23.07.2022 - 14:02 Uhr
Axiomatic
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Axiomatic
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42
Hanseatische Seifenblasen
Weiß. Gerade Linien. Schwarzer Schriftzug. Gewagte Definition exklusiver Pflege. Lächeln, nicht lachen. Scheinbare Emotionslosigkeit. Tiefe Erfahrung des Selbst. Prinzipien des Bauhauses in der Duftkomposition. Form folgt der Funktion. Licht und Schatten.
1981.
Bei der Berliner Funkausstellung wird die Audio CD vorgestellt.
„Fade to Grey“ von Visage hat eine neue Kälte in der Popmusik eingeleitet.
Auf den Laufstegen haben Schulterpolster, Y-Schnitt und gerade Linien endgültig mit der vorherigen Dekade gebrochen.
Eine merkwürdige Krankheit tritt in Erscheinung.
Aus Hamburg werden markante Modesignale in die Welt gesendet.
Duft.
Legen Sie von Vladimir Cosma das Stück „Gorodish“ aus dem Film Diva von 1981 ein.
Bereiten Sie Ihre Sinne vor.
Öffnen Sie Kappe und führen Sie die Flakon-Öffnung an die Nase. Lassen Sie sich nicht von den vertrauten Aldehyden täuschen und wagen Sie den Hautkontakt mit der Flüssigkeit.
Es wird ein Chypre sein, doch fällen Sie nicht zu schnelle Urteile.
Die Agrumen sind leicht und kurzlebig. Dafür begrüßt ein leises Veilchen mit einem Kuss aus dem Jahr 1975. Der wird verfliegen.
Keine Tränen bitte.
Sie haben Phase N°1 des Verlaufs geschafft. Gratuliere.
Ein salbungsvoller Honig übernimmt die Leitung. Darin befinden sich Ylang-Ylang und ein merkwürdiger Jasmin, dessen Hedion Gehirnareale und die Hormonsteuerung aktivieren wird.
Eine sehr dezente, pudrige Iriswurzel und eine trocken krautige Gartennelke werden mögliche exaltierte Gefühlsregungen kontrollieren.
Rezeptoren können keine weiteren Blüten ausmachen, dafür eine leichte frische Note des Korianders. Sie hebt und lüftet den sonst zu schweren Ablauf.
Erneut haben Sie eine weitere Etappe gemeistert. Phase N°2 wäre geglückt.
Sie werden nun mit der Androgynität der Basis konfrontiert.
Ein laizistischer Weihrauch räumt mit falschen Illusionen auf. Eine klare Denkweise ist vonnöten.
Das Abschneiden alter Zöpfe wird behutsam mit bittersüßem Benzoe erleichtert. Lehnen Sie sich zurück und entspannen Sie sich.
Ambrierte Hölzer laden zum bequemen Liegen ein.
Dem Moschus verdanken Sie den sauberen und pflegenden Gesamteindruck. Eichenmoos wird hier nicht eingesetzt. Ungewöhnlich, aber gekonnt.
Sie haben den Duftverlauf bestanden, Phase N°3 wird nun abgeschlossen. Bleiben Sie dennoch weiter auf Empfang.
Phase N°4 wird nun sämtliche Gesamteindrücke zusammenfügen.
Sie werden den Unterschied von Analogem zu Digitalem merken. Die Bässe der Basis dröhnen nicht, die Höhnen der Mittelphase vermeiden jegliche Übersteuerung. Austariert und ausbalanciert. Sehr klar. Kein Rauschen.
Sie erfahren nun Ihren Körper, Ihre Gefühle.
Doch dafür sind Sie allein zuständig.
Zwei entgegensetzte Sinuskurven werden Sie begleiten: Oben die trockenen Blüten, der frisch-zitrische Koriander, der leicht süße Honig. Unten der gezähmte Weihrauch, die leicht dunklen Harze, die edlen Hölzer. Die Schnittpunkte werden sauber vom Moschus ohne Unterbrechung abgestimmt.
Diese letzte zarte Phase wird noch eine Weile andauern.
Herzlichen Glückwunsch und angenehme Ruhe.
Mit diesem puristischen Duft-Juwel wurde eine klare Aussage Anfang der 1980er gemacht.
Etwas war anders als mit vertrauten Chypre-Düften der 1970er. Hier wurde eine minimalistisch gewagte Interpretation des Themas für eine der umfangreichsten exklusiven Pflegeserien damaliger Angebote in Deutschland präsentiert. Und die war dem Geschmack der Zeit weit voraus. Eine floral herbe, von Weihrauch und Hölzern bestimmte Schöpfung wurde den blumig lieblichen und cremigen Vorlieben entgegengesetzt. Mit Erfolg!
