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Top Rezension
Grenadinen-Freiheit
Ungewöhnlich. Eigen. Tragbar. Wertig. Auskomponiert. Das sind die Düfte aus Cartiers ‚Les Heures‘-Reihe. Und wenig bekannt. Woran das liegt, da sie doch so viele Eigenschaften vereinen, die man bei Nischendüften sucht, kann ich nur vermuten. Der Hauptgrund scheint mir in der extrem eingeschränkten Verfügbarkeit zu liegen. Die Düfte der Reihe kann man nur in den hauseigenen Boutiquen testen. Erschwerend kommt hinzu, dass dort meist nur eine Auswahl der dreizehn Düfte umfassenden Linie zu finden ist. L’Heure Folle nimmt sogar eine Sonderstellung ein, denn diesen gibt es als einzigen weltweit nur online zu kaufen. Hier in Deutschland gibt es noch ein paar andere „webexklusive“ Düfte, die man aber in anderen Ländern findet. Nur L’Heure Folle nicht. Selbst eine Probe davon ist nicht erhältlich. Damit sind sie im französischen Luxushaus sowieso äußerst knapp bemessen. Man bekommt fast das Gefühl, dass sie sich bei Cartier um die Duftsparte - und insbesondere die exklusiven Reihen - gar nicht richtig kümmern. Die Umsätze werden mit dem Kerngeschäft Schmuck gemacht. Deshalb hat Matilde Laurent - seit 2011 Jahren Hausparfümeurin dort - wahrscheinlich alle Freiheiten der Welt, sich auszutoben. Und die nutzt sie weidlich aus und schenkt uns immer wieder wunderbar eigene, oft leicht sperrige, aber stets tragbare Parfums, die so gründlich komponiert sind, dass sie aus einem Guss scheinen. Solche ungewöhnlichen und gleichzeitig überzeugenden Düfte gibt bzw. gab es im Designerbereich aus meiner Sicht nur unter Ellenas Ägide bei Hermès in der Hermessence-Linie.
**Duftprofil:**
L’Heure Folle, die „verrückte Stunde“, ist ein linear angelegter Duft und riecht nach einem dezent grün angehauchten, leicht cremig unterlegten, roten Fruchtbonbon. Wenn man genauer hinspürt, kann man sich die Fruchtigkeit als eine Himbeer-Johannisbeer-Mischung vorstellen - ganz leicht bitter -, die mit einem Schuss künstlich-bonbonhaftem Fruchtaroma und einer zuckerartigen Glasur versehen ist. Mich erinnert dieser Dufteindruck immer an einen Süßigkeitengeschmack aus der Kindheit, eine Kombination aus Veilchenpastillen (Veilchen taucht in der Notenangabe auf), festen Himbeerbonbons und weichen Zuckererdbeeren. Was sich intensiv süß anhört, ist jedoch gemäßigt dosiert. Dazu bei trägt die mit viel Fingerspitzengefühl abgestimmte, dezente Cremigkeit, die Assoziationen an eine im Fruchtwasser schon fast aufgelöste Sahne weckt und die konzentrierte Fruchtigkeit etwas dämpft. Untergehoben ist zudem ein nur unterschwellig wahrnehmbarer grüner Ton, der apart wirkt und Buchsbaum- sowie Efeu-Assoziationen (wie in den Duftnoten aufgeführt) plausibel erscheinen lässt. Grüne Töne sind eigentlich ein Markenzeichen von Laurents Düften, in der Regel aber prägnanter eingesetzt als hier. Ebenfalls gerne setzt sie Weihrauch ein, den ich hier im Vergleich noch dezenter als den Grünton nur als Ahnung erhasche. Mit Blick auf die Inhaltsstoffe wird dieser Eindruck wahrscheinlich von der schwarzen Johannisbeere und/oder dem Buchsbaum herrühren.
