09.04.2022 - 10:41 Uhr
Axiomatic
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Axiomatic
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27
Als es passierte
Ich muss gestehen, nach einem flüchtigen Versuch Tabac Man zu Unrecht abgeschrieben zu haben. Und da jeder eine zweite Chance verdient, habe ich mich doch zum spontanen Kauf entschieden. Bereuen tue ich es nicht!
Er wollte sich mir nicht auf Anhieb erschliessen, roch er doch plakativ und stereotypisch beim Aufsprühen. Aber man sollte nach diesem ersten Eindruck den Vorurteilen im Kopf keinen freien Lauf lassen!
Kreiert wurde das Wässerchen im Jahr 2000. In jener Zeit herrschte eine merkwürdige Mischung aus nostalgisch ironischer Erinnerung an vergangene Jahrzehnte, hier besonders die 1970er und anfänglichen 1980er, und einer seichten Entschärfung herausstechender Kreationen.
Je länger ich mich mit Tabac Man befasse, desto spannender finde ich die Komposition. Der Duftverlauf gestaltet sich wesentlich komplexer, als der (zum Glück) karge Name vermuten läßt.
Es kommen mir ein paar musikalische Assoziationen in den Kopf.
Da wäre zunächst Beethovens Streichquartett op.135 in F-Dur. Der Anfang ist gemächlich und nett anzuhören. Ach, der gute alte Ludwig, keiner stört sich dran! Doch die Themen werden nach und nach komplexer, fordernder, dichter. Plötzlich ist die Stimmung eine gänzlich andere, eine Ernsthaftigkeit fordert Konzentration und Haltung, ohne dabei die Heiterkeit gänzlich zu unterdrücken.
Aus dem Pop-Bereich wäre die Gruppe Paula zu erwähnen. Zur Jahrtausendwende schafften sie es mit ihrem Hit „Als es passierte“ in die Charts. Doch dazu mehr im Verlauf des Duftes.
Also, dann knöpfe ich mir jetzt den geschrumpften, gut griffigen Flakon in Schwarz und lasse mich treiben. Der Sprühkopf läßt keine Wünsche übrig, hochqualitativ. Ein paar Zischer und ab an die Spree!
Für mich eröffnet der Duft wie das Berliner Kaufhaus Alexa, nicht schäbig, nicht zu edel. Zur sportlichen Grundstimmung jogge ich aber in Richtung Karl-Marx-Allee. Hier herrscht sowjetischer Neoklassizismus in monotoner Wiederholung, welcher seine Entsprechung in den vermeintlich sehr angenehmen Hesperieden samt eines aquatischen Akkords von Lavendel und Minze hat.
Da wäre er, der Duft der Umkleide, des Sportstudios, der Norm. Ich spaziere vom Strausberger Platz in Richtung Osten entlang der erneuerten Brunnen vor den blockartigen Häusern und komme mir wie in einer geometrischen Reihe vor: in regelmäßigen Abständen wiederholt sich etwas. Die Allee bietet keinen Fluchtpunkt, kein Wahrzeichen wie etwa einen Obelisken oder einen Triumphbogen. Es ist unklar, wohin die Reise geht. In meinen vorschnellen Gedanken wohnen vereinheitliche Menschen in diesen sozialistischen Palästen.
So startet auch das Lied von Paula. Sehr gefällig, funky, man möchte sofort die Hüften schwingen. Der anfängliche Text läßt sich gut einprägen, gemütlich einfach. Man könnte denken, dass der Song ohne Hürden konsumiert werden kann. Weit gefehlt!
Denn dann leitet das Veilchenblatt leicht metallisch zum Hauptakkord über. Hier finden sich Rosengeranie und Sandelholz in der Tradition des Hauses wieder, von Gartennelke und Kamille fehlt aber jede Spur. Es wird also nicht abgerundet holzig-erdig und ambriert hier. Eine neue Generation hat übernommen und schaut nicht wehleidig zurück. Ehre wem Ehre gebührt, aber jetzt setzen wir neue Zeichen!
