. Weit gefehlt!

Denn dann leitet das Veilchenblatt leicht metallisch zum Hauptakkord über. Hier finden sich Rosengeranie und Sandelholz in der Tradition des Hauses wieder, von Gartennelke und Kamille fehlt aber jede Spur. Es wird also nicht abgerundet holzig-erdig und ambriert hier. Eine neue Generation hat übernommen und schaut nicht wehleidig zurück. Ehre wem Ehre gebührt, aber jetzt setzen wir neue Zeichen!

Ein würziges Paar, Koriander und vor allem Kardamom, umhüllen das blumige Holzige. Und dank des klassischen Trios, Eichenmoos, Vetiver und viel Patchouli, bekommt der Akkord einen tiefgrünen Mantel mit holzig-brauen Minitupfern. Kenne ich das nicht aus den 1970ern? Nein, nein, hier zitiert man nur in Anklängen, der grüne Dufteindruck ist erquickend anders!
Der Lavendel schwingt übrigens tänzelnd die gesamte Zeit mit, er läßt sich nicht so schnell bändigen.
Von der anfänglichen Gleichmacherei keine Spur, hier wird es komplexer.
Ich bin am Boxhagener Platz angelangt und ruhe mich auf einer Parkbank aus. Das Treiben um mich herum wird vielfältiger.
Dazu eine Kostprobe des mittleren Teils des Liedes, jetzt nur noch in Begleitung der E-Gitarre:

An einem leblos leeren, endlos langen Vormittag
blieb nur noch Warten auf den Anruf,
der das Glück versprach.

Ja, es wird schwieriger, unbekümmert zum Lied zu tanzen.

Und der Duft mahnt zum aufrechten Gang, denn gute, alte Bekannte der 1980ern läuten den Endspurt ein.
Da wäre diese balsamische Tanne, eine nette Aftershave Backfpfeife zum Wachwerden. Junger Mann, jetzt wird es ernster!
Ich biege wieder in die Karl-Marx-Allee ein, und hoffe auf einen guten Platz in der ČSA-Bar.
Plötzlich kommen mir die Bauten nicht mehr so eintönig vor, denn ich bin vorhin an waschechten Plattenbauten der nächsten Generationen vorbeigelaufen und war erschüttert. Ich erkenne jetzt eine großstädtische Pracht, großzügige Räume und einen unverkennbaren Charakter dieser Allee. Die Zwillingsbauten am Frankfurter Tor ersetzen den Triumphbogen mit ihren mächtigen Türmen. Mit filigranen Säulen stützen sie sehr schöne Kuppeln.

Und nun wird es vertraut vornehm. Mein über alles geliebter Muskatellersalbei kommt im feinen, durchaus sportlichen Zwirn daher und möchte sich über ernstere Themen unterhalten. Wir machen es uns gemütlich an der Bar, umgeben von einem leichten Hauch Vanille, wie ein durchsichtiger Schleier.

Jetzt folgt auch der schwerere Teil des Liedes:

Zu früh am Morgen brach das Licht des Tages über mich,
um zu erinnern an die Schrecken einer schlechten Welt.
Der Tag verlief - ich sah ihm zu und sah, dass nichts geschah.
Blieb nur noch Warten auf den Anruf,
der das Glück versprach.

Wäre da bloß nicht der freche Lavendel, wir könnten uns stundenlang unterhalten. Doch zum Abschluss des Liedes schwingen wir ein wenig mit. Denn Tabac Man ist unkonventionell freundlich, kumpelhaft und aufgeschlossen.
Das Erstaunliche ist, dass hier etwas umgedreht wurde. Ich kenne bisher keine Kreation, wo der Muskatellersalbei plötzlich die Hauptrolle übernimmt und sogar ein da capo con gran finale hinlegt. Der mutige Abschluss verdient Applaus und Hochachtung!


Was für ein herrlicher Rundgang in der guten Stube des Arbeiter- und Bauernstaates.
Wer hätte das 1989 erahnen können…



Der Fairness halber lasse ich meinen anfänglichen Kommentar stehen, um zu zeigen, dass ein Duft auch eine zweite Chance verdient hat. Leider kann ich hier nur eine einzige Bewertung abgeben, die jetzt eindeutig besser ausfällt, als bei der ersten Beschreibung. Damals waren es 7 Punkte.

Und ein Dankeschön an Stulle, er hat mich überzeugen können, es nochmal zu versuchen.
18 Antworten
96 - 100 von 102