In meinem Statement habe ich zudem von Holunder-Bionade geschrieben. Beim Tragen ist mir das in letzter Zeit nicht mehr aufgefallen, aber die Wahrnehmung resultierte sicher aus dem interessanten und selten verwendeten Duftstoff „Grenadine“. Dieser ist ursprünglich ein aus Granatapfelsaft hergestellter, mit Zucker gesüßter, zähflüssiger Fruchtsirup von intensiv roter Farbe, der hauptsächlich zum Aromatisieren und Färben von Cocktails verwendet wurde. Heutzutage handelt es sich meist um eine Beerenmischung aus Himbeeren, Johannisbeeren, Brombeeren und Holunder. Außerdem dürfen sich mittlerweile auch solche Produkte so nennen, die aus hohem Zuckergehalt, roter Farbe und künstlichen Fruchtaromen bestehen (Quelle: Wikipedia). Beide zeitgenössischen Varianten scheinen mir Pate für diesen Duft gestanden zu haben, zumal auf basenotes im Unterschied zu Parfumo und Fragrantica zusätzlich noch Brombeeren in der Notenangabe aufgeführt werden. Und der oben erwähnte leicht künstlich-bonbonhafte Geruchseindruck deutet darauf hin, dass auch artifizielle Aromen beigemischt wurden.
Insgesamt ist es ein sehr eigenständiges Profil, weit ab von den üblichen, oft übersüßten und überzuckerten Fruchtnoten in heutigen (Designer-)Düften. Es wirkt erfrischend anders, durchaus leicht elegant und wesentlich feinfühliger. Ich kann mich nicht entsinnen, von einem Qualitätshaus bislang einen so fruchtzentrierten Duft gerochen zu haben. Der einzig mir einfallende ist L’Artisan Parfumeurs ‚Mûre et Musc Extrême‘, der aber eine deutlich höher dosierte cremige Note (Moschus) aufweist und in der Fruchtnote etwas dunkler und natürlicher wirkt.
Die einzigen Noten, die ich aus der Duftnotenangabe nicht klar identifizieren kann, sind Aldehyde sowie die singulär auf basenotes angegebenen grünen Blätter, Shiso und Knöterich. Sie werden aber sicher zu dem grünen Eindruck beitragen, der sich - wie gesagt - ausgesprochen zurückhaltend präsentiert.
**Haltbarkeit und Sillage:**
Der Duft hält auf meiner Haut einen Tag lang, wobei er sich nach etwa der Hälfte etwas zurückzieht, aber immer wahrnehmbar bleibt. Die Sillage schätze ich nach meinen Erfahrungen (wie bleibt der Duft im Raum zurück) als durchschnittlich ein, habe aber eine konträre Rückmeldung dazu erhalten. Dabei wurde der Duft nach einem halben Tag Tragedauer noch auf eine Entfernung von mehr als zwei Metern deutlich wahrgenommen (und das bei zwei Sprühstößen im Halsbereich). Insofern ist die Sillage also eventuell doch stärker.
**Vergleich der Düfte im alten und neuen Flakon:**
Seit Ende 2018/Anfang 2019 wird ‚L‘Heure Folle’ - wie alle Düfte aus den exklusiven Cartier-Reihen - in einer leicht veränderten Flakonform angeboten. Am augenscheinlichsten sind die nun blickdichten weißen, magnetischen und mit farbigen Bändern umwickelten Deckel. Ob auch die Düfte in dem Zusammenhang verändert wurden, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich rieche jedenfalls keine nennenswerten Unterschiede, wenn ich beide Versionen vergleiche. Ich habe eine Probenabfüllung aus der aktuellen Flakonform und besitze einen in der alten (2010er Batch). Die einzigen minimalen Differenzen nehme ich in der Kopfnote und Basis wahr. In der Kopfnote erscheint die neue Version minimal spritziger, was an einer höheren Dosierung des rosa Pfeffers und/oder einer Einbuße aufgrund des Alters bei der Urversion liegen könnte. In der Basis hingegen wirkt die 2010er-Version etwas weicher und tiefer. Der Duft gleitet richtig sanft aus. Die neue Version verhält sich dazu wie leicht abgestumpft. Das könnte an der Verwendung eines anderen Moschus liegen. Beim Tragen am Hals merke ich den Unterschied nicht, sondern nur wenn ich sie auf dem Handgelenk trage und genau hinrieche. Vom Profil her sind beide duftgleich.
