Salander

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Salander vor 7 Jahren 61 23
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Haltbarkeit
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Duft
"The perfume for a new gender order”
"Das Parfüm für eine neue Geschlechterordnung. Nicht wirklich weiblich, nicht wirklich männlich, sondern beides gleichzeitig. Inspiriert durch eine Generation, die sich von Geschlechternormen gelöst hat…“ (Quelle: Gurlain.com)

Ein Parfüm in einer Zeit, in der Frauen wieder deutlich signalisieren, dass sie nicht gewillt sind, zu alten Geschlechterrollen zurückzukehren und Männer sich immer häufiger die Elternzeit mit Ihren kleinen Kindern „gönnen“. In einer Zeit, in der gleichgeschlechtliche Ehe in vielen Ländern in Europa schon erlaub ist. Lui, bist du ein politisches Statement unter all den Unisexdüften, sogar eine Emanze?

Nein, ganz und gar nicht. Eher ein sanfter Vermittler. Während ich den Duft trug und mich mit dem Gedanken beschäftigte, wem der neue Guerlain stehen würde, kamen mir Eigenschaften in den Sinn, die durchaus weiblich oder männlich sein können: verletzlich, emotional, elegant, charmant, vertraut, begehrenswert. Diese Adjektive müssen ja auch nicht die Grenzen zwischen Männern und Frauen verwischen. Denkt einfach nur einmal an James Dean und danach an Lauren Hutton.

Lui. Was willst du uns wirklich sagen? Da ich der französischen Sprache leider nicht mächtig bin, habe ich Ponds zur Hilfe geholt und erfahren, dass lui ihm/ihr bedeutet. Im Vornahmen-Lexikon ist Lui als Jungenname hinterlegt. Jemand der so heißt, sollte „der Lebensfrohe, der Fröhliche“ sein. Ganz sicher beinhaltet der Name aber auch einen Hinweis an ein Parfüm aus dem gleichen Traditionshaus: Liu. An der Verbindung könnte man vielleicht ansatzweise zweifeln, wenn das Flakon nicht auch noch plakativ darauf hinweisen würde.

Eine Brücke wird hier nicht direkt geschlagen, viel mehr werden zwei Enden einer Skala markiert. Die laute Liu mit den No.5 Aldehyden, die überfordern kann und mit ihrem Sillage Städte bedeckt. Die Powerfrau versus angenehmer Begleiter in allen Lebenslagen. Je nachdem, wofür man sie engagiert, können sie beide wunderbar passen. Wobei für mich ersteres eine opulente Oper symbolisiert, letzteres eine Nacht unter Sternenhimmel mit dem besten Freund.

An dieser Stelle möchte ich ein-zwei persönliche Worte zu der Ehrenrettung von Lui und seiner leisen Duftaura schreiben. Mehr ist mehr, lautet die Devise in fast allen Parfumo-Bewertungen. Kann man jemanden nicht aus mindestens zwei Meter Entfernung „wittern“, wird dem Duft ein großer Mangel bescheinigt. Ich frage mich ständig warum. Ich teile meine Schätze oder mein Innerstes auch nicht mit jedem. Für mich ist ein Duft durchaus ein Teil von meiner Persönlichkeit, symbolisiert meine Stimmung und ganz nah an mich lasse ich nur sehr wenige Menschen. Jawohl, es gibt auch bei mir die „Sunshine“-Tage, aber immer nur recht dezent dosiert. Ich „schreie“ meine Gesprächspartner gewöhnlich auch nicht an. Ich poste mein Leben nicht auf Instagram. Und ehrlich, seid ihr entspannt, wenn ihr von einem Duft Kopfschmerzen habt, vor allem, wenn die Quelle externer Natur ist? Unbeeinflussbar. Ich finde Lui unter anderem gerade deshalb so angenehm, weil er nicht mit Gewalt Zutritt zur Bühne verschafft sondern mit seinem Charm anziehend wirkt.

