24.03.2019 - 19:11 Uhr
Anarlan
27 Rezensionen
Anarlan
Top Rezension
79
Gestundete Zeit
„Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.“
Es sind zwei Werke des großen Jaques Guerlain, die mir eine Beschäftigung mit Zeitlichkeit geradezu aufnötigen:
L´Heure Bleu und Mitsouko. L´Heure Bleu ist das grausamere der beiden, denn es lässt mich spüren, was Zeit bedeutet, während sie vergeht. Es ist ganz auf die Gegenwart ausgerichtet, weiß aber, dass die Uhr tickt.
Mitsouko hat das Leiden an der Vergänglichkeit hinter sich. Mitsouko hat fertig. Legt sich spröde und unsterblich schön auf ihr bitteres, moosiges Bett, eine Handvoll überreif trockener Aprikosen im Arm und läßt die Jugend rasen.
Auch wenn Physiker und Philospohen sich gleichermaßen die Zähne daran ausbeißen, Zeit zu erklären, so kennt Sprache Zeit in all ihren schönen und schrecklichen Eigenschaften: Wenn Zeit im Fluge vergehen, sie zwischen den Fingern zerrinnt oder still zu stehen scheint, dann bildet Sprache Zeit ab. Sogar die größte aller Ungeheuerlichkeiten vermag sie kurz und treffend zu bebildern: Dass meine Zeit eines Tages abgelaufen sein wird. Ticktack.
Schon in der Kindheit gab es diese Anflüge von in sich gekehrter, verträumter Schwermut, wenn die letzten Sonnenstrahlen des lichterfüllten Tages durch das Küchenfenster fielen, während die Nacht am Horizont heraufzog und die Uhr an der Wand mit ihrem unerbittlichen ticktack Veränderung verkündete. Die dämmerige blaugetönte Passage der Heure Bleu, dieser Übergang zwischen dem Gewesenen und der im Werden begriffenen Zukunft war immer eine Stunde des bittersüßen Innehaltens, des Festhaltenwollens an der Gegenwart.
„Es gibt eine süße Melancholie, die nichts anderes ist als eine angenehme Träumerei, eine liebliche Schwermut. Sie ist die Befindlichkeit einer Seele, die sich den lebhaften Versuchungen verschließt, die sie erschöpfen würden und sich vielmehr den Illusionen der Sinne hingibt und ihr Behagen im Nachdenken darüber findet, was ihr Schmerzen bereitet.“ (Dictionnaire de Trévoux, 1771)
Als Jaques Guerlain L´Heure Bleu schuf, erlebte die Stadt Paris ihre melancholisch blaue Stunde. Die Welt stand an der Schwelle zu einer radikalen Veränderung, die Vorbereitungen zu einem Weltkrieg waren überall in Europa in vollem Gang. Ich sehe den in sich gekehrten Meister auf den alten Fotografien vor mir, die schlohweißen Haare streng nach hinten frisiert, weiß bekittelt, eher ein Wissenschaftler denn ein Künstler, ernst. Er scheint die Kamera zu scheuen, den verletzlich wirkenden Blick dem Betrachter abgewandt. Mir fällt ein Zitat in die Hände, das von seinem Enkel Jean-Paul Guerlain stammt, als man ihn einmal zur Entstehungsgeschichte von L´Heure Bleu an der Schwelle zum ersten Weltkrieg befragte:
"Jacques Guerlain hat einmal gesagt, er habe eine Ahnung von dem Unglück, das gerade geschehen würde. „Ich konnte es nicht in Worte fassen ", sagte er mir. „Ich fühlte etwas so intensives, ich konnte es nur in einem Parfüm ausdrücken.“"
Das Zitat beschreibt das Gewahrwerden von der Vergänglichkeit der Gegenwart, welches für mich in diesem schrecklich schönen Duft wohnt. Die Kopfnote, Anis und Bergamotte, erzählt vom letzten sommerlich-hellen Ausklingen des vergehenden Tages. Veilchen, Iris und Nelken tauchen den Duft schon bald in ein florales, blaugetöntes Funkeln im Dämmerlicht, so vielschichtig glanzvoll und melancholisch. Lange umfängt es einen, bevor man mit der tröstenden Samtwärme von Vanille, Benzoe und Tonka in die Nacht entlassen wird. Alles nicht so schlimm. Ticktack.
Ich besitze eine Probe, die eine Version des Duftes enthält, die offenbar wenig mit der aktuellen Reformulierung zu tun hat, da die Vanille lange auf sich warten lässt und auch nicht zu laut wird. Aber es spielt wohl auch keine Rolle für mich, Spitzfindigkeiten über Reformulierungen nachzuhängen, den L´Heure Bleu gibt die Geschichte von der Vergänglichkeit der Gegenwart von Generation zu Generation weiter, ganz gleich, ob sie von Schellack oder binären Codes transportiert wird. L´Heure Bleu sagt mir, in der blauen Stunde innezuhalten, während das Reißen des Flusses leiser wird, der die Gegenwart mit sich nimmt, sie als Vergangenheit für immer von mir weg treibt, während die Zukunft noch im Werden begriffen ist.
