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vor 5 Jahren - 24.02.2019
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Die schönste Mehrwegflasche aller Zeiten - L'Heure Bleue/Mitsouko/La Petite Robe Noire

Der letzte Tag der Semesterferien will genutzt werden, um den Design-Blog ein wenig voranzubringen, zumindest um einen Beitrag. Und der dreht sich heute um einen Flakon, der gleich mehrere Male in der Duftgeschichte erscheint: L’Heure Bleue von Guerlain.

L’Heure Bleue erschien im Jahre 1912 und wurde von Jacques Guerlain komponiert, auf dessen Konto auch Größen wie Apres l’ondee, Mitsouko, Shalimar, Djedi und Vega gehen. Stilistisch entspringt der Flakon von L’Heure Bleue dem Jugendstil.

Der Jugendstil regierte grob gesagt zwischen 1890 und dem ersten Weltkrieg in der Architektur, im Kunstgewerbe und der Malerei. Natürlich sind Stilrichtungen oft fließend und es kommen vor dem nachträglich bestimmten Beginn schon Formen davon vor, genauso wie sie noch lange nach dem Ende ihre Spuren hinterlassen. Um seine Entstehung begreifen zu können, muss man etwas weiter ausholen:

Die ganze Geschichte der Menschheit hindurch folgte immer eine Stilrichtung auf die nächste, jede mit ihren eigenen Motiven, Formen und Gedankenmustern. Sei es die Romanik mit ihrer simplen, rohen Schönheit, die spitz-aufstrebende Gotik oder der überbordende Barock.
Mit der industriellen Revolution um 1800 kam aber ein neues Phänomen auf: Möbel und Gebrauchsgegenstände konnten plötzlich vergleichsweise günstig und schnell maschinell produziert werden. Die Bevölkerung wuchs und immer mehr Menschen konnten sich Produkte leisten. Gestalterisches Vorbild für die Produkte der Massen waren all die Dinge, mit denen sich obere, finanzstarke Schichten umgaben. Es wurde kopiert. Der Kopierwahn beschränkte sich nicht nur auf Gebrauchsgegenstände wie Möbel, er dehnte sich auch auf die Architektur aus. Es wurde kein neuer, eigener Stil mehr entwickelt, sondern nur auf Vergangenes zurückgegriffen.

Baute man ein Haus, beispielsweise ein Bahnhofsgebäude, wurde es reichlich mit Elementen dekoriert, die aus der Gotik kamen oder die man von Bauernhäusern in der Schweiz kannte. Somit entstand ein Haus mit einer bestimmten Funktion, die aber nicht gestalterisch ersichtlich war. Vielmehr hatte man etwas vor sich, das wie eine verspielte Almhütte aussah oder wie ein merkwürdig geformtes, gotisches Schloss. Diesen Rückgriff auf historische Stile nennt man Historismus. Innerhalb davon bewegen sich die ganzen Begriffe mit Neo- oder Neu- am Anfang, wie beispielsweise Neobarock oder Neoklassizismus, die alle eine neue Variante eines vergangenen Stils beschreiben. Ganz Mutige kombinierten Elemente aus verschiedenen, alten Stilen und machten daraus etwas Neues. Dieses historistische Potpourri bezeichnet man als Eklektizismus.

Viele Künstler waren mit dem Kopierwahn natürlich nicht einverstanden, genauso mit der schlechten Qualität der neuen, industriell gefertigten Produkte. Deshalb entstanden Gegenbewegungen wie „Arts and Crafts“ in Schottland in den 1860er Jahren. Sie schrieben sich Qualität, Schönheit und Nützlichkeit auf die Fahnen und bezogen die Inspiration für ihre Motive beispielweise aus der Kunst des Mittelalters. Hergestellt wurden ihre Produkte ausschließlich handwerklich. Daraus erwuchs, verkürzt beschrieben natürlich, langsam der Jugendstil, dessen deutscher Name sich auf die Zeitschrift „Die Jugend“ bezieht. In anderen Sprachen heißt er zum Beispiel Modernisme oder Art Nouveau bzw. in Österreich auch Seccessionsstil.