**Fazit:**
‚L’Heure Folle‘ ist ein sehr eigenständiger Fruchtduft, der das Geruchsbild von „Grenadine“ nachstellt und dadurch zwar leicht bonbonhaft in die generisch süßfruchtige Richtung weist, aber deutlich feiner erscheint. Im Nischenbereich ist mir eine solch singuläre Konzentration auf Fruchtnoten bisher noch nicht untergekommen - außer im ‚Mûre et Musc Extrême‘. Damit zeigt die bei Guerlain ausgebildete Matilde Laurent wie gewohnt ihre Kunstfertigkeit, sehr feinnervige, reduzierte, thematisch ungemein klare und leicht ungewöhnliche Duftprofile zu schaffen, die stets tragbar bleiben.
**Duftprofil:**
L’Heure Folle, die „verrückte Stunde“, ist ein linear angelegter Duft und riecht nach einem dezent grün angehauchten, leicht cremig unterlegten, roten Fruchtbonbon. Wenn man genauer hinspürt, kann man sich die Fruchtigkeit als eine Himbeer-Johannisbeer-Mischung vorstellen - ganz leicht bitter -, die mit einem Schuss künstlich-bonbonhaftem Fruchtaroma und einer zuckerartigen Glasur versehen ist. Mich erinnert dieser Dufteindruck immer an einen Süßigkeitengeschmack aus der Kindheit, eine Kombination aus Veilchenpastillen (Veilchen taucht in der Notenangabe auf), festen Himbeerbonbons und weichen Zuckererdbeeren. Was sich intensiv süß anhört, ist jedoch gemäßigt dosiert. Dazu bei trägt die mit viel Fingerspitzengefühl abgestimmte, dezente Cremigkeit, die Assoziationen an eine im Fruchtwasser schon fast aufgelöste Sahne weckt und die konzentrierte Fruchtigkeit etwas dämpft. Untergehoben ist zudem ein nur unterschwellig wahrnehmbarer grüner Ton, der apart wirkt und Buchsbaum- sowie Efeu-Assoziationen (wie in den Duftnoten aufgeführt) plausibel erscheinen lässt. Grüne Töne sind eigentlich ein Markenzeichen von Laurents Düften, in der Regel aber prägnanter eingesetzt als hier. Ebenfalls gerne setzt sie Weihrauch ein, den ich hier im Vergleich noch dezenter als den Grünton nur als Ahnung erhasche. Mit Blick auf die Inhaltsstoffe wird dieser Eindruck wahrscheinlich von der schwarzen Johannisbeere und/oder dem Buchsbaum herrühren.
In meinem Statement habe ich zudem von Holunder-Bionade geschrieben. Beim Tragen ist mir das in letzter Zeit nicht mehr aufgefallen, aber die Wahrnehmung resultierte sicher aus dem interessanten und selten verwendeten Duftstoff „Grenadine“. Dieser ist ursprünglich ein aus Granatapfelsaft hergestellter, mit Zucker gesüßter, zähflüssiger Fruchtsirup von intensiv roter Farbe, der hauptsächlich zum Aromatisieren und Färben von Cocktails verwendet wurde. Heutzutage handelt es sich meist um eine Beerenmischung aus Himbeeren, Johannisbeeren, Brombeeren und Holunder. Außerdem dürfen sich mittlerweile auch solche Produkte so nennen, die aus hohem Zuckergehalt, roter Farbe und künstlichen Fruchtaromen bestehen (Quelle: Wikipedia). Beide zeitgenössischen Varianten scheinen mir Pate für diesen Duft gestanden zu haben, zumal auf basenotes im Unterschied zu Parfumo und Fragrantica zusätzlich noch Brombeeren in der Notenangabe aufgeführt werden. Und der oben erwähnte leicht künstlich-bonbonhafte Geruchseindruck deutet darauf hin, dass auch artifizielle Aromen beigemischt wurden.
Insgesamt ist es ein sehr eigenständiges Profil, weit ab von den üblichen, oft übersüßten und überzuckerten Fruchtnoten in heutigen (Designer-)Düften. Es wirkt erfrischend anders, durchaus leicht elegant und wesentlich feinfühliger. Ich kann mich nicht entsinnen, von einem Qualitätshaus bislang einen so fruchtzentrierten Duft gerochen zu haben. Der einzig mir einfallende ist L’Artisan Parfumeurs ‚Mûre et Musc Extrême‘, der aber eine deutlich höher dosierte cremige Note (Moschus) aufweist und in der Fruchtnote etwas dunkler und natürlicher wirkt.