„Do not go gentle into that good night.
Rage, rage against the dying of the light.“
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.“
Es sind zwei Werke des großen Jaques Guerlain, die mir eine Beschäftigung mit Zeitlichkeit geradezu aufnötigen:
L´Heure Bleu und Mitsouko. L´Heure Bleu ist das grausamere der beiden, denn es lässt mich spüren, was Zeit bedeutet, während sie vergeht. Es ist ganz auf die Gegenwart ausgerichtet, weiß aber, dass die Uhr tickt.
Mitsouko hat das Leiden an der Vergänglichkeit hinter sich. Mitsouko hat fertig. Legt sich spröde und unsterblich schön auf ihr bitteres, moosiges Bett, eine Handvoll überreif trockener Aprikosen im Arm und läßt die Jugend rasen.
Auch wenn Physiker und Philospohen sich gleichermaßen die Zähne daran ausbeißen, Zeit zu erklären, so kennt Sprache Zeit in all ihren schönen und schrecklichen Eigenschaften: Wenn Zeit im Fluge vergehen, sie zwischen den Fingern zerrinnt oder still zu stehen scheint, dann bildet Sprache Zeit ab. Sogar die größte aller Ungeheuerlichkeiten vermag sie kurz und treffend zu bebildern: Dass meine Zeit eines Tages abgelaufen sein wird. Ticktack.
Schon in der Kindheit gab es diese Anflüge von in sich gekehrter, verträumter Schwermut, wenn die letzten Sonnenstrahlen des lichterfüllten Tages durch das Küchenfenster fielen, während die Nacht am Horizont heraufzog und die Uhr an der Wand mit ihrem unerbittlichen ticktack Veränderung verkündete. Die dämmerige blaugetönte Passage der Heure Bleu, dieser Übergang zwischen dem Gewesenen und der im Werden begriffenen Zukunft war immer eine Stunde des bittersüßen Innehaltens, des Festhaltenwollens an der Gegenwart.
„Es gibt eine süße Melancholie, die nichts anderes ist als eine angenehme Träumerei, eine liebliche Schwermut. Sie ist die Befindlichkeit einer Seele, die sich den lebhaften Versuchungen verschließt, die sie erschöpfen würden und sich vielmehr den Illusionen der Sinne hingibt und ihr Behagen im Nachdenken darüber findet, was ihr Schmerzen bereitet.“ (Dictionnaire de Trévoux, 1771)
Als Jaques Guerlain L´Heure Bleu schuf, erlebte die Stadt Paris ihre melancholisch blaue Stunde. Die Welt stand an der Schwelle zu einer radikalen Veränderung, die Vorbereitungen zu einem Weltkrieg waren überall in Europa in vollem Gang. Ich sehe den in sich gekehrten Meister auf den alten Fotografien vor mir, die schlohweißen Haare streng nach hinten frisiert, weiß bekittelt, eher ein Wissenschaftler denn ein Künstler, ernst. Er scheint die Kamera zu scheuen, den verletzlich wirkenden Blick dem Betrachter abgewandt. Mir fällt ein Zitat in die Hände, das von seinem Enkel Jean-Paul Guerlain stammt, als man ihn einmal zur Entstehungsgeschichte von L´Heure Bleu an der Schwelle zum ersten Weltkrieg befragte:
"Jacques Guerlain hat einmal gesagt, er habe eine Ahnung von dem Unglück, das gerade geschehen würde. „Ich konnte es nicht in Worte fassen ", sagte er mir. „Ich fühlte etwas so intensives, ich konnte es nur in einem Parfüm ausdrücken.“"
Das Zitat beschreibt das Gewahrwerden von der Vergänglichkeit der Gegenwart, welches für mich in diesem schrecklich schönen Duft wohnt. Die Kopfnote, Anis und Bergamotte, erzählt vom letzten sommerlich-hellen Ausklingen des vergehenden Tages. Veilchen, Iris und Nelken tauchen den Duft schon bald in ein florales, blaugetöntes Funkeln im Dämmerlicht, so vielschichtig glanzvoll und melancholisch. Lange umfängt es einen, bevor man mit der tröstenden Samtwärme von Vanille, Benzoe und Tonka in die Nacht entlassen wird. Alles nicht so schlimm. Ticktack.
Ich besitze eine Probe, die eine Version des Duftes enthält, die offenbar wenig mit der aktuellen Reformulierung zu tun hat, da die Vanille lange auf sich warten lässt und auch nicht zu laut wird. Aber es spielt wohl auch keine Rolle für mich, Spitzfindigkeiten über Reformulierungen nachzuhängen, den L´Heure Bleu gibt die Geschichte von der Vergänglichkeit der Gegenwart von Generation zu Generation weiter, ganz gleich, ob sie von Schellack oder binären Codes transportiert wird. L´Heure Bleu sagt mir, in der blauen Stunde innezuhalten, während das Reißen des Flusses leiser wird, der die Gegenwart mit sich nimmt, sie als Vergangenheit für immer von mir weg treibt, während die Zukunft noch im Werden begriffen ist.
„Do not go gentle into that good night.
Rage, rage against the dying of the light.“
28 Antworten