Und jetzt kommt der Teil meiner Beschreibung, wofür Parfumo-Leser immer am meisten interessieren. Wie duftet dieses Parfüm?

Magst du Nelken? Wenn deine Antwort "ja" lautet, lese weiter. Magst du sie nicht, ziehe nicht über Los und widme dich eher anderen Neuerscheinungen. Denn diese aus der Mode gekommene und jetzt neu-entdeckte Blume ist das Hauptthema von Delphine Jelks und Thierry Wassers Kreation. Ich möchte hier kurz anmerken, dass Delphine Jelk diejenige ist, die auch schon die Tuberose für Joyeuse Tubereuse gezähmt hat. Denn auch ihre Nelke verliert die urtypische Assoziation. Vom Bauerngarten bleibt hier nicht viel übrig. Ihre Nelke ist eher eine schöne Blüte im Knopfloch eines eleganten Jacketts. Altmodisch, ruft das Gegenlager. Ein Zeichen der Neoromantik, sage ich.

Ich kann Wohlgerüche ganz schlecht „filetieren“. Es gibt Parfumos unter euch, die nach einem genüsslichen Zug am Handgelenk sogar "Duftmoleküle" auseinander halten können. Und die Pyramide einfach nur herunterzubeten ist für mich keine Option. Aber was ich außer Nelke wahrnehme ist Leder und noch etwas Balsamisches. Während ich den Duft trage, fühle ich mich ausgeglichen, eingelullt von einer positiven Grundstimmung. Die Nelke ist heruntergedimmt und freundlich. Das Leder ist nicht harsch, kein Wildleder, nichts Aufreizendes, viel mehr hat es die Aura eines Lieblingsstücks. Es könnte eine Jacke sein, ein Gürtel, ein Sessel, vertraut, tolles Handwerk, heimelig, ästhetisch, gleichzeitig modern und zeitlos. Die balsamische Note beruhigt mich immer wieder und weist meinen hektischen Bürotag in seine Schranken, wenn sich meine Nase meinem Handgelenk nähert.

Offensichtlich verbindet Benzoe alles. Aber wie duftet denn diese Zutat überhaupt? Bei Wikipedia ist die folgende Definition zu finden: „Der Geruch des leicht rötlichen Siam-Benzoe ist haftend, intensiv balsamisch, leicht schokoladig und erinnert durchaus an Vanille“. Ich habe mal gelesen, dass Benzoeöl beruhigend und ausgleichend wirkt. Jetzt haben wir es. Das wird der Grund sein, warum Lui den Träger in ein wohliges Gefühl der Wärme und Geborgenheit einhüllt.

Die Haltbarkeit betrug bei mir ca. 12 Stunden. Um 7:00 h aufgetragen blieb bis 19:00 h nur noch ein sehr angenehmer balsamischer Haut-Akkord übrig. Von Guerlinade keine Spur, ich vermisse sie hier aber ganz und gar nicht.

Fazit: Ich mag Guerlain und lande immer wieder in den „Fängen seiner Odeurs". Ja, ich ich liebe dessen alte Klassiker und schätze viele seiner Neuerscheinungen. Ich kaufe aber keines der Flakons blind. Lui könnte von Xerjoff oder von Prada, von s.Oliver oder ein No Name Produkt sein, ich würde für ihn, sie, es die Lanze brechen. Er, sie, es ist ein kleines romantisches Kerzenlicht unter den vielen Diven und Selbstdarstellern in der Parfümindustrie. Und ich werde ihn, sie, es aus meinem Weihnachtsgeld definitiv kaufen.