Die einzigen Noten, die ich aus der Duftnotenangabe nicht klar identifizieren kann, sind Aldehyde sowie die singulär auf basenotes angegebenen grünen Blätter, Shiso und Knöterich. Sie werden aber sicher zu dem grünen Eindruck beitragen, der sich - wie gesagt - ausgesprochen zurückhaltend präsentiert.
**Haltbarkeit und Sillage:**
Der Duft hält auf meiner Haut einen Tag lang, wobei er sich nach etwa der Hälfte etwas zurückzieht, aber immer wahrnehmbar bleibt. Die Sillage schätze ich nach meinen Erfahrungen (wie bleibt der Duft im Raum zurück) als durchschnittlich ein, habe aber eine konträre Rückmeldung dazu erhalten. Dabei wurde der Duft nach einem halben Tag Tragedauer noch auf eine Entfernung von mehr als zwei Metern deutlich wahrgenommen (und das bei zwei Sprühstößen im Halsbereich). Insofern ist die Sillage also eventuell doch stärker.
**Vergleich der Düfte im alten und neuen Flakon:**
Seit Ende 2018/Anfang 2019 wird ‚L‘Heure Folle’ - wie alle Düfte aus den exklusiven Cartier-Reihen - in einer leicht veränderten Flakonform angeboten. Am augenscheinlichsten sind die nun blickdichten weißen, magnetischen und mit farbigen Bändern umwickelten Deckel. Ob auch die Düfte in dem Zusammenhang verändert wurden, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich rieche jedenfalls keine nennenswerten Unterschiede, wenn ich beide Versionen vergleiche. Ich habe eine Probenabfüllung aus der aktuellen Flakonform und besitze einen in der alten (2010er Batch). Die einzigen minimalen Differenzen nehme ich in der Kopfnote und Basis wahr. In der Kopfnote erscheint die neue Version minimal spritziger, was an einer höheren Dosierung des rosa Pfeffers und/oder einer Einbuße aufgrund des Alters bei der Urversion liegen könnte. In der Basis hingegen wirkt die 2010er-Version etwas weicher und tiefer. Der Duft gleitet richtig sanft aus. Die neue Version verhält sich dazu wie leicht abgestumpft. Das könnte an der Verwendung eines anderen Moschus liegen. Beim Tragen am Hals merke ich den Unterschied nicht, sondern nur wenn ich sie auf dem Handgelenk trage und genau hinrieche. Vom Profil her sind beide duftgleich.
**Fazit:**
‚L’Heure Folle‘ ist ein sehr eigenständiger Fruchtduft, der das Geruchsbild von „Grenadine“ nachstellt und dadurch zwar leicht bonbonhaft in die generisch süßfruchtige Richtung weist, aber deutlich feiner erscheint. Im Nischenbereich ist mir eine solch singuläre Konzentration auf Fruchtnoten bisher noch nicht untergekommen - außer im ‚Mûre et Musc Extrême‘. Damit zeigt die bei Guerlain ausgebildete Matilde Laurent wie gewohnt ihre Kunstfertigkeit, sehr feinnervige, reduzierte, thematisch ungemein klare und leicht ungewöhnliche Duftprofile zu schaffen, die stets tragbar bleiben.
26 Antworten


Nun hast Du meine Neugier auf eine mir sonst eher versperrte Duftrichtung geweckt!
Ich kann mir die Feinfühligkeit gut vorstellen. Darin besteht ja die große Kunst, scheinbar Untragbares in Tragegenuss zu verwandeln.
Pokal in typischer Dreigold-Legierung des Hauses für Dich!
🏆
Und es ist natürlich schade, wenn Testen eines Duftes nicht wirklich gefördert wird...
sind, hier klingt das wirklich schön.
Man will aber offenbar auch gar nicht, daß das gemeine Volk an die Düfte herankommt, sonst würde man sich nicht so anstellen. Exklusivität für eine ausgewählte Gruppe. Mich ärgert so etwas eher, auch bei anderen Marken. Verknappungen, Limitierungen, überhöhte Preise. Evtl. sogar Verkauf nur mit persönlichem Termin.
Aber Frau Laurent hat eine großartige Nase bzw. Handschrift.