Ein würziges Paar, Koriander und vor allem Kardamom, umhüllen das blumige Holzige. Und dank des klassischen Trios, Eichenmoos, Vetiver und viel Patchouli, bekommt der Akkord einen tiefgrünen Mantel mit holzig-brauen Minitupfern. Kenne ich das nicht aus den 1970ern? Nein, nein, hier zitiert man nur in Anklängen, der grüne Dufteindruck ist erquickend anders!
Der Lavendel schwingt übrigens tänzelnd die gesamte Zeit mit, er läßt sich nicht so schnell bändigen.
Von der anfänglichen Gleichmacherei keine Spur, hier wird es komplexer.
Ich bin am Boxhagener Platz angelangt und ruhe mich auf einer Parkbank aus. Das Treiben um mich herum wird vielfältiger.
Dazu eine Kostprobe des mittleren Teils des Liedes, jetzt nur noch in Begleitung der E-Gitarre:
An einem leblos leeren, endlos langen Vormittag
blieb nur noch Warten auf den Anruf,
der das Glück versprach.
Ja, es wird schwieriger, unbekümmert zum Lied zu tanzen.
Und der Duft mahnt zum aufrechten Gang, denn gute, alte Bekannte der 1980ern läuten den Endspurt ein.
Da wäre diese balsamische Tanne, eine nette Aftershave Backfpfeife zum Wachwerden. Junger Mann, jetzt wird es ernster!
Ich biege wieder in die Karl-Marx-Allee ein, und hoffe auf einen guten Platz in der ČSA-Bar.
Plötzlich kommen mir die Bauten nicht mehr so eintönig vor, denn ich bin vorhin an waschechten Plattenbauten der nächsten Generationen vorbeigelaufen und war erschüttert. Ich erkenne jetzt eine großstädtische Pracht, großzügige Räume und einen unverkennbaren Charakter dieser Allee. Die Zwillingsbauten am Frankfurter Tor ersetzen den Triumphbogen mit ihren mächtigen Türmen. Mit filigranen Säulen stützen sie sehr schöne Kuppeln.
Und nun wird es vertraut vornehm. Mein über alles geliebter Muskatellersalbei kommt im feinen, durchaus sportlichen Zwirn daher und möchte sich über ernstere Themen unterhalten. Wir machen es uns gemütlich an der Bar, umgeben von einem leichten Hauch Vanille, wie ein durchsichtiger Schleier.
Jetzt folgt auch der schwerere Teil des Liedes:
Zu früh am Morgen brach das Licht des Tages über mich,
um zu erinnern an die Schrecken einer schlechten Welt.
Der Tag verlief - ich sah ihm zu und sah, dass nichts geschah.
Blieb nur noch Warten auf den Anruf,
der das Glück versprach.
Wäre da bloß nicht der freche Lavendel, wir könnten uns stundenlang unterhalten. Doch zum Abschluss des Liedes schwingen wir ein wenig mit. Denn Tabac Man ist unkonventionell freundlich, kumpelhaft und aufgeschlossen.
Das Erstaunliche ist, dass hier etwas umgedreht wurde. Ich kenne bisher keine Kreation, wo der Muskatellersalbei plötzlich die Hauptrolle übernimmt und sogar ein da capo con gran finale hinlegt. Der mutige Abschluss verdient Applaus und Hochachtung!
Was für ein herrlicher Rundgang in der guten Stube des Arbeiter- und Bauernstaates.
Wer hätte das 1989 erahnen können…
Der Fairness halber lasse ich meinen anfänglichen Kommentar stehen, um zu zeigen, dass ein Duft auch eine zweite Chance verdient hat. Leider kann ich hier nur eine einzige Bewertung abgeben, die jetzt eindeutig besser ausfällt, als bei der ersten Beschreibung. Damals waren es 7 Punkte.