23 Antworten
Salander vor 7 Jahren 28 16
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Sillage
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Haltbarkeit
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Duft
Die These-Antithese-Synthese
Es ist eine große Bürde, Parfümeur bei einem Traditionshaus zu sein. Der Erfolg vergangener Jahrzehnte, Düfte, die Geschichte schrieben, innovative Vorgänger, das alles kann ein erdrückendes Erbe sein. Stéphane Humbert Lucas hat das Glück, von Anfang an seinen eigenen Weg gehen zu können, ohne sich mit der Vergangenheit und alten Generationen auseinander setzen zu müssen. Es ist jedoch eine enorm große Hürde, eine Marke in der überfordernden Fülle der heutigen Angebotsvielfalt zu etablieren.

Wie will sich Stéphane durchsetzen? Was treibt ihn eigentlich an? Was inspiriert ihn? Wie kam sein Konzept zustande? Nach eigener Aussage führte ihn seine rastlose Suche nach dem Absoluten zu Symbolen, Fahnen und Wappen. „Nach und nach, über viele Jahre hinweg habe ich die Welt als Ganzes erkannt, als eine ganze Einheit, einen unsichtbaren Felsen voller bemerkenswerter Individuen, großer Herrscher, gekrönter Häupter, ehrenvoller Stammesführer, alle mit großer Verantwortung und angetrieben durch ihren unauslöschlichen Glauben. Der Eifer und die ruhelosen Seelen hinter diesen eindrucksvollen Persönlichkeiten inspirieren mich und treiben mich immer weiter an.“

Sein Konzept - sein Streben nach dem Absoluten - findet durch seine Arbeit eine stimmige Umsetzung und die verdiente Beachtung des nischenverwöhnten Parfüm-Konsumenten. Die Optik der Flakons ist hervorragend, hat eine hochwertige Anmutung. Ohne die opulenten Düfte, die ausgesuchte Ingredienzien beinhalten und mit viel Bedacht und ein wenig ketzerisch zusammengestellt werden, wären die schönsten Hüllen bedeutungslos. Ihm gelingt die Fusion des Inneren und Äußeren. Seine spirituell angehauchten - ja ich nenne es bewusst so - Schöpfungen wirken leicht berauschend und manchmal verwirrend.

Ich selber, zunächst angezogen von den "epischen" Flakons seiner 777-Serie, habe einige von seinen Düften getestet. Allesamt hochwertige Kreationen aber nur Mortal Skin fasziniert mich. Diese Schlange wird wohl mein finanzieller Ruin.

Ich mag grundsätzlich feminine und eher elegante Düfte. Und doch brauche ich immer und unbedingt mindestens eine Antithese, die meistens auch polarisiert. Mortal Skin ist für mich ein fesselndes Meisterhexenwerk mit eingebauten Seelenfanghaken.

Und wie beschreibe ich jetzt den hintergründigen Duftverlauf? Es ist beinahe egal, denn ich kann euch hier mit meinen Worten nur eine grobe unfertige Skizze, umrahmt von sehr viel Nebel, zeigen.

Ich begegne sofort den "Blick der Schlange", ein Sog von beerig-fruchtigen Nuancen, matten, humanoiden Noten, das Gefühl von Auge in Auge, "skin to skin". Weiches Leder kann ich von Anfang an ausmachen und ein wenig Latex. Auch wenn ich weiß, dass Tinte auch schon in anderen Parfüms verwendet wurde, wäre ich niemals auf die Idee gekommen, diesen Akkord herauszufiltern. Mit Hilfe der Pyramide ist die Note aber durchaus wahrnehmbar. Der fruchtige Auftakt verabschiedet sich langsam und würdevoll, Hand in Hand mit der Tinte. Auf der Bühne erscheinen neue Protagonisten. Grüne, balsamische, fein gepuderte Töne umtänzeln die Trägerin sanft und bringen ihre Aura raffiniert zum Leuchten. Die weiche Mischung von Leder und Latex bleibt dabei erhalten. Der Ausklang ist tief, pudrig und sowohl mit Gewürzen wie auch mit dunkler unsüßer Vanille garniert. Ambra und Musc beruhigen die "Gemüter" sanft und geben dem Duft einen kuscheligen Twist.

