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vor 6 Jahren - 25.07.2018
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Aus Böhmens Hain und Flur

Unser ost-südöstliches Nachbarland Tschechien ist schön. Es gibt dort meist entspannte und humorvolle Menschen, die eine sehr lustig klingende Sprache sprechen (außer für Konsonantenallergiker), darüber hinaus ausgezeichnetes Bier, nahrhaftes und wohlschmeckendes Essen (Vegetarier sollten sich indes auf die Nachspeisen fokussieren oder gleich beim Bier bleiben) sowie wundervoll abwechslungsreiche Landschaften mit allerlei Gebirgen, Seen, Wäldern und Flüssen. Die Straßen und Eisenbahn- sowie Überlandbusverbindungen können sich mehr als sehen lassen und die nächste Burg oder das nächste Schloss ist eigentlich nie weiter entfernt als der Abstand zwischen zwei vom kleinen Maulwurf ("Ahoj!") produzierten Hügeln.

Was die menschlichen Ansiedlungen betrifft, war ich früher – in der ersten Hälfte der 90-er hielt ich mich dort oft auf – sehr auf Prag fixiert. Es war in seiner souveränen Schönheit meine Lieblingsstadt überhaupt, und ich war der Ansicht, wenn Tschechien einmal Teil eines Vereinten Europas würde, müsste dessen (also Europas) Staatsoberhaupt seinen Sitz auf der Prager Burg nehmen. Ein bisschen ist die Stadt mir seither fremd geworden. Das liegt weniger an den teils recht derben Einschlägen modernistischer Architektur ins Zentrum (das so geschichtsgesättigt ist, dass es das aber mühelos aushält), als an der Verwandlung mindestens der zentralsten und schönsten Plätze und Straßen in einen hochartifiziellen und oft unerträglich kitschigen (und/oder gesichtslosen) Laufstall für Touristen, die sich ihrerseits so durch die Straßen trampeln, dass man gelegentlich zum Menschenfeind werden möchte. Derartige Klagen über die verderblichen Auswirkungen des Fremdenverkehrs sind natürlich so problematisch wie langweilig. Man mag sie mir aber verzeihen, da ich vor 25 Jahren noch voll Freude erlebt habe, dass man feine Cafés und spannende Kneipen entdecken, interessante Leute auf den Straße treffen und Lebensmittelgeschäfte, Uhrmacher und schlichte lokale Imbisse (wie párek v rohlíkú) finden konnte, wo es heute nur noch sich wälzende Touristenmassen, Souvenirgeschäfte, Niederlassungen internationaler Mode- und Schmuckhäuser gibt sowie KFC- und Starbucks-Filialen nebst angeblich „original tschechischer Lokale“, deren Schilder aber merkwürdiger Weise ebenso wie die Speisekarten ausschließlich (!) in englischer Sprache gehalten sind und die vor 10 Jahren auch noch gar nicht existierten. Gut, so ist das Spiel, alles fließt, ich will nicht klagen.

Glücklicherweise konnte ich nicht fern von Prag vielfältigen Ausgleich für den Verlust finden. Die Wechsel- und Zufälle des Lebens brachten es mit sich, dass ich in den letzten Jahren des Öfteren durch allerlei böhmische Kleinstädte gekommen bin, die ich schlicht wundervoll fand. Damit meine ich weniger die noch relativ bekannten und historisch bedeutsamen „Perlen“ wie (zum Beispiel) Tabor oder Cesky Krumov, sondern einige 15.000-Seelen-Städtchen wie Melnik, Litomysl oder Podebrady, denen in den gängigen Reiseführern oft nur ein bis zwei Seiten gewidmet sind. Ich will heute ein paar Zeilen über Podebrady schreiben, das uns wie ein kleines Paradies vorkommt, obwohl es wahrhaft Spektakuläres dort nicht zu sehen gibt.

Die Kleinstadt Podebrady (deutsch Podiebrad) liegt eine halbe Autostunde nordöstlich von Prag am Ufer der Elbe. Wer auf der Straße von Prag anreist, fährt (passender Weise auf der „Prager Straße“) durch die Vororte im rechten Winkel auf das Elbufer zu, überquert den Fluss auf der einzigen (befahrbaren) Brücke und befindet sich direkt auf dem halbkreisförmigen Hauptplatz des Städtchens, dem Georgsplatz (Jiriho namesti). In seinen Proportionen, Farben und Formen ist er ein Kleinod. Seine eine Hälfte wird von einer Mariensäule dominiert, die andere von einem Reiterdenkmals Georgs von Podiebrads. Dieser wurde im Schloss Podiebrad geboren, das sich ebenfalls, wunderbar renoviert, zum Hauptplatz öffnet. Georg (Jiri) hatte nicht in allem eine gute Hand; eine Dynastiegründung gelang ihm ebenso wenig wie die Versöhnung mit dem kirchlichen Rom nach den Hussitenkriegen, und doch gilt er heute nicht zu Unrecht als einer der großen Könige Böhmens. Er war einer der wenigen Tschechen auf dem böhmischen Thron, das Land blühte unter seiner Regierung wirtschaftlich auf und er legte den visionären Plan einer Europäischen Föderation vor. Verstanden wurde er damit nicht, aber wer will den Zeitgenossen das verdenken, wo es doch heute wieder modern wird, auf „Europa“ zu prügeln. Im ersten Burghof findet sich, wohl im Gedenken an diesen Aspekt Georgs, eine Kunstinstallation mit 28 Herzen, eines für jeden Staat der EU.