Und ein Dankeschön an Stulle, er hat mich überzeugen können, es nochmal zu versuchen.
Er wollte sich mir nicht auf Anhieb erschliessen, roch er doch plakativ und stereotypisch beim Aufsprühen. Aber man sollte nach diesem ersten Eindruck den Vorurteilen im Kopf keinen freien Lauf lassen!
Kreiert wurde das Wässerchen im Jahr 2000. In jener Zeit herrschte eine merkwürdige Mischung aus nostalgisch ironischer Erinnerung an vergangene Jahrzehnte, hier besonders die 1970er und anfänglichen 1980er, und einer seichten Entschärfung herausstechender Kreationen.
Je länger ich mich mit Tabac Man befasse, desto spannender finde ich die Komposition. Der Duftverlauf gestaltet sich wesentlich komplexer, als der (zum Glück) karge Name vermuten läßt.
Es kommen mir ein paar musikalische Assoziationen in den Kopf.
Da wäre zunächst Beethovens Streichquartett op.135 in F-Dur. Der Anfang ist gemächlich und nett anzuhören. Ach, der gute alte Ludwig, keiner stört sich dran! Doch die Themen werden nach und nach komplexer, fordernder, dichter. Plötzlich ist die Stimmung eine gänzlich andere, eine Ernsthaftigkeit fordert Konzentration und Haltung, ohne dabei die Heiterkeit gänzlich zu unterdrücken.
Aus dem Pop-Bereich wäre die Gruppe Paula zu erwähnen. Zur Jahrtausendwende schafften sie es mit ihrem Hit „Als es passierte“ in die Charts. Doch dazu mehr im Verlauf des Duftes.
Also, dann knöpfe ich mir jetzt den geschrumpften, gut griffigen Flakon in Schwarz und lasse mich treiben. Der Sprühkopf läßt keine Wünsche übrig, hochqualitativ. Ein paar Zischer und ab an die Spree!
Für mich eröffnet der Duft wie das Berliner Kaufhaus Alexa, nicht schäbig, nicht zu edel. Zur sportlichen Grundstimmung jogge ich aber in Richtung Karl-Marx-Allee. Hier herrscht sowjetischer Neoklassizismus in monotoner Wiederholung, welcher seine Entsprechung in den vermeintlich sehr angenehmen Hesperieden samt eines aquatischen Akkords von Lavendel und Minze hat.
Da wäre er, der Duft der Umkleide, des Sportstudios, der Norm. Ich spaziere vom Strausberger Platz in Richtung Osten entlang der erneuerten Brunnen vor den blockartigen Häusern und komme mir wie in einer geometrischen Reihe vor: in regelmäßigen Abständen wiederholt sich etwas. Die Allee bietet keinen Fluchtpunkt, kein Wahrzeichen wie etwa einen Obelisken oder einen Triumphbogen. Es ist unklar, wohin die Reise geht. In meinen vorschnellen Gedanken wohnen vereinheitliche Menschen in diesen sozialistischen Palästen.
So startet auch das Lied von Paula. Sehr gefällig, funky, man möchte sofort die Hüften schwingen. Der anfängliche Text läßt sich gut einprägen, gemütlich einfach. Man könnte denken, dass der Song ohne Hürden konsumiert werden kann. Weit gefehlt!
Denn dann leitet das Veilchenblatt leicht metallisch zum Hauptakkord über. Hier finden sich Rosengeranie und Sandelholz in der Tradition des Hauses wieder, von Gartennelke und Kamille fehlt aber jede Spur. Es wird also nicht abgerundet holzig-erdig und ambriert hier. Eine neue Generation hat übernommen und schaut nicht wehleidig zurück. Ehre wem Ehre gebührt, aber jetzt setzen wir neue Zeichen!