Die von Anfang bis zum Schluss vorhandene Erotik präsentiert sich stolz aber auch leise und verletzlich. Ein Hauch mehr "Lautstärke" und der subtile Gesamteindruck wäre ruiniert. Es ist so, als würde die dezente Sillage ein wenig die Grenze zwischen "Wirt" und Duft auflösen. Der Effekt ist erstaunlich und könnte vielleicht mit "second skin" beschrieben werden.

Auch der niederländischen Tänzerin Margaretha Geertruida Zelle, die später als die berüchtigte Spionin Mata Hari berühmt wurde, hätte dieser Duft sicherlich gestanden. Meiner Meinung nach sogar Kleopatra. Ist Mortal Skin deshalb auch tödlich? Nein, sicher nicht! Aber durchaus "gefährlich".

Anosmia, danke dir für diesen tollen Impuls.
16 Antworten
Salander vor 8 Jahren 48 19
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Flakon
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Sillage
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Haltbarkeit
9
Duft
“I have the simplest tastes. I am always satisfied with the best.” Oscar Wilde
Die ersten Tage nach meiner Anmeldung auf Parfumo vergingen wie im Rausch. Ich las Kommentare - wenn ich genügend Zeit hatte – vom Morgengrauen - bis zum Sonnenuntergang. Bald hatte ich die fixe Idee, eine kleine überschaubare Sammlung aufzubauen, die nur die „Besten der Besten“ beinhaltet. Dabei ging ich nicht streng nach den klassischen Konzepten vor. Ich suchte nicht unbedingt nach dem schönsten Chypre- oder Fougère-Duft, vielmehr wollte ich die Superlativen an weißen Blüten, an cremigen Kreationen, feinen Puderwölkchen, balsamischen Seelentröstern, Engelsledern, fröhlichen Colognes. Und wenn ich einen Kandidaten mit der Bestnote entdeckte, wusste ich immer sofort, hier kann ich inne halten, hier habe ich ein wunderbares Tröpfchen gefunden. Das ist meines.

Am schwierigsten gestaltete sich die Suche nach der perfekten Rose. Was ich wirklich will, wusste ich nicht so recht. Ich ging eher nach dem Ausschlussprinzip vor. Das Parfüm sollte in mir keine Assoziationen wie Gypsy- oder Hippie-Romantik hervorrufen, auch keine UdSSR-Charme, sollte nichts Madamiges enthalten und kein Sillagenmonster sein. Als Kind mochte ich Tee- und Wildrosen und mir gefiel die Vorstellung, wie es am imaginären Schloss von Dornröschen duften musste, als der edle Prinz dort eintraf. Somit war mein Steckbrief, gelinde gesagt, ziemlich unvollständig.

Gelegentlich verlor ich die schönste Rose aus den Augen. Es gab immer wieder Ablenkungen, Empfehlungen und damit auch neue Entdeckungen. Dann habe ich die Kommentare hier zu "Rose of no Man's Land" gelesen und etwas getan, das ich unter Eid abgeschworen habe. Im Souk auf Verdacht ein Flakon gekauft.

