Terpentingetränkte Lappen hängen von alten löcherigen Balken. Irgendjemand hat hier geplant, Dinge zu streichen oder zu reparieren und dann plötzlich doch wieder abgebrochen und alles liegenlassen. Durch das blinde Dachfenster fällt das Licht schräg in den Raum, die Staubkörnchen tanzen in der Lichtbahn. Alte hölzerne Möbel und Möbelteile stehen herum, manche in ihrer Funktion verständlich, andere so unvollständig, dass sie völlig rätselhaft bleiben. Seltsame alte Ledergeschirre, von denen keiner mehr weiß, wozu sie mal gedient haben könnten, hängen über Stühlen oder stuhlartigen Gebilden mit kippeligen oder unvollständigen Beinen. Schwere Truhen stehen zum Teil offen, zum Teil sind ihre Deckel geschlossen. Die offenen enthalten staubige Bücher und halb zerfallene Zeitschriften in unbekannten Sprachen, handgeschriebene Papiere und Briefe in unlesbarer Schrift. Vielleicht sind es Liebesbriefe, die irgendwann mal Herzen gewonnen oder gebrochen haben. Dazwischen alte Flaschen mit Lakritzlikör, ihr Inhalt während unbekannter Zeitdauern stark eingedunkelt. Erdig duftende getrocknete Blätterzweige liegen gepresst zwischen den Papierlagen.
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Ein Raum zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ohne Zeitzeug:innen oder Menschen, die auch nur bruchstückhafte Auskunft geben können, sucht der Schatten der Erinnerung haltlos herum, bleibt die Erinnerung in der Luft hängen, kann nirgendwo andocken. Irgendetwas war hier, irgendetwas mag hier wichtig gewesen sein, irgendjemandem mögen diese Gegenstände etwas bedeutet haben. Adi ale Van spricht auf der Homepage von Erinnerungen, Gefühlen und Empfindungen, die der Duft auslösen kann, indem er einen an unterschiedliche Orte und in unterschiedliche Zeiten versetzt… Inspiriert sei er von alten rumänischen Traditionen, der Grabeskirche in Jerusalem, dem heiligen Kreuz, Adis eigener Kindheit im Donautal, von Erinnerungen an geliebte Menschen.
Der Duft hat für mich aber auch etwas sehr Modernes, steht für das aktuelle Rumänien, das immer schon zwischen Ost und West lag. Eine aktuelle renommierte Wochenzeitung heißt „Dilema Veche“, das bedeutet „alter Zwiespalt“. Der Schriftsteller Mircea Cartarescu sagt: „Rumänien ist voller Schönheit, voller Magie. Die Boulevards von Bukarest sind rätselhafter, melancholischer, menschlicher als die Städte aus Glas und Beton. Ich fühle mich wohl unter Ruinen.“ Ich erinnere mich selbst gern an eine Bukarest-Reise in eine extrem lebendige moderne Stadt mit einem Architektur-Mischmasch aus Jugendstil, Klassizismus, Neuromanik, sozialistischer Moderne, orthodoxen Kirchen und postmodernen Prachtbauten, die nach viel Geld riechen.
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Dilema kann immer mal wieder, je nachdem wie er mit der Produktion hinterherkommt, über Adi ale Vans Homepage bestellt werden. Die Flakons sind handgefertigte Kunstwerke, ihrerseits aufwändig und wunderbar verpackt, hier in einer eigens gestalteten Holzkiste mit einem Verschluss wie einem alten Ledergürtel mit Schnalle. Dazu gibt es einen persönlichen Dank von Adi ale Van auf künstlerisch gestaltetem Papier. Schon das Auspacken ist eine Freude und Augenweide.
Die Kappe des Flakons und die Flasche selbst sind künstlerisch von Hand gestaltet, man bekommt immer ein Einzelstück, das uralt aussieht, als sei es mit einer Zeitmaschine aus vergangenen Jahrhunderten direkt auf meinen Tisch gefallen. Die Holzkiste erinnert mich an diese alten Dachböden, wenn Haushalte aufgelöst werden und sich Dinge finden, an die sich vielleicht lange schon niemand mehr erinnert hat…
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Der Duft beginnt bei mir fast scharf und anstrengend-alkoholisch, in einer sehr ähnlichen Qualität wie auch
Gethsemane , nur nicht ganz so streng und quälend. Safran und Bergamotte oder andere Zitrusnoten kann ich nicht einzeln ausmachen. Recht schnell schält sich bittere Myrrhe heraus. Später wird das Ganze immer mehr lakritzig (Süßholz) und hält lange Zeit in dieser Lakritzphase aus, die nach und nach von unten her mit Leder- und Holznoten unterstützt wird. Ganz am Schluss nach etlichen Stunden bleibt ein sehr weicher Duft übrig mit leichten Holz- und Patchoulinoten.
Weil Anne Sophie Behaghel als eine der beiden Parfümeurinnen (zusammen mit Camille Chemardin) genannt ist, deren Arbeiten ich oft sehr schätze, habe ich dem Duft ein gewisses Vorschussvertrauen entgegengebracht. Nach dem für mich anstrengenden Start ist es ein moderater, tragbarer und extrem interessanter Duft mit dem Potential zu Zeitreisen!