106. Der Besuch der alten, flotten Dame
Endlich hatte ich Gelegenheit, die Freundin meiner 95-jährigen Großmutter besser kennenzulernen. Die Frau ist 91 Jahre alt, lebt ganz bescheiden am Ende des Feldweges und gilt im Dorf als DIE Netzwerkerin, begnadete Sängerin und ewigfitte Gärtnerin.
Ich schenkte den Damen ihren geliebten Amaretto ein und schon sprudelte es aus der Freundin heraus: "Eins sage ich gleich, ich war nur 5 Jahre in der Schule, das Leben war mein Lehrmeister... Klöppeln, Häckeln, Filzen, am Spinnrad und Webstuhl arbeiten - alles habe ich mir selbst beigebracht... und Gärtnern sowieso. Ach, was habe ich in meinem Leben alles eingepflanzt, geernet, eingekocht und verteilt... Ihr Pflaumensaft hier schmeckt übrigens mehr nach Maulbeere, kennt man heute kaum noch... natürlich haben wir auch Tiere gehalten... Rinder, Schweine, Hühner, Gänse und Truthähne sowieso, aber ich habe auch Rebhühner und Fasane gezüchtet, sogar bei der Jagd mitgemacht... Bei einem Schießwettbewerb habe ich mal gewonnen, da haben die Männer aber geguckt!
- Singen? Ja, Gesang war und ist mein Leben. Ich singe, wenn ich traurig bin und fröhlich, sogar im Phönix-Chor der Kreisstadt habe ich gesungen, über 40 Jahre! Außerdem liebe ich Kirchenlieder, wurde viel als Hochzeitssängerin engagiert, heute singe ich meist auf Beerdingungen... (überzeugende Gesangseinlage folgt, Aufnahme auf Lebenszeit gesichert) ... und gekocht habe ich... auf Schulfesten, Betriebsfeiern, Hochzeiten... - 100 Gäste? Kein Problem... ach, was hatte ich immer viele Menschen um mich herum! Kontakte überall, selbst in Krakau habe ich einen Arzttermin bekommen! Alles habe ich schon gemacht im Leben: Pilze und Heilkräuter gesammelt, Tabak getrocknet, Pilgerfahrten für die Kirchengemeinde organisiert - sogar nach Fátima und Rom! - viele Männer und Frauen verkuppelt und auf deren Hochzeiten gekocht und gesungen...
Mir ist ganz schwindelig, so viel gelebte Zeit- und Kulturgeschichte! Ich möchte ihr ewig zuhören, schenke Amaretto nach und beginne, nebenher den Spargel für's Mittagessen zu schälen...
... und wie halten Sie es selbst mit der Liebe? ... ach, Liebe... mein Mann war rechtschaffen, nicht sehr patent, aber rechtschaffen, das ist das Wichtigste... mit 55 war ich verwitwet, selbst im Alter hatte ich viele Verehrer, auch hohe Tiere waren dabei, einmal sogar ein Polizist aus Warschau!
Stichwort "Verehrer".
- JETZT mischt sich auch Oma ein und die beiden Damen kichern wie bekiffte Teenagerinnen, als sie sich gegenseitig versichern, dass Männer letztlich mehr Probleme machen als lösen... 🙄
- Haben Sie denn Tipps für's gute Altern?
Ich bin keine Philosophin, sondern eine einfache Frau vom Dorf. Aber immer schön auf dem rechten Weg bleiben, das spart Lebensenergie... - und eigenständig sein, immer arbeiten! Arbeiten hält jung! Ohne meinen Garten wäre ich längst tot... meine Kartoffeln, Karotten, Kohlköpfe, Erbsen, Bohnen, Radieschen, Salate, Kräuter, Erdbeeren und meine Obstbäume, ich liebe sie alle und die Düfte und Farben der Natur und meine Kinder und Enkel... gute Menschen sind wichtig, auch mal ein Schnaps und Liedchen in guter Gesellschaft genießen...
Was für ein herziges Kaffeekränzchen! Zum Abschied packe ich ihr etwas Süßes und ein paar geschälte Spargelstangen ("Kenne ich nur aus dem TV") in die Tasche, in der sie uns Lauch und Radieschen vorbeigebracht hat.
Und sie darf sich aus diversen Verschenkeflakons zwei Düfte aussuchen. Einen für sich und einen für einen Herzensmenschen ihrer Wahl.
Sie sprüht beherzt, wählt für sich den
Rifaaqat, für ihre Enkelin den "Yara Tous / يارا | Lattafa / لطافة".
- Was für hübsche Flakons! Wir haben damals nur einfache Bügelflaschen eingebuddelt... - wie bitte? - ja, wg. der Kühle und Dunkelheit haben wir sie im Schatten der Bäume vergraben... ich habe als junge Frau Cologne selbstgemacht aus Veilchen, Maiglöckchen und Flieder... wochenlang hat die Essenz im Selbstgebrannten gezogen oder im Reinalkohol, den wir aus Russland geschmuggelt haben... ach, das waren Zeiten...
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"Frau M., Sie sind eine äußerst spannende Frau. Ich freue mich schon auf unser nächstes Treffen."
- "So Gott will, Frau Duftessa, so Gott will..."
Ich hoffe es sehr.