Das Parfüm entspricht meiner vagen Vorstellung von Rose, gleichzeitig aber auch nicht. Das liegt an den anderen Protagonisten, aber dazu später mehr. Die Blüten sind von Anfang bis zum Schluss präsent. Die türkische, oder auch Damaszener-Rose genannt, ist kletterrosenartig mit leicht nickenden rosafarbenen und üppig duftenden Kelchen. Damit wurde hier nicht, wie von der Namensgebung suggeriert, eine wildwachsende Art verwendet. Die Aura des ursprünglichen Extraktes wirkt aber durchaus natürlich, geerdet und „frei“. Frische Rosenblütenblätter - der Duft und die seidig schimmernden Farben – sind der Symbol von Sinnlichkeit. Aber sie können nicht nur betörend sondern auch übertrieben wirken. Die Lautstärke wird vom Parfümeur geschickt durch "grünliche" Holz-Töne gedimmt. Das ist sicherlich der Papyrus-Pflanze zu verdanken. Als ob eine sehr dünne, kaum wahrnehmbare Papyrus-Schicht die Rosen überzeihen würde. Und dann soll laut Duftpyramide auch noch Himbeerblüte mit von der Partie sein. Wir hatten früher unzählige Himbeersträucher im Garten und ich wusste nicht mal, dass deren Blüten duften. Ohne die Pyramide zu kennen, hätte ich viel mehr gedacht, dass die Rosen von Brombeeren umrahmt werden und diese zarte Fruchtigkeit verströmen. Der weiße Amber verleiht dem Duft einen Hauch von kuscheliger Körpernähe. Stunde um Stunde verschmelzen die einzelnen Ingredienzen zu einem einheitlichen Ganzen.

Ich könnte meine Eindrücke sicherlich noch erweitern. Doch dieser minimalistische aber durchaus großartige Duft bedarf keine weiteren Worte. Es ist, was es ist, eine wunderbare, sinnliche und leise Rose mit ein paar Begleitern, die die Blüte im besten Licht erscheinen und modern wirken lassen.

Das Flakon – einer Apothekerflasche nachempfunden – passt zum Duft, auch wenn es mein Herz nicht höher schlagen lässt. In einer Zeit, in der reife Männer sich genauso kleiden, wie ihre Söhne im Kindergartenalter und in Sneakers und jogginganzugähnlichen Baumwollhosen zum Dinner erscheinen, ist es wohl kontemporäre Kunst.

Ich habe gelesen, dass die Inspiration für „Rose of no Mans Land“ uns in den Ersten Weltkrieg zurückführt. Die Krankenschwestern, die damals für das Rote Kreuz arbeiteten, taten dies oft unter Einsatz ihres Lebens und hinterließen damit bei vielen Soldaten, einen nachhaltigen Eindruck. Der 1918 veröffentlichte Song „The Rose Of no Man’s Land“ von Jack Caddigan und James Alexander Brennan huldigte diesen Frauen. Auch das besonders bei den britischen Streitkräften beliebte Tattoo mit demselben Namen war ursprünglich vor allem eine Erinnerung an die Fürsorge, die der Träger von einer Krankenschwester an der Front erfahren hatte.

Mich wundert die ausgefallene Intuition nicht. Ben Gorhamm, der Gründer und Creativ Director von Byredo („by redolence“) ist der Punk-Rocker im Parfüm-Business. Wobei sich seine Unangepasstheit eher auf Innovation als auf Polarisierung bezieht. Er beschreibt sein Credo wie folgt: „Die Welt der Düfte und ihre Wirkung auf meine Erinnerungen und Eindrücke hat mich seit jeher fasziniert. Mit Byredo möchte ich meine persönlichen Erfahrungen kommunizieren und damit zu einem nahezu kollektiven Gedächtnis beitragen, das Orte und Zeiten heraufbeschwört. Ich bin der Überzeugung, dass Tradition und Innovation zusammengebracht werden sollen – in der Anwendung moderner Ansätze, ohne dabei althergebrachte Techniken der Duftherstellung zu vernachlässigen.“

Er ist eine authentische „Marke“. Eine, die ich sicherlich noch sehr viel genauer unter die Lupe nehmen werde.
19 Antworten
Salander vor 8 Jahren 42 13
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Flakon
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Sillage
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Haltbarkeit
9.5
Duft
Monsieur Wasser und sein edelstes Wasserchen oder Nichts ist zeitloser als Eleganz
"Als ich 17 Jahre alt war, sagte mein Großvater zu mir: Wir machen Parfüms für die Frauen, die wir lieben oder bewundern. Daran habe ich mich mein Leben lang gehalten". - mit diesen Worten äußerte sich Jean-Paul Guerlain, der letzte und nicht mehr aktive Parfümeur aus seiner berühmten Familie, zum Credo des Traditionshauses. Und auf die Frage, wie Parfüm funktionieren würde antwortete er: "Das spielt sich vor allem auf der emotionalen Ebene ab. Ein Mann nimmt eine Frau über ihren Duft wahr." ... "Frauen tragen also Parfüm, um gut zu riechen. Und um verführerisch zu sein für die Männer".