Hinter dem Georgsplatz, also in Verlängerung der Prager Straße, erstreckt sich der wirklich geschmackvolle Kurpark, der weitgehend im Stil des Übergangs vom Jugendstil zur Moderne der 30-er Jahre gehalten ist. Podebrady mit seinen Mineralquellen ist nämlich Tschechiens jüngstes Kurbad. Hier kurten nicht schon Goethe wie in Marien- oder Franzensbad, hier wurden die ersten Quellen erst 1905 entdeckt und der Kurbetrieb wurde erst nach dem ersten Weltkrieg vollumfänglich aufgenommen. Trotz der Kuranstalten ist Podebrady keine Rentnerstadt - die Stadt und sogar der Kurpark selbst sind voller junger Leute und Familien mit Kindern, die Freilichtkonzerte im Park werden oft von jungen Prager Jazzrock-Bands bestritten. Das mag daran liegen, dass die Bäder nicht nur von Kranken, sondern auch von Pragern auf der Suche nach „Wellness“ in Form von Ayurveda-Behandlungen und dergleichen aufgesucht werden, mit Sicherheit liegt es aber daran, dass auch zwei andere Gruppen von "Auswärtigen" Podebrady bevölkern: Zum einen die vielen Radfahrer, die hier Station machen, denn Podebrady liegt am transeuropäischen Elbe-Radwanderweg und lädt zu einem Zwischenstopp ein. Zum anderen die ausländische Studenten, denn die Prager Karlsuniversität hat das Schloss übernommen und in Teilen desselben ein Institut für Vorbereitungskurse in tschechischer Sprache und Landeskunde eingerichtet: Hier können Auslandsstudenten, die in Prag ein Fachstudium absolvieren wollen, frei von den Ablenkungen der Großstadt ein Vorbereitungssemester verbringen, um in die nicht ganz leichte tschechische Sprache einzudringen.

Die Sehenswürdigkeiten, die Podebrady bietet, kann man, vergleicht man sie mit denen einer Großstadt, belächeln. Man kann sie aber auch bewundern, so wie sie sind, die beiden alten, jeweils ganz besondere Geschichten erzählenden Kirchen, das Elbemuseum, den Jugendstil-Friedhof, der einer der schönsten des ganzen Landes sein soll, und einige mehr. Bedenkt man, wie klein das Städtchen ist, kann man dagegen gar nicht anders, als den kulturellen und kulinarischen Angebote Respekt zu zollen: neben den Kurkonzerten gibt ein Kino und ein Theater, stilvolle Teestuben, Cafés, Bierkneipen und Restaurants, und man kann wandern, wunderbar radfahren, sich auf der Elbe mit dem Kajak oder dem Ausflugsdampfer vergnügen oder in einem der nahen Badeseen schwimmen. Bleibt man mehrere Tage, was sich lohnt, kann man in einer der neueren, liebevoll eingerichteten Innenstadt-Pensionen moderne, schicke Zimmer von der Größe einer Hotelsuite für den Preis von wenig mehr als einem Jugendherbergszimmer buchen.

Was mir bei unserem letzten Aufenthalt in Podebrady aufgefallen ist: Es gibt, jedenfalls im gesamten erweiterten Zentrum (vielleicht gibt es in den Vororten ein Gewerbegebiet mit Einkaufszentrum auf der grünen Wiese) keine einzige Kette. Keine gastronomische oder Backwaren-Kette: kein einziger McDonalds, KFC, Vapiano, Backwerk. Keine Modekette, keine Parfümeriekette, keine Schmuckkette, nicht einmal eine Supermarktkette konnte ich finden. Das ist so wundervoll, zumal es genügend fantasievolle, bunte, individuelle, inhabergeführte (und allenfalls etwas nostalgisch, aber keinesfalls grau-postkommunistisch wirkende) Läden gibt, die alle Bedürfnisse abdecken, von mehreren Bäckereien und Konditoreien über kleine Lebensmittelgeschäfte, Käsehandlungen und Haushaltswarenläden bis hin zu einigen ganz wenigen hübschen Souvenir- und Geschenklädchen. Eine Kategorie für sich bilden die Wäsche- und Galanteriewarengeschäfte, von denen es (wie übrigens auch in anderen tschechischen Kleinstädten) so unglaublich viele gibt, dass man sich die Frage stellt, ob alle Tschechinnen zwischen 8 und 80 mindestens einen Schrank voller Dessous ihr eigen nennen oder ob die Geschäfte, als eine speziell böhmische Art der Geldwäsche, gar keine Kunden haben und nur zum Schein existieren.

Eine (halbe) Ausnahme von der Ketten-Abstinenz Podiebrads konnte ich ausmachen: Auf dem Hauptplatz befinden sich zwei (!) Filialen einer Drogerie, die ich zwar nicht kenne, die aber eine überregionale Kette zu sein scheint - innen sieht es jedenfalls nicht sehr viel anders aus als bei Rossmann oder dm. Dort auf der Suche nach einem Alltagsprodukt stellte ich – und so bekommen diejenigen, die bis hierher durchgehalten haben, doch noch ihren Duftbezug – fest, dass es noch immer zwei tschechische Duftmarken gibt, die ich in der „Nachwende“-Zeit kennengelernt hatte, Alpa und Astrid, und dass diese mit ihren Rasierwässern und Colognes offenbar noch immer gut am einheimischen Markt vertreten sind. Da die Flakons allesamt für einen Appel und ein Ei, oder vielleicht für einen Knödel und einen Palatschinken zu bekommen sind, habe ich mich großzügig eingedeckt und dieser Tage, vorerst mit gar nicht so schlechten Ergebnissen, mit dem Testen begonnen. Kommentare werden sicher folgen.

Ein Hoch auf die böhmischen Städtchen fern der Massenstrecken, und ein Hoch auf die lokalen Dufttraditionen fern des internationalen Massenmarktes!

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