14.04.2021 - 03:27 Uhr

FioreMarina
29 Rezensionen

FioreMarina
Top Rezension
76
Summer Of 1908 oder: Granny Was a Wild Girl
Ich möchte gern mal ein paar Worte zum Thema Großmutterduft loswerden. Vielleicht deshalb, weil ich Veilchen so sehr verehre, dass es mich ganz fuchtig macht, wenn man ihnen Unrecht tut. Vielleicht weil ich Großmütter im Generalverdacht habe, hinter der Würde des Alters ein paar Geschichten auf Lager zu haben, die uns die Münder offenstehen lassen würden. Vielleicht weil ich glaube, dass es manchmal nichts wilderes, nichts abgefahreneres oder visionäreres gibt, als einen echten Großmutterduft zu tragen: Einen wie Après L´Ondée.
Ich nehme Euch dazu auf eine kleine Zeitreise mit. Nach Wien, wenn es recht ist. Es ist Sommer 1908 und wie ein Sturm zieht eine neue Zeit herauf. Siegmund Freud macht mit seiner Psychoanalyse Furore und brüskiert die Welt indem er ihr erklärt, dass sie Tag und Nacht nur an das Eine denkt. Man ist empört. Und rennt ihm die Türen ein.
Hinter dem Naschmarkt räumen ein paar junge Künstler mit dem Schwulst des Fin de Siècle auf und Gustav Klimt malt in seinem Kuss die ewige Liebe in einen goldenen Rausch an des Messers Schneide.
Ein paar Straßen weiter verkauft ein wirrer Typ Postkarten. Er wohnt in einem Obdachlosenheim für Männer und träumt davon, als Maler berühmt zu werden. Einige Jahre später wird er es als Politiker – und lässt die Menschheit in ihren finstersten Abgrund blicken.
Und eine junge Frau jagt publikumswirksam die Geliebte ihres Mannes aus einer Suite des noblen Hotel Sacher, um ihr im Anschluss - taub gegen die Beknieungen des sich windenden Gatten - vom Fenster aus die Bekleidungsstücke einzeln auf die Straße hinunter zu werfen. Es ist nicht gesichert, ob Freud die Szene beobachtet und sich von ihr zu einer Abhandlung über die Hysterie hat erleuchten lassen, oder ob den vorbeiflanierenden Klimt der Anblick der schönen Sünderin auf der Straße zu einer seiner entblätterten Leinwandschönheiten inspiriert hat.
Ziemlich sicher weiß man allerdings, dass dieser Vorfall den Ehemann nachhaltig beeindruckte und seiner zürnenden Gattin ein Versöhnungsgeschenk in Gestalt eines ruinös teuren Colliers einbrachte. Ich muss das wissen, denn ich kenne das Collier, meine Mutter hat es mir oft gezeigt: Die Rachegöttin vom Hotel Sacher war meine Urgroßmutter.
Wenn ich sie auf der verblichenen Schwarzweißfotografie betrachte, meine ich, den Sturm in ihren hellen Augen aufziehen zu sehen. Es ist mir, als könnte er jederzeit an ihrem weißen langen Kleid zerren, die kunstvoll frisierten blonden Haarsträhnen in das schmale Gesicht wehen, dem der Fotograf kein Lächeln hat abringen können. Als könnte dieser Sturm jederzeit ihre gesamte Gestalt, ihr ganzes Wesen erfassen und sie sei noch nicht entschieden, ob sie ihm standhalten, ob sie sich fortwehen lassen oder aber ihn antreiben wolle.
Ich weiß nicht, ob meine Urgroßmutter Après l´Ondée getragen hat, aber eigentlich muss es so sein: Der Duft ist geschaffen für Frauen mit wilden freien Seelen wie ihrer.
Ich lerne, dass er im Wesentlichen seinen Charakter einem künstlich synthetisierten Aldehyd zu verdanken hat. Und dennoch ist Après l´Ondée genau das nicht: künstlich. Es hat im Gegenteil einen unverwandt klaren, frischen, irgendwie ungeschminkten Charakter: die Welt nach einem Gewitterschauer, die Hitze hat sich abgekühlt, der Wind treibt die Wolken vor dem klaren Himmel her, die Luft wirkt durchsichtiger als sonst, die Farben wilder, intensiver. Wir atmen ein und nehmen sofort den Duft von Veilchen war, diesen unbeeindruckten Widerstandskämpferinnen gegen jegliche Art klimatischer Zumutung. Diesmal gibt es keine Lippenstiftsüße, keinen vergissmeinnichtblauen Firlefanz, sondern ein Veilchen in seiner wilden Schönheit. Ein wenig Lavendel verleiht ihm spröde Würze und ein Hauch - aber wirklich nur ein winziger - von Süße kommt wohl von diesem Weißdornmimosendingsda mit dem unaussprechlichen Namen. Das Veilchen bleibt über die Zeit hin standhaft, der Duft entwickelt eine vibrierende, kühle Regengusseleganz, das mag von den Lilien und den Orchideen herrühren. Aber er wird niemals, dem floralen Übergewicht zum Trotz, zu einem sich überblümelnden Allerlei und auch der (Hisch)Moschus vermag das Bild nicht weicher zu zeichnen. Après l´Ondée ist nach dem Regenschauer, aber mitten im Sturm und da bleibt es, um die Klarheit, den Mut, die Entschlossenheit seiner Trägerin zu unterstreichen. Ja, Après l´Ondée ist ein Duft aus seiner Zeit. Und er ist radikal zeitlos. Er nimmt mein Herz in seine Hände und trägt es fort wärend ich ihn trage.
Ich sehe dem Bild meiner Urgroßmutter in die hellen Augen und frage mich, welcher der Düfte unserer Zeit eines Tages einen solchen Anspruch erheben können wird. Denn das Eine wisst Ihr ja:
Es ist Frühling 2021 und wie ein Sturm zieht eine neue Zeit herauf. Wir wissen es, aber wir wissen nicht: stehen wir in seinem Auge? Oder hat er eben erst begonnen? Was wird meine Urenkelin eines Tages sagen, über mich und meine Zeit? Und: wird es einen Duft geben, der eine Brücke schlagt von ihr zu mir? Einen wie Après l´Ondée?
35 Antworten