Ein würziges Paar, Koriander und vor allem Kardamom, umhüllen das blumige Holzige. Und dank des klassischen Trios, Eichenmoos, Vetiver und viel Patchouli, bekommt der Akkord einen tiefgrünen Mantel mit holzig-brauen Minitupfern. Kenne ich das nicht aus den 1970ern? Nein, nein, hier zitiert man nur in Anklängen, der grüne Dufteindruck ist erquickend anders!
Der Lavendel schwingt übrigens tänzelnd die gesamte Zeit mit, er läßt sich nicht so schnell bändigen.
Von der anfänglichen Gleichmacherei keine Spur, hier wird es komplexer.
Ich bin am Boxhagener Platz angelangt und ruhe mich auf einer Parkbank aus. Das Treiben um mich herum wird vielfältiger.
Dazu eine Kostprobe des mittleren Teils des Liedes, jetzt nur noch in Begleitung der E-Gitarre:
An einem leblos leeren, endlos langen Vormittag
blieb nur noch Warten auf den Anruf,
der das Glück versprach.
Ja, es wird schwieriger, unbekümmert zum Lied zu tanzen.
Und der Duft mahnt zum aufrechten Gang, denn gute, alte Bekannte der 1980ern läuten den Endspurt ein.
Da wäre diese balsamische Tanne, eine nette Aftershave Backfpfeife zum Wachwerden. Junger Mann, jetzt wird es ernster!
Ich biege wieder in die Karl-Marx-Allee ein, und hoffe auf einen guten Platz in der ČSA-Bar.
Plötzlich kommen mir die Bauten nicht mehr so eintönig vor, denn ich bin vorhin an waschechten Plattenbauten der nächsten Generationen vorbeigelaufen und war erschüttert. Ich erkenne jetzt eine großstädtische Pracht, großzügige Räume und einen unverkennbaren Charakter dieser Allee. Die Zwillingsbauten am Frankfurter Tor ersetzen den Triumphbogen mit ihren mächtigen Türmen. Mit filigranen Säulen stützen sie sehr schöne Kuppeln.
Und nun wird es vertraut vornehm. Mein über alles geliebter Muskatellersalbei kommt im feinen, durchaus sportlichen Zwirn daher und möchte sich über ernstere Themen unterhalten. Wir machen es uns gemütlich an der Bar, umgeben von einem leichten Hauch Vanille, wie ein durchsichtiger Schleier.
Jetzt folgt auch der schwerere Teil des Liedes:
Zu früh am Morgen brach das Licht des Tages über mich,
um zu erinnern an die Schrecken einer schlechten Welt.
Der Tag verlief - ich sah ihm zu und sah, dass nichts geschah.
Blieb nur noch Warten auf den Anruf,
der das Glück versprach.
Wäre da bloß nicht der freche Lavendel, wir könnten uns stundenlang unterhalten. Doch zum Abschluss des Liedes schwingen wir ein wenig mit. Denn Tabac Man ist unkonventionell freundlich, kumpelhaft und aufgeschlossen.
Das Erstaunliche ist, dass hier etwas umgedreht wurde. Ich kenne bisher keine Kreation, wo der Muskatellersalbei plötzlich die Hauptrolle übernimmt und sogar ein da capo con gran finale hinlegt. Der mutige Abschluss verdient Applaus und Hochachtung!
Was für ein herrlicher Rundgang in der guten Stube des Arbeiter- und Bauernstaates.
Wer hätte das 1989 erahnen können…
Der Fairness halber lasse ich meinen anfänglichen Kommentar stehen, um zu zeigen, dass ein Duft auch eine zweite Chance verdient hat. Leider kann ich hier nur eine einzige Bewertung abgeben, die jetzt eindeutig besser ausfällt, als bei der ersten Beschreibung. Damals waren es 7 Punkte.
Und ein Dankeschön an Stulle, er hat mich überzeugen können, es nochmal zu versuchen.
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