Der kongeniale zarte und dezente Duft von Jacques Artarit wurde in einem gelungen Flakon von Peter Schmidt abgefüllt. Diese klaren Linien, weiße Badezimmer-Kacheln heraufbeschwörend, waren ein Garant für ein Alleinstellungsmerkmal. Sogar im Museum of Modern Art in New York und im Museum Angewandte Kunst in Frankfurt/M. wurde diese Design-Ikone gezeigt.
Würde ich die verschiedenen Pflegeprodukte der Serie aufzählen, bräuchte ich etliche Zeilen.
Und all diese hohe Kunst ist nun verschwunden, wurde vom Marktgeschehen irgendwann ignoriert und von einer nicht weitsichtigen und risikobereiten Geschäftsleitung vom Sortiment genommen.
Eines kann man mir nicht nehmen: prägende Erlebnisse in den kühlen 1980ern.
Wenn ich heute den Flakon (zum Glück fast voll) in der Hand halte, kommen sie wieder, die Geschehnisse, die Gespräche, der Reifeprozess.
Dieser Duft bedeutete Ruhe und innere Einkehr inmitten der lauten, geltungssüchtigen Kompositionen der Dekade.
Er stand oft unspektakulär in den Regalen, doch genau das war seine Stärke. Schreien, den Raum füllen, das war ihm fremd. Gepflegt hat er, manchmal sogar Trost gespendet.
Und dafür bin ich seinen Schöpfern heute noch dankbar.
Es gibt ein schönes, leises Lied aus der Zeit, sehr minimalistisch und ausdrucksstark:
„Die Tänzerin“ von Ulla Meinecke.
Vielleicht hat jemand noch ein paar Tropfen von Bath & Beauty übrig.
Vielleicht steht ein fahrtüchtiges Auto samt Musikanlage bereit.
Vielleicht ist der Abend ruhig, die Straßen leer.
Vielleicht braucht man diese besondere Stunde der untergegangen Sonne, das sanfte Zwielicht.
Vielleicht ist es Zeit, mit sich selbst ins Reine zu kommen.
Dann erledigt das Lied alles andere.
„Wir fliegen beide durch die Nächte,
segeln durch den Tag.
Inzwischen bin ich sicher,
Du weißt, dass ich Dich mag.
Jetzt sitze ich neben Dir,
wir fahren durch die nasse Stadt.
Komm, jetzt fahr'n wir Deinen Tank leer!
Bis es ausgeregnet hat.“
1981.
Bei der Berliner Funkausstellung wird die Audio CD vorgestellt.
„Fade to Grey“ von Visage hat eine neue Kälte in der Popmusik eingeleitet.
Auf den Laufstegen haben Schulterpolster, Y-Schnitt und gerade Linien endgültig mit der vorherigen Dekade gebrochen.
Eine merkwürdige Krankheit tritt in Erscheinung.
Aus Hamburg werden markante Modesignale in die Welt gesendet.
Duft.
Legen Sie von Vladimir Cosma das Stück „Gorodish“ aus dem Film Diva von 1981 ein.
Bereiten Sie Ihre Sinne vor.
Öffnen Sie Kappe und führen Sie die Flakon-Öffnung an die Nase. Lassen Sie sich nicht von den vertrauten Aldehyden täuschen und wagen Sie den Hautkontakt mit der Flüssigkeit.
Es wird ein Chypre sein, doch fällen Sie nicht zu schnelle Urteile.
Die Agrumen sind leicht und kurzlebig. Dafür begrüßt ein leises Veilchen mit einem Kuss aus dem Jahr 1975. Der wird verfliegen.
Keine Tränen bitte.
Sie haben Phase N°1 des Verlaufs geschafft. Gratuliere.
Ein salbungsvoller Honig übernimmt die Leitung. Darin befinden sich Ylang-Ylang und ein merkwürdiger Jasmin, dessen Hedion Gehirnareale und die Hormonsteuerung aktivieren wird.
Eine sehr dezente, pudrige Iriswurzel und eine trocken krautige Gartennelke werden mögliche exaltierte Gefühlsregungen kontrollieren.
Rezeptoren können keine weiteren Blüten ausmachen, dafür eine leichte frische Note des Korianders. Sie hebt und lüftet den sonst zu schweren Ablauf.
Erneut haben Sie eine weitere Etappe gemeistert. Phase N°2 wäre geglückt.
Sie werden nun mit der Androgynität der Basis konfrontiert.
Ein laizistischer Weihrauch räumt mit falschen Illusionen auf. Eine klare Denkweise ist vonnöten.
