Parma
24.11.2024 - 03:37 Uhr
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Top Rezension
8.5Duft 8Haltbarkeit 6Sillage 9Flakon

Grenadinen-Freiheit

Ungewöhnlich. Eigen. Tragbar. Wertig. Auskomponiert. Das sind die Düfte aus Cartiers ‚Les Heures‘-Reihe. Und wenig bekannt. Woran das liegt, da sie doch so viele Eigenschaften vereinen, die man bei Nischendüften sucht, kann ich nur vermuten. Der Hauptgrund scheint mir in der extrem eingeschränkten Verfügbarkeit zu liegen. Die Düfte der Reihe kann man nur in den hauseigenen Boutiquen testen. Erschwerend kommt hinzu, dass dort meist nur eine Auswahl der dreizehn Düfte umfassenden Linie zu finden ist. L’Heure Folle nimmt sogar eine Sonderstellung ein, denn diesen gibt es als einzigen weltweit nur online zu kaufen. Hier in Deutschland gibt es noch ein paar andere „webexklusive“ Düfte, die man aber in anderen Ländern findet. Nur L’Heure Folle nicht. Selbst eine Probe davon ist nicht erhältlich. Damit sind sie im französischen Luxushaus sowieso äußerst knapp bemessen. Man bekommt fast das Gefühl, dass sie sich bei Cartier um die Duftsparte - und insbesondere die exklusiven Reihen - gar nicht richtig kümmern. Die Umsätze werden mit dem Kerngeschäft Schmuck gemacht. Deshalb hat Matilde Laurent - seit 2011 Jahren Hausparfümeurin dort - wahrscheinlich alle Freiheiten der Welt, sich auszutoben. Und die nutzt sie weidlich aus und schenkt uns immer wieder wunderbar eigene, oft leicht sperrige, aber stets tragbare Parfums, die so gründlich komponiert sind, dass sie aus einem Guss scheinen. Solche ungewöhnlichen und gleichzeitig überzeugenden Düfte gibt bzw. gab es im Designerbereich aus meiner Sicht nur unter Ellenas Ägide bei Hermès in der Hermessence-Linie.

**Duftprofil:**
L’Heure Folle, die „verrückte Stunde“, ist ein linear angelegter Duft und riecht nach einem dezent grün angehauchten, leicht cremig unterlegten, roten Fruchtbonbon. Wenn man genauer hinspürt, kann man sich die Fruchtigkeit als eine Himbeer-Johannisbeer-Mischung vorstellen - ganz leicht bitter -, die mit einem Schuss künstlich-bonbonhaftem Fruchtaroma und einer zuckerartigen Glasur versehen ist. Mich erinnert dieser Dufteindruck immer an einen Süßigkeitengeschmack aus der Kindheit, eine Kombination aus Veilchenpastillen (Veilchen taucht in der Notenangabe auf), festen Himbeerbonbons und weichen Zuckererdbeeren. Was sich intensiv süß anhört, ist jedoch gemäßigt dosiert. Dazu bei trägt die mit viel Fingerspitzengefühl abgestimmte, dezente Cremigkeit, die Assoziationen an eine im Fruchtwasser schon fast aufgelöste Sahne weckt und die konzentrierte Fruchtigkeit etwas dämpft. Untergehoben ist zudem ein nur unterschwellig wahrnehmbarer grüner Ton, der apart wirkt und Buchsbaum- sowie Efeu-Assoziationen (wie in den Duftnoten aufgeführt) plausibel erscheinen lässt. Grüne Töne sind eigentlich ein Markenzeichen von Laurents Düften, in der Regel aber prägnanter eingesetzt als hier. Ebenfalls gerne setzt sie Weihrauch ein, den ich hier im Vergleich noch dezenter als den Grünton nur als Ahnung erhasche. Mit Blick auf die Inhaltsstoffe wird dieser Eindruck wahrscheinlich von der schwarzen Johannisbeere und/oder dem Buchsbaum herrühren.
In meinem Statement habe ich zudem von Holunder-Bionade geschrieben. Beim Tragen ist mir das in letzter Zeit nicht mehr aufgefallen, aber die Wahrnehmung resultierte sicher aus dem interessanten und selten verwendeten Duftstoff „Grenadine“. Dieser ist ursprünglich ein aus Granatapfelsaft hergestellter, mit Zucker gesüßter, zähflüssiger Fruchtsirup von intensiv roter Farbe, der hauptsächlich zum Aromatisieren und Färben von Cocktails verwendet wurde. Heutzutage handelt es sich meist um eine Beerenmischung aus Himbeeren, Johannisbeeren, Brombeeren und Holunder. Außerdem dürfen sich mittlerweile auch solche Produkte so nennen, die aus hohem Zuckergehalt, roter Farbe und künstlichen Fruchtaromen bestehen (Quelle: Wikipedia). Beide zeitgenössischen Varianten scheinen mir Pate für diesen Duft gestanden zu haben, zumal auf basenotes im Unterschied zu Parfumo und Fragrantica zusätzlich noch Brombeeren in der Notenangabe aufgeführt werden. Und der oben erwähnte leicht künstlich-bonbonhafte Geruchseindruck deutet darauf hin, dass auch artifizielle Aromen beigemischt wurden.