Um ins Zentrum des Guerlanischen Parfümuniversums vorzudringen und um zu verstehen, worauf sich Thierry Wasser eingelassen hat, als er den Posten als Leiter des Hauses übernahm, sind diese Worte von großer Bedeutung. Die Marke Guerlain ist seit vielen Jahren deshalb so erfolgreich, weil sie sich auf die einfache Erkenntnis bezieht, dass Frauen Männer verführen wollen. Und umgekehrt. Dabei ist Parfüm das Mittel zum Zweck.

Auf der Klaviatur der süßen Verlockung spielt Monsier Wasser auch mit L'Heure de Nuit. Den Duft selber hat er nicht kreiert, sondern L'Heure Bleue zu seinem 100. Jahrestag erfolgreich „entstaubt“. Zugegeben, ein Duft aus 1912 bedarf in den meisten Fällen eine zeitgemäße Generalüberholung. Das Original ist aber eine Ikone. Zweifelsohne ein Parfüm, das Geschichte geschrieben hat. Darf jemand an einem Kultobjekt "herumdoktern"?

Wenn Thierry Wasser etwas kann, dann Rezepturen verfeinern, sich in alte Traditionen hineinfühlen und gleichzeitig modern zu interpretieren. Gartennelken wirken heute altmodisch, wurden also bei L'Heure de Nuit einfach weggelassen. Stattdessen ergänzte er die Essenzen mit Jasmin, Rose und Heliotrop. Was alles noch hinzugefügt oder worauf verzichtet wurde, wissen wohl nur Monsieur Wasser und Jean-Paul Guerlain. Dass die Angaben zu Duftnoten nie vollständig sind, um das Geheimnis eines Parfüms zu wahren, sind allgemein bekannt. Ich glaube, dass die Duftwicke bei beiden Wohlgerüchen eine bedeutende Rolle spielt.

Die handwerklichen Details sind für uns Parfüm-Trägerinnen doch wenig wichtig, die Stimmigkeit und der Gesamteindruck zählen bei einer Mixtur. Und was soll ich sagen? Diese ätherische, bläuliche Flüssigkeit im Bienenflakon hat genauso viel Stil und Eleganz, wie Catherine Deneuve, und so viel Charme und Grazie, wie Audrey Hepburn. Durch Anis und Iris entsteht eine tolle Pudrigkeit, - wie in einem feinen Boudoir - die vom kostbaren Make-Up inspiriert sein könnte. Heliotrop steuert nicht nur eine minimale Honig-Note bei, sondern auch einen Hauch Kamille. Der Duft ist süßlich, aber nicht zu sehr, keine Sekunde lang Gourmand. Hier bekommt man die sinnliche Verheißung von Weiblichkeit mit einer leichten humanoiden Note, auch wenn diese in L'Heure Bleue deutlich ausgeprägter ist. Und aller Anfang endet bei Guerlain in der herrlichen Guerlinade, in dieser Mischung aus Rose, Bergamotte, Jasmin, Tonkabone und Vanille.

