Als kleines Mädchen habe ich meine Mutter abgöttisch bewundert für ihre Schönheit und Eleganz. Natürlich, für alle kleinen Mädchen ist Mama die Schönste, aber was meine Mama anging, haben die anderen Kinder meine Bewunderung geteilt. Während andere Mütter ihre Kinder schon mal in Schlabberpullover und ausgelatschten Turnschuhen zum Kindergarten gebracht und von dort abgeholt haben, war meine Mama so elegant wie ein Filmstar mit Pumps und langem Burberry-Mantel. Ihre Haare waren jeden Monat in einer anderen Farbe getönt: mal rotbraun, mal fast schwarz, mal in einem weichen Schokobraun. Andere Kinder hauchten bei ihrem Anblick andächtig: “Deine Mama ist aber schön!“ Und ich war unfassbar stolz auf meine chice und schöne Mama!
Der Duft, der sie bei all diesen glamourösen Auftritten umhüllte, stammte nicht selten von Jil Sander. Neben diversen Guccis, Laura Biagottis und Tresor standen die Jil Sander-Flakons schon solange ich mich erinnern kann, immer auf dem Schminktisch meiner Mutter. Urheber war meistens mein Vater, der sie ihr zu so ziemlich jedem Geburtstag, Weihnachtsfest und Hochzeitstag geschenkt hat. Nicht aus Verlegenheit, sondern weil er sie wirklich gerne an ihr gerochen hat und riecht. Mein Vater ist niemand, der sich besonders für Parfum interessiert, aber bevor er Kenzo für meine Mutter entdeckte, waren seine ersten Worte beim Betreten einer jeden Parfümerie immer ein zielstrebiges: “Ich suche was von Jil Sander für meine Frau!“
Ob meine Mutter nun immer Jil Sander getragen hat, weil sie selbst es so toll fand oder weil mein Vater es schon immer an ihr liebte, weiß ich nicht, aber sie ist nicht der Typ Frau, der ein Parfum tragen würde, nur um ihrem Mann zu gefallen. Jedenfalls sind Jil Sander-Parfums deshalb für mich seit jeher mit meiner Mutter verbunden.
Sie ist immer elegant, ohne bemüht zu wirken, ihr Stil ist immer makellos, ohne langweilig oder uninspiriert zu sein, sie schafft es, zu jedem Anlass genau richtig gekleidet zu sein und sie findet in jeder Situation die richtigen Worte. Genau diese schlichte, schnörkellose und sportliche Eleganz verkörpern Jil Sander-Düfte für mich.
Ich dagegen bin ganz anders: Eleganz ist mir zwar auch sehr wichtig, aber 'schlicht' ist mir ein Fremdwort. Die Hälfte der Zeit bin ich hoffnungslos overdressed, Dresscodes entlocken mir maximal ein Naserümpfen und während meine Outfits regelmäßig Begeisterungsstürme bei den einen auslösen, entlocken sie anderen allzu oft ein fassungsloses: “Oh, mein GOTT!“ (Was mir aber auch reichlich egal ist.)
Ich bin sicher eine Kandidatin für so einiges, dachte ich, aber nicht für Jil Sander-Düfte mit ihrer nüchternen, stilsicheren Eleganz!
Als ich die Probe in der Hand hielt, dachte ich dann auch erst mal an ein Weihnachtsgeschenk für meine Mutter, nicht an mich selbst. Aber auf das erste Schnuppern folgte ungläubiges Staunen. Das war herrlich... gruftig! Vermutlich bin ich der einzige Mensch überhaupt mit dieser Assoziation, aber für mich riecht dieser Duft haargenau wie der Geruch in einer Blumenhandlung. Und den liebe ich, seit ich denken kann. Für mich ist das genau dieser Geruch in einen Flakon gefüllt: nicht der Duft von Blüten, sondern dieser grüne Geruch nach Blumenstängeln und einem Hauch von Verfall, den nicht mehr ganz taufrisches Blumenwasser, überreife Blumen und schon leicht vor sich hinwelkende Blumenstängel verströmen. Ich bin immer noch ganz verwundert, gruftiges an ganz unerwarteter Stelle! Vermutlich bin ich die Einzige, die das so empfindet, aber wer hätte gedacht, dass Jil Sander Gothic kann? Dunkelgrüne Gothic, um genau zu sein.
Denn ja, der Duft ist grün und eigentlich mag ich keine grünen Düfte, sie passen nicht zu mir. Aber hier schwingt etwas dunkles, hintergründiges mit. Grün ja, doch ein tiefes, dunkles Grün. Blick in die Duftpyramide, wo zum Henker kommt dieser Blumenhandlungsgeruch her? Ah ja, das muss das Veilchenblatt sein, Bergamotte unterstreicht den würzigen, grünen Duftcharakter. Mandarine rieche ich zum Glück nicht raus, so dass das Parfum nicht allzu sehr ins Fruchtig-frische abrutscht. Moschus und Zeder vertiefen den dunklen, waldigen Charakter des Dufts - zu der Blumenhandlung gesellt sich ein nächtlicher Zauberwald, ein Waldboden voller Nadeln, Zapfen und duftenden Laubs. Muskat verstärkt diese Assoziation: würziger, dunkler Wald. Patchouli sorgt für die tiefe, erdige Note und unterstreicht den gruftigen Charakter, den ich so stark an dem Parfum wahrnehme. Leder? Ja, mag sein. Vanille rieche ich zum Glück gar nicht.
Dieser Duft lässt mich ratlos zurück. Weder der Name, der Flakon, noch die Marke hätten mich etwas dunkles, würziges, (positiv!) gruftiges hinter diesem Parfum vermuten lassen und hätte ich nicht die Probe bekommen, hätte ich niemals zum Tester gegriffen. Anscheinend bin ich auch die Einzige, die Simply so empfindet, und was mich noch mehr irritiert: Der entspricht so ganz und gar nicht meinem üblichen Beuteschema, entspringt sogar meinem Feindbild (grün!) und trotzdem überlege ich gerade ernsthaft, ihn mir zu kaufen. Mittlerweile habe ich den Duft viermal getestet und an meiner Duftwahrnehmung ändert sich nichts: grün, würzig, gruftig, gut!