Insgesamt ist es ein sehr eigenständiges Profil, weit ab von den üblichen, oft übersüßten und überzuckerten Fruchtnoten in heutigen (Designer-)Düften. Es wirkt erfrischend anders, durchaus leicht elegant und wesentlich feinfühliger. Ich kann mich nicht entsinnen, von einem Qualitätshaus bislang einen so fruchtzentrierten Duft gerochen zu haben. Der einzig mir einfallende ist L’Artisan Parfumeurs ‚Mûre et Musc Extrême‘, der aber eine deutlich höher dosierte cremige Note (Moschus) aufweist und in der Fruchtnote etwas dunkler und natürlicher wirkt.
Die einzigen Noten, die ich aus der Duftnotenangabe nicht klar identifizieren kann, sind Aldehyde sowie die singulär auf basenotes angegebenen grünen Blätter, Shiso und Knöterich. Sie werden aber sicher zu dem grünen Eindruck beitragen, der sich - wie gesagt - ausgesprochen zurückhaltend präsentiert.

**Haltbarkeit und Sillage:**
Der Duft hält auf meiner Haut einen Tag lang, wobei er sich nach etwa der Hälfte etwas zurückzieht, aber immer wahrnehmbar bleibt. Die Sillage schätze ich nach meinen Erfahrungen (wie bleibt der Duft im Raum zurück) als durchschnittlich ein, habe aber eine konträre Rückmeldung dazu erhalten. Dabei wurde der Duft nach einem halben Tag Tragedauer noch auf eine Entfernung von mehr als zwei Metern deutlich wahrgenommen (und das bei zwei Sprühstößen im Halsbereich). Insofern ist die Sillage also eventuell doch stärker.

**Vergleich der Düfte im alten und neuen Flakon:**
Seit Ende 2018/Anfang 2019 wird ‚L‘Heure Folle’ - wie alle Düfte aus den exklusiven Cartier-Reihen - in einer leicht veränderten Flakonform angeboten. Am augenscheinlichsten sind die nun blickdichten weißen, magnetischen und mit farbigen Bändern umwickelten Deckel. Ob auch die Düfte in dem Zusammenhang verändert wurden, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich rieche jedenfalls keine nennenswerten Unterschiede, wenn ich beide Versionen vergleiche. Ich habe eine Probenabfüllung aus der aktuellen Flakonform und besitze einen in der alten (2010er Batch). Die einzigen minimalen Differenzen nehme ich in der Kopfnote und Basis wahr. In der Kopfnote erscheint die neue Version minimal spritziger, was an einer höheren Dosierung des rosa Pfeffers und/oder einer Einbuße aufgrund des Alters bei der Urversion liegen könnte. In der Basis hingegen wirkt die 2010er-Version etwas weicher und tiefer. Der Duft gleitet richtig sanft aus. Die neue Version verhält sich dazu wie leicht abgestumpft. Das könnte an der Verwendung eines anderen Moschus liegen. Beim Tragen am Hals merke ich den Unterschied nicht, sondern nur wenn ich sie auf dem Handgelenk trage und genau hinrieche. Vom Profil her sind beide duftgleich.

**Fazit:**
‚L’Heure Folle‘ ist ein sehr eigenständiger Fruchtduft, der das Geruchsbild von „Grenadine“ nachstellt und dadurch zwar leicht bonbonhaft in die generisch süßfruchtige Richtung weist, aber deutlich feiner erscheint. Im Nischenbereich ist mir eine solch singuläre Konzentration auf Fruchtnoten bisher noch nicht untergekommen - außer im ‚Mûre et Musc Extrême‘. Damit zeigt die bei Guerlain ausgebildete Matilde Laurent wie gewohnt ihre Kunstfertigkeit, sehr feinnervige, reduzierte, thematisch ungemein klare und leicht ungewöhnliche Duftprofile zu schaffen, die stets tragbar bleiben.
26 Antworten
Paloma58Paloma58 vor 1 Jahr
Vielen Dank für die exzellente Beschreibung.
ParmaParma vor 1 Jahr
Gern geschehen. Lieben Dank für das schöne Lob. Darüber freue ich mich sehr! 😊
AxiomaticAxiomatic vor 1 Jahr
Chapeau!
