Duftessa
Duftessas Blog
vor 4 Jahren - 19.11.2021
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Dufterinnerungen eines Dorfmädchens

Oder: Wie wurden wir der Duftmensch, der wir sind? 

Drei Monate nach meinem letzten Blog bin ich wieder auf Heimatbesuch. Diesmal erinnere ich mich an meine Kindheit im polnischen Dorf und frage mich, wie sie meine heutigen Duftvorlieben prägt.

Beim Spaziergang entlang flachwelliger Hügelketten, Getreidefelder und Ebereschen im vorwinterlichen Schlaf kam mir ein Hobby meiner unbeschwerten Kindersommer in den Sinn: mit Nadel und Faden bastelte ich meterlange Ketten aus Vogelbeeren. Die knallroten Schmuckstücke verwahrte ich in einer verschließelbaren Metalldose. Großes Geheule, wenn mein Bio-Schmuck zu schimmeln und zu stinken begann. (Heute trage ich riesige Statementketten und knallroten Lippenstift ebenso gerne wie Düfte, die den ganz großen Bahnhof versprechen.)

Beim Passieren winterkahler Gemüsegärten fiel mir der Dorfladen ein, den ich in einer Ecke unseres Gewächshauses betrieb. Statt öko-zertifizierter Holzspielzeug-Miniaturen gab es bei mir echte Verpackungen alter "Pewex"-Produkte, zerbeulte Fischkonserven und Kosmetikverpackungen, in Süßigkeitenpapier eingewickelte Steinchen als Bonbonersatz etc. Es lebe die Phantasie! Selbst die schönen Gerüche musste man sich selbst dazudenken:-) (Dennoch war meine Auslage immer noch spannender als das wahre Warenangebot im sozialistischen Polen 1988.) Der größter Schatz in meinem Krämerladen jedoch war eine makellose Nivea-Dose, ein Überbleibsel aus einem West-Paket der "deutschen Oma". (Heute liebe ich Düfte, deren Cremigkeit wie eine innige Umarmung ist.)

Beim Anblick der Dorfkirche sah ich unweigerlich Klein-Duftessa wieder in der Kinder-Kirchenbank knien (immer erste Reihe, was sonst?), engelsgleich und voll kindlicher Begeisterung für das fulminante Gold und Orgelspiel. Das Gerede des Pfarrers hat sie schon damals nicht verstanden. Trudno. (Heute genieße ich Düfte mit erhabener Weihrauch-Wolke, gerne in Kombination mit opulenten Lilien.)

Außerdem erinnere ich mich mit Wehmut daran, wie hingebungsvoll meine "polnische Oma" ihrem geliebten Goldkind mit selbstgemachtem Brennesselsud die Haare wusch (heute liebe ich Düfte mit würziger Kante), wie ausgelassen ich auf bunten Wildblumenwiesen herumtollte oder auf Heuböden Verstecken spielte (heute gefallen mir Düfte mit grasigem Touch), wie gerne ich schon als kleines Mädchen weiße Kleider und Haarkränze aus duftenden Maiglöckchen und Myrte trug und unangefochtene Königstochter war, always the one and only... 

- und heute...?

Diese kindlich eingefärbte Nostalgie hilft mir. Nicht nur zu verstehen, wie ich Duftessa wurde. Sondern auch, um Ruhe und inneren Frieden zu finden angesichts ernüchternder Entwicklungen im heutigen (politischen) Polen und im Privaten und überhaupt... 

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Wenn Du magst: Wie hat Deine Kindheit Deinen Duftgeschmack beeinflusst?

7 Antworten
ErnoErno vor 3 Jahren
Polen, die 80er Jahre... Was für eine Zeit! Streiks, Unruhen, ... Popieluszko! ~ Trauer, Wut. Auch das Wissen, ein Staat, der seine Priester durch den Geheimdienst ermordet, ist dem Untergang geweiht! Eine aufregnde Zeit, für einen jungen ostdeutschen Katholiken. Unvergessen, lange Gespräche mit unserem Pfarrer, ob wir unsere Kirchen nicht auch als Lazarette, Zufluchtsstätten herrichten sollten ~ die Protestanten taten dies!
Ich habe immer gern gerochen, und auch gern gegessen, die Haferschleimsuppe meiner Oma! :)
Sie gab es nur bei Oma, meine Mutter konnte sie nicht so gut. Mit meiner Pubertät ist sie verschwunden... Nussige Aromen mag ich heut noch gern.
FloydFloyd vor 3 Jahren
Das ist eine Frage, mit der ich jetzt erstmal eine weile gehen werde.. Tolle Inspiration.
Mina33Mina33 vor 4 Jahren
…beeinflussen sie, welche Düfte ich heute mag und womit ich mich wohl oder gar zu Hause und geborgen fühle. Alle aufzuzählen würde hier auf jeden Fall den Rahmen sprengen.☺️
Mina33Mina33 vor 4 Jahren
Welch schöner Blog an einem für mich persönlich düsteren Samstag. Vielen Dank für die frohen Gedanken. In meiner Kindheit ist für mich viel an Düften hängen geblieben. Warme geschmolzene Butter, Zimt und Zucker, frische Gartentomaten, Erdbeeren aus dem Garten, Grillen im Sommer, Petrichor, der Geruch von Gewächshaus oder Gartenkräutern, der Duft vom ersten Schnee im Winter, den ich immer roch bevor er viel, Schokopudding Eicheln auf dem Herbstwaldboden und noch so viele mehr. Ganz klar…
BehmiBehmi vor 4 Jahren
Eine wunderbare Reise an der ich gern teilgenommen habe!
NachtgartenNachtgarten vor 4 Jahren
Danke für den wunderschönen und nostalgischen Artikel.
Über deine Frage muss ich noch nachdenken...ganz bestimmt haben die Sommer und Wochenenden auf dem Land, die triumphierenden Frühlingsblüher nach geruchsloser kalter Winterzeit (Flieder!!!!) und die Gewürzmelange der Weihnachtszeit ihre Spuren hinterlassen.
PollitaPollita vor 4 Jahren
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So viele, meine Liebe. Ich denke, Gerüche aus der frühen Kindheit spielen eine große Rolle, welche Düfte wir später bevorzugen.