L'Heure de Nuit ist kein Duft mit stark vordergründiger Erotik. Guerlain ist an dieser Stelle viel mehr der Botschafter vom Luxus mit Understatement, vom Stil, von Exklusivität, von lieblichen Gefühlen und gleichzeitig von angedeuteten leidenschaftlichen Passionen. Ein Parfüm, welches gerne spielt und dafür sorgt, dass unsere Welt ein bisschen besser duftet.
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Salander vor 9 Jahren 43 15
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Duft
Sommersonnenwende in den Karpaten oder das Geheimnis der blauen Stunde
Wir schreiben das Jahr 1912. Das Belle Epoche geht langsam aber sicher zu Ende. Die politischen Weichen stehen auf Krieg, was ein Durchschnittsbürger zu dieser Zeit noch nicht wirklich wahrnimmt. Auguste Renoir, Claude Monet, Claude Debussy prägen die Kunst-, Rilke, Thomas Mann, Kafka und Virginia Woolf die europäische Literaturszene. Obwohl es in der Wirtschaft kriselt, wird es in gehobenen Kreisen Sitte ein Automobil zu besitzen. Reisen in ferne Länder bilden die Ausnahme, Osteuropa gilt als exotisches Ziel. Die "Abenteurer", die trotzdem Balkan oder die Karpaten bereisen, erzählen über satte Wälder und Wiesen, Naturvölkern mit Zitter- oder melancholischer Balalaika-Musik, interessanten Bräuchen und mystischen dunklen Sagen. Eine Reise mit dem berühmten Orient-Express ist zwar deutlich bequemer, dafür aber absolut privilegiert. Die fatale Jungfernfahrt der Titanic findet auch im besagten Jahr statt, das Passagierschiff der White Star Line sinkt im April auf dem Weg nach Amerika im Nordatlantik.

In dieser Zeit arbeitet Jaques Guerlan an einem Parfüm, wofür er die Inspiration in der Abenddämmerung sieht. Mehr von Romantik - er liest gerne Goethe und interessiert sich grundsätzlich für Literatur, Mythen, Sagen und Folklore - als vom Impressionismus geprägt, ist er auf der Suche nach einem melancholischen, lieblichen, betörenden Duft. Die blaue Stunde wird in den Sagen aus den Karpaten mit der Zeit des Tages in Verbindung gebracht, in der überirdisch schöne Feen mit Blumenkranz im Haar im Kreis tanzen. Es wird erzählt, dass der Himmel in verbotenen Wäldern den Blütenkelchen gerade in diesen Augenblicken betörende Wohlgerüche entlockt. Dass Mädchen zur Sommersonnenwende in der Lage sind Männern mit Düften und Liebestränken den Verstand zu rauben.

Jaques Guerlain ist Leonardo da Vinci nicht unähnlich, sorgfältig, präzise, hoch innovativ und geheimnisvoll. Er erfindet neue Verfahrenstechniken, perfektioniert seine Arbeitsweise, ist unermüdlich auf der Suche nach ungewöhnlichen Duftnoten, Eindrücken in der Natur, literarischem Gedankengut, Inspirationen aus fremdländischen Bräuchen und Geschichten, die ihn auf ungewöhnliche Ideen bringen. Er gehört zu denen, die von den Strapazen einer langen Reise Richtung Osten nicht abschrecken lassen. Er sucht in Ungarn, Rumänien und Bulgarien nach neuen Aromen und entdeckt in den Karpaten die oben beschriebene Saga über Feen und parallel in der Realität junge Mädchen, die bei Dorffesten im Rahmen der Juni-Sonnenwende Blütenkränze tragen. Häufig wird im Haarschmuck echtes Labkraut verarbeitet, dessen relativ kleine, goldgelbe in Rispen angeordnete Blüten intensiv nach einer Mischung von Honig, Heu, Thymian, Kamille und Lavendel riechen. Diese Blume wurde noch nie zuvor in der Parfüm-Industrie verwendet, geschweige denn extrahiert. Auch er kann das nur wild wachsende Labkraut vor Ort nicht "konservieren", die sinnliche Erfahrung vergisst er aber nicht und verwebt seine Eindrücke mit anderen Inhaltsstoffen bei der Kreation von L´Heure Bleue.