Nun hast Du meine Neugier auf eine mir sonst eher versperrte Duftrichtung geweckt!
Ich kann mir die Feinfühligkeit gut vorstellen. Darin besteht ja die große Kunst, scheinbar Untragbares in Tragegenuss zu verwandeln.
Pokal in typischer Dreigold-Legierung des Hauses für Dich!
🏆
ParmaParma vor 1 Jahr
1
Ich danke dir, lieber K. 🙏 Hab' mich sehr über deinen Besuch gefreut! 😊
UnterholzUnterholz vor 1 Jahr
Wunderbare Würdigung - scheint ein spannender Duft zu sein und alles andere als 08/15... Beerennoten habe ich bis jetzt noch nicht wirklich überzeugend unter die Nase gekriegt. Dieser Kandidat scheint durchaus Potential zu besitzen, mich eines besseren zu belehren.
Und es ist natürlich schade, wenn Testen eines Duftes nicht wirklich gefördert wird...
ParmaParma vor 1 Jahr
Letzteres ist neben dem Preis das einzig Betrübliche. Ein Test lohnt sich aus meiner Sicht, gerade wenn man von Beerendüften bisher nicht so angetan war. Auf mich übt er wenigstens einen nachhaltigen Reiz aus. Hat Substanz und Verstand. Ich danke dir für deine nette Rückmeldung, lieber T. 🙏😊
IntersportIntersport vor 1 Jahr
das klingt ja wieder mal sehr interessant, ich denke ja auch dass M. Laurent fuer Cartier ein echter Glücksfall war/ist - danke fuer die tief gehende Auseinandersetzung mit L’Heure Folle, werd ich mir sicher anschauen, wenn's denn klappt
ParmaParma vor 1 Jahr
Gern geschehen 😊 Ich danke dir, lieber F.! 🙏
AugustoAugusto vor 1 Jahr
Danke, dass Du uns wieder an diese außergewöhnlich Reihe von Cartier erinnerst. Auch der hier klingt überzeugend und, obwohl Fruchtnoten in der Regel selten etwas für mich,
sind, hier klingt das wirklich schön.
ParmaParma vor 1 Jahr
Ich danke dir, liebe S. 🙏😊 Wenn man mit reinen Fruchtdüften nicht kann, hat man es mit dem sicherlich schwer. Bei aller Schönheit. Es ist aber mal ein etwas anderer Fruchtton. Ein Blick lohnt deshalb aus meiner Sicht.
FloydFloyd vor 1 Jahr
Wie gut, dass Du ihn für uns getestet hast. So kenn ich ihn wenigstens von fern ;-)
ParmaParma vor 1 Jahr
Gern geschehen, lieber Floyd 😉 Vielen Dank für deine nette Rückmeldung 🙏
PistazieneisPistazieneis vor 1 Jahr
Cartier macht das Klasse. Sie wollen aufgrund ihres exzellenten Rufs als einer der besten Juweliere und Uhrmacher der Welt eine gewisse Klientel nicht als Kunden haben. Vollstes Verständnis. Die Parfumeurin erschafft wundervolle Düfte. Sehr feine Rezension.
ParmaParma vor 1 Jahr
Ich danke dir 🙏😊 Ja, Cartiers Ruf ist exzellent. Sie untermauern ihn auch stetig mit der Qualität ihrer Produkte und steuern zusätzlich über den Preis. Ich kann ihr exklusives Auftreten aus ihrer Sicht daher ebenfalls verstehen, auch wenn es mir persönlich nicht behagt. Aber es gibt ja genügend Alternativen. Meine Kritik richtet sich daher nur gegen die mangelhafte Ausstattung mit Proben und Testflakons, also einen Teil des Servicebereichs. Das ist evtl. eine Strategie der künstlichen Verknappung, um die Exklusivität zu unterstreichen, aber aus meiner Sicht muss man als ein solches Haus im kompletten Servicebereich Spitze sein und seinen Kunden zumindest ein Testen der im Portfolio befindlichen Düfte ermöglichen oder spätestens nach einem Kauf die gewünschten Proben anbieten können. Oder zumindest sagen können, wann sie wieder erhältlich sind. Ansonsten wirkt das eher unorganisiert und wenig motiviert.
PonticusPonticus vor 1 Jahr
An einer außergewöhnlich detailreichen und interessanten Duftbeschreibung läßt Du uns hier teilhaben, die versucht auch noch die letzten Facetten des Parfüms abzuleuchten! Sehr schön formuliert und für einen Nischenduft auch sehr verführerisch geschrieben um Gefallen zu finden! Starke Rezension, toll gemacht!