Das Abschneiden alter Zöpfe wird behutsam mit bittersüßem Benzoe erleichtert. Lehnen Sie sich zurück und entspannen Sie sich.
Ambrierte Hölzer laden zum bequemen Liegen ein.
Dem Moschus verdanken Sie den sauberen und pflegenden Gesamteindruck. Eichenmoos wird hier nicht eingesetzt. Ungewöhnlich, aber gekonnt.
Sie haben den Duftverlauf bestanden, Phase N°3 wird nun abgeschlossen. Bleiben Sie dennoch weiter auf Empfang.
Phase N°4 wird nun sämtliche Gesamteindrücke zusammenfügen.
Sie werden den Unterschied von Analogem zu Digitalem merken. Die Bässe der Basis dröhnen nicht, die Höhnen der Mittelphase vermeiden jegliche Übersteuerung. Austariert und ausbalanciert. Sehr klar. Kein Rauschen.
Sie erfahren nun Ihren Körper, Ihre Gefühle.
Doch dafür sind Sie allein zuständig.
Zwei entgegensetzte Sinuskurven werden Sie begleiten: Oben die trockenen Blüten, der frisch-zitrische Koriander, der leicht süße Honig. Unten der gezähmte Weihrauch, die leicht dunklen Harze, die edlen Hölzer. Die Schnittpunkte werden sauber vom Moschus ohne Unterbrechung abgestimmt.
Diese letzte zarte Phase wird noch eine Weile andauern.
Herzlichen Glückwunsch und angenehme Ruhe.
Mit diesem puristischen Duft-Juwel wurde eine klare Aussage Anfang der 1980er gemacht.
Etwas war anders als mit vertrauten Chypre-Düften der 1970er. Hier wurde eine minimalistisch gewagte Interpretation des Themas für eine der umfangreichsten exklusiven Pflegeserien damaliger Angebote in Deutschland präsentiert. Und die war dem Geschmack der Zeit weit voraus. Eine floral herbe, von Weihrauch und Hölzern bestimmte Schöpfung wurde den blumig lieblichen und cremigen Vorlieben entgegengesetzt. Mit Erfolg!
Der kongeniale zarte und dezente Duft von Jacques Artarit wurde in einem gelungen Flakon von Peter Schmidt abgefüllt. Diese klaren Linien, weiße Badezimmer-Kacheln heraufbeschwörend, waren ein Garant für ein Alleinstellungsmerkmal. Sogar im Museum of Modern Art in New York und im Museum Angewandte Kunst in Frankfurt/M. wurde diese Design-Ikone gezeigt.
Würde ich die verschiedenen Pflegeprodukte der Serie aufzählen, bräuchte ich etliche Zeilen.
Und all diese hohe Kunst ist nun verschwunden, wurde vom Marktgeschehen irgendwann ignoriert und von einer nicht weitsichtigen und risikobereiten Geschäftsleitung vom Sortiment genommen.
Eines kann man mir nicht nehmen: prägende Erlebnisse in den kühlen 1980ern.
Wenn ich heute den Flakon (zum Glück fast voll) in der Hand halte, kommen sie wieder, die Geschehnisse, die Gespräche, der Reifeprozess.
Dieser Duft bedeutete Ruhe und innere Einkehr inmitten der lauten, geltungssüchtigen Kompositionen der Dekade.
Er stand oft unspektakulär in den Regalen, doch genau das war seine Stärke. Schreien, den Raum füllen, das war ihm fremd. Gepflegt hat er, manchmal sogar Trost gespendet.
Und dafür bin ich seinen Schöpfern heute noch dankbar.
Es gibt ein schönes, leises Lied aus der Zeit, sehr minimalistisch und ausdrucksstark:
„Die Tänzerin“ von Ulla Meinecke.
Vielleicht hat jemand noch ein paar Tropfen von Bath & Beauty übrig.
Vielleicht steht ein fahrtüchtiges Auto samt Musikanlage bereit.
Vielleicht ist der Abend ruhig, die Straßen leer.
Vielleicht braucht man diese besondere Stunde der untergegangen Sonne, das sanfte Zwielicht.
Vielleicht ist es Zeit, mit sich selbst ins Reine zu kommen.
Dann erledigt das Lied alles andere.
„Wir fliegen beide durch die Nächte,
segeln durch den Tag.
Inzwischen bin ich sicher,
Du weißt, dass ich Dich mag.
Jetzt sitze ich neben Dir,
wir fahren durch die nasse Stadt.
Komm, jetzt fahr'n wir Deinen Tank leer!
Bis es ausgeregnet hat.“
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