Eine andere Inspirationsquelle ist seine Vorstellung, die blaue Stunde mit blauen Blüten zu wiedergeben. Es gibt allerdings nicht viele blaue Arten im europäischen Pflanzenreich, die gut wahrnehmbare Düfte absondern. Wenn Mutter-Natur mit einem auffälligen Farbpigment Bestäuber - hauptsächlich Bienen - anlocken will, verbindet sie mit der Pflanze gewöhnlich keine starken Düfte. Blaue Blumen, die sanfte, wenig gute wahrnehmbare Geruchswölkchen verströmen, vermag nur ein Könner zu extrahieren. Jaques Guerlain verwendet unter anderem Duftwicke, Heliotrop, Hyazinthe, Veilchen und Iris, um deren blaue Essenz einzufangen. Damit hat zum ersten Mal jemand ein Extrakt einer Farbe gewidmet.

Auch wenn die Duftwicke, auch duftende Platterbse genannt, unter den Inhaltsstoffen weder als Herstellerangabe noch auf Parfumo auftaucht, bin ich mir sicher, dass diese liebliche, zarte Blume zur Basis gehört. Es gibt einige nicht offizielle Quellen, die sie ebenfalls nennen. Und meiner Meinung nach spielt hier auch die Zuckererbse eine tragende Rolle. Die leicht süßliche Note eines zerdrückten kleinen grünen Kügelchens aus der Schote hat eine seltsame aber durchaus angenehme matte Nuance, die leicht menschelt. Die nehme ich in L´Heure Bleue wahr.

Im Auftakt wird einem gnadenlos eine Art Mottenkugel entgegen geschleudert. Diese Kopfnote auf einem Teststreifen hat mich Jahrzehnte von L´Heure Bleue ferngehalten. Aber im Herz und in der Basis danach entwickelt sich etwas Betörendes, Zartes, wunderschön Weibliches, Humanoides, das sich unmöglich in Einzelteile zerlegen lässt. Diese goldene Flüssigkeit ist der Blütenkranz der Feen aus den Sagen, ein Bauerngarten mit Nelken, ein olfaktorischer Liebestrank, feiner Kompaktpuder mit einem Wildblumenstrauch, die Reinheit das Mirabellenmädchens aus Süskinds „Das Parfüm“.

Zu seiner Zeit haben Damen auf der Titanic zwar L´Heure Bleue noch nicht tragen können, weil der Duft einiger Monate nach dem Untergang des White Star Line Passagierschiffes lanciert wurde. Doch, wenn ihr an die feinen Ladies aus James Cameron gleichnamigen Film denkt, könnt ihr euch sicher vorstellen, zu welchen modischen Vorlieben das Parfüm damals passte. Auch wenn heute L´Heure Bleue aus dem Rahmen fällt, ich selber trage diesen Duft sehr gerne, sogar im Büro. Ich mag es eher reduziert, am liebsten sind mir Seidenblusen, Hosenanzüge und einfarbige figurbetonte Kleider. LHB ist meine Art einen kleinen Stilbruch herbeizuführen, um ein bisschen anders und unangepasst bleiben zu können.

Bei keinem Parfüm habe ich bisher solch einen himmelweiten Unterschied zwischen Vintage und Reformulierung entdeckt wie hier. Ich wage zu behaupten, dass Neu und Alt unterschiedliche Düfte sind, die sich ähneln. Die alte Version ist viel leiser und lieblicher, die neue ist deutlich präsenter und weniger „organisch“. Ich bevorzuge die ursprüngliche Komposition mit natürlichen Inhaltstoffen.

Wer nicht nach Düften mit den Stichworten: animalisch, böse und frech sucht, sondern weiblich, gepflegt, attraktiv sein möchte, - und damit meine ich ganz sicher nicht brav und langweilig! - der sollte hier kurz inne halten und unbedingt testen. Für jüngere Parfumos empfehle ich die großartige moderne Interpretation von Thierry Wasser – L´Heure de Nuit.

L´Heure Bleue gehört für mich in die Top 10 der Besten aller Zeiten! Hall of Fame!
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