ParmaParma vor 1 Jahr
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Ich danke dir, lieber Ponticus 🙏😊 Das ist eine wunderbare Reihe. Auch dieser Duft scheint erst mal relativ einfach gestrickt, hat aber dann in sich doch viele Facetten. Das ist die Kunst von Laurent: Komplexe Düfte scheinbar einfach wirken zu lassen. Die werden beim Tragen nicht langweilig. So geht es mir zumindest.
YataganYatagan vor 1 Jahr
Differenzierte Rezension! D’accord! Meine These ist ja, dass diese grandiose Reihe viel zu komplex für die meisten Zeitgenossen ist. Die verhält sich zu Marly / Xerjoff wie Thomas Bernhard zu Perry Rhodan.
ParmaParma vor 1 Jahr
Das ist ein schöner Vergleich 😂😂 Ja, ist eine richtig interessante Reihe. Mich fasziniert sie und ich habe eine nicht nachlassende Lust drauf. Hat was ganz eigenes. Ich danke dir, lieber A. 🙏😊
ElAttarineElAttarine vor 1 Jahr
Fruchtig in gut - das würde mich ja auch mal interessieren. Danke für die hilfreiche Beschreibung und auch die Einordnung!
ParmaParma vor 1 Jahr
Gern geschehen, liebe ElAttarine 😊 Ist wirklich ein interessanter Fruchtduft. Der Fruchtton hat was Eigenständiges und die dezente grüne Note schafft einen schönen Twist. Lieben Dank für deine nette Rückmeldung! 🙏
SchatzSucherSchatzSucher vor 1 Jahr
Den Duft habe ich auch als ganz toll in Erinnerung. Wunderbar beschrieben!
Man will aber offenbar auch gar nicht, daß das gemeine Volk an die Düfte herankommt, sonst würde man sich nicht so anstellen. Exklusivität für eine ausgewählte Gruppe. Mich ärgert so etwas eher, auch bei anderen Marken. Verknappungen, Limitierungen, überhöhte Preise. Evtl. sogar Verkauf nur mit persönlichem Termin.
Aber Frau Laurent hat eine großartige Nase bzw. Handschrift.
ParmaParma vor 1 Jahr
Danke dir, lieber S.! 😊🙏 Ja, mir geht es ähnlich mit dem Exklusivitätsgedanken, der sich bei Cartier natürlich v.a. über die Qualität und den dementsprechenden Preis begründet (absolut gesehen natürlich überteuert, aber im Verhältnis zu den Mitbewerbern passt das schon, finde ich). Gut finde ich das nicht, aber es ist legitim und sie können es sich leisten. Sie sind auch freundlich in den Boutiquen und lassen „Ottonormalverbraucher“ (wie mich) rein. Was ich als nicht Cartier-würdig empfinde, ist die mangelhafte und sehr lückenhafte Ausstattung mit Testflakons und Proben. Selbst wenn man dort einen Duft kauft, kriegt man aus Mangel nicht die gewünschten. Das ist Organisationssache. Auf der anderen Seite aber evtl. auch wieder dem Exklusivitätsgedanken geschuldet. Künstliche Verknappung. Bin ich kein Fan von. Zum Glück gibt es die Plattform hier und nette Parfumos und Parfumas, die Abfüllungen anbieten. Sonst hätte ich für den Duft schwarz gesehen.
KovexKovex vor 1 Jahr
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Fruchtige Düfte sind meist nicht mein Fall, da sie mir oftmals zu süß sind. Ich glaube hiermit könnte ich mich arrangieren. Ganz toll von Dir beschrieben!
ParmaParma vor 1 Jahr
Das denke ich auch. Zumindest wäre er interessant. Ich danke dir, lieber S. 🙏😊
PollitaPollita vor 1 Jahr
Kennst Du Play Red von CdG? An den musste ich bei Deiner Rezension denken. Erinnerte mich an spritzigen Fruchtsecco. Könnte Dir vielleicht auch gefallen.
ParmaParma vor 1 Jahr
Ja, den kenne ich. Der hat aber eine prägnantere Weihrauchnote und war etwas würzig. Der Cartier ist in der Fruchtnote reiner und hat diese leicht cremige Moschusbasis. Und ist bonbonhaft. Das hatte ich beim CdG nicht. Aber sie befinden sich in der gleichen Nische. Etwas näher dran sind aus meiner Sicht z.B. der Rhubarb von CdG oder auch der von Hermès, wobei beide deutlich zitrisch sind, was der Cartier und der L’Artisan nicht sind. Von daher gibt es natürlich schon ein paar mehr reine Fruchtdüfte im gehobenen Bereich als ich so kolportiert habe 🤭 Danke dir, liebe V.! 😊🙏