Channi
Channis Blog
vor 4 Jahren - 22.02.2020
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​Sinnliche Reise zum Ruhrpol

Gestern war ich bei einem alten Freund zum Geburtstag eingeladen. Wir hatten uns schon einige Jahre nicht mehr gesehen, mich hat es in die ostwestfälische Provinz verschlagen, er ist im Zentrum der größten Stadt Deutschland hängen geblieben, in Essen im Ruhrgebiet, wo wir beide studiert hatten.

Ich wusste gar nicht mehr, dass das so weit weg ist…

Ich lebe hier umgeben von Bauern und von Leuten, die vom Bauernhof kommen, aber ein anderes Handwerk gelernt haben. Wird gefeiert, dann gibt es die üblichen Verdächtigen (warmes Buffet mit Schnitzel und Hähnchenbrust, dreierlei Gemüse mit Sauce Hollandaise, Kroketten und Bratkartoffeln. Und wenn es ganz nobel wird, dann gibt es zusätzlich Tafelspitz mit Meerettich-Sauce). Das begehrteste Restaurant im Ort ist ein „Grieche“, gefolgt von einem „Italiener“ und der gutbürgerliche Laden mit einigen ambitionierteren Gerichten auf der Karte lebt hauptsächlich vom Catering. Gerammelt voll ist es dort nie, reservieren überflüssig.

Kulinarisch ist hier nicht der Nabel der Welt.

Das Ruhrgebiet ist anders. Jahrhunderte von Zuwanderung von Arbeitskräften von nah und fern ins industrielle Herz Deutschlands haben ihre Spuren hinterlassen.

Wie immer, wenn ich zu meinem alten Freund komme, ist die Luft blau, beißend und zum Schneiden dick. In meinem Umfeld raucht sonst niemand mehr, aber hier ist alles wie es früher war. ALLE Anwesenden rauchten, bis auf die 82-jährige Mutter des Geburtstagskindes. Zur Begrüßung bekam ich einen Prosecco angeboten, soweit normal. Dann wurde ich mit einem Hobby der alten Dame konfrontiert: Aufgesetzter. Man könnte es auch Likör nennen, aber alle nannten es Aufgesetzter. Der erste war mit Lakritz-Tagetes (sic!) aus dem eigenen Garten hergestellt, erinnerte an Ouzo, aber sanfter, trotz Zigarettenrauch ein Fest für Nase und Gaumen. Ihm folgte ein Holunder-Rhabarber-Likör (göttlich! Die Flasche hat den Abend nicht überlebt) und selbstgemachter Limoncello (mit authentischen, besonderen Zitronen hergestellt). Die vierte Likörflasche ist leider an mir vorbei gegangen. Und in dieses Duft-und-Geschmacks-Feuerwerk hinein gab es Abendessen:

Kartoffelgratin (gut!), Falscher Hase (wer ihn nicht kennt: Hackbraten, in dem ganze gekochte Eier versenkt wurden, weil Eier billiger sind - oder früher waren - als Fleisch, also ein Arme-Leute-Essen), gegart in einem Bett aus Gnocchi und mediteranem Gemüse, dazu gab es etwas, was zunächst wie Zigeuner-Soße aussah, aber viel schärfer war, korrigiere also zu Puszta-Soße (hausgemacht). Interessante Mischung? Oh ja.

Flankiert wurde das Ganze von Schafskäse mit Oliven, kleinen, panierte Schnitzelchen (kalt) mit Remoulade, Nussecken und mit phantasievollen Formen ausgestochenem, bunt glasiertem Blätterteig-Gebäck, runtergespült mit Bier, umnebelt von vielen weiteren Zigaretten und beschallt mit Jazz für Fortgeschrittene und Gitarrenrock der Siebziger. Das Dessert war politisch nicht korrekt, offiziell wurden Schokoküsse in der Mikrowelle aufgebläht und mit Eierlikör übergossen.

Schon lange sind meine Sinne nicht so vielfältig massiert worden!

Auf dem Heimweg wurde dann eine Erinnerung wach: Der Zigarettenqualm würde sich nicht verziehen, zum Verrecken nicht. Nicht aus den Klamotten und schon gar nicht aus dem Haar.

Zu Hause habe ich dann meine Kleidung direkt in die Waschküche gebracht, Waschmaschine gleich angeschmissen. Zum Duschen hatte ich keinen Nerv mehr (ich hab laaaanges Haar..) und hab mich an einen alten Trick erinnert: Parfum ins Haar sprühen. VIEL Parfum!

Zwanzig (!) Sprüher „Lily of the Valley“ von Wood of Windsor später war der Rauchgeruch gebannt und süßem Schlummer stand nichts mehr im Wege.

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