Seine Inspiration findet der Jugendstil in der Natur: Wallendes Haar, Blumenranken, Blätter, Libellen, Schlangen, Fische und Vögel werden stilisiert und ranken sich in geschwungenen Linien über ganze Flächen. Durch Symmetrie fühlten sich die Künstler und Architekten in ihrer Kreativität gehindert und verzichteten deshalb darauf. Aus der natürlichen Motivik wurden fließende Ornamente entwickelt, die organisch wirken und etwas sehr Lebendiges und Harmonisches verströmen.

Wichtig für die Künstler des Jugendstils war wie schon bei Arts and Crafts die hohe Qualität. Langlebige, handwerklich geschaffene Produkte waren das Ideal.
Wie beispielsweise schon im Barock sahen die Jugendstilkünstler ihre Arbeit als ein Gesamtkunstwerk, das alles beinhaltete. Ein Architekt entwarf nicht nur ein Jugendstil-Wohnhaus, er hatte idealerweise eine Vision, die jedes Möbelstück, jede Lampe, jedes Gemälde inkl. dessen unveränderlichen Platz und sogar die Kleidung der Hausherrin umfasste.

Tolle Beispiele davon haben sicher schon viele im Urlaub auf Mallorca oder in Barcelona gesehen, wo Parks, Wohnhäuser, Kirchen und andere Bauwerke in schönstem Modernisme gestaltet wurden, zum Beispiel von Antoni Gaudi und seinen Nachahmern.

Doch nicht nur Häuser findet man im Jugendstil, auch Parfümflakons gab es natürlich zu dieser Zeit. Einer davon ist L’Heure Bleue. Er ist geformt wie eine Säule. Äußerlich streben die Seiten gerade nach oben, doch die Seitenwände sind innerlich nicht gleichmäßig geformt. Vielmehr wölben sie sich im oberen Abschnitt nach innen, wodurch der Flakon quasi eine Taille erhält und Spannung entsteht. Obenauf thront der Säulenkopf oder das Kapitell. Es ist rund geformt und endet in zwei Voluten rechts und links. Diese Voluten sind ein typisches Merkmal des Jugendstils. Auch oben ist die Glaswand nicht regelmäßig geformt. Unterhalb des Sprühkopfs ist das Glas am dünnsten und es verdickt sich zu den Voluten hin. Wie schon am Schaft entsteht durch die auseinanderlaufenden Innen- und Außenlinien eine dynamische Bewegung. Den Deckel bildet ein umgedrehtes Herz mit abgeflachten Rundungen. Durch das spitze Dreieck entsteht die Assoziation mit einem Dach, was durch die Säulenform des Flakons noch verstärkt wird und Gedanken an griechische Tempel erweckt. Wegen dieser Tempelform bin ich mir nicht ganz sicher, ob wir es mit reinem Jugendstil zu tun haben. Das Gefühl sagt Jugendstil, doch die klassische Säulenform und das Tempeldach könnten Anspielungen auf die Antike sein, wodurch der Flakon auch teilweise dem Neoklassizismus zuzurechnen sein könnte, der um 1900 aufkam:


Auf der Vorderseite, leicht oberhalb des Zentrums, prangt das kreisrunde Etikett. Es besteht aus einem Kreis in der Mitte mit der Bezeichnung des Duftes in einer schlichten, serifenlosen Schriftart und einem umlaufenden Band. Die Gestaltung variiert dabei mit der Konzentration des Parfums: Bei Eau de Toilette und Eau de Parfum steht über dem Namen die Konzentration und darunter die Marke, beides in Gold. Das umlaufende Band besteht aus silbernen Rocaillen, die die Schneckenform der Voluten aufnehmen.

Das Extrait-Etikett und das der EdT-Miniaturen trägt ebenfalls den Namen in der Mitte des Kreises. Dieser ist ansonsten aber mit roten Rocaillen ausgefüllt. Das umlaufende Band bildet der Schriftzug „Guerlain Paris“ in einem organischen Jugendstil-Schriftschnitt in Majuskeln. Das Extrait-Fläschchen ist zudem durch eine verspielte Troddel verschnürt, an der das Auge ganz besonders viel Freude findet.

Meine beiden Mitsoukos in der Jugendstil-Kiste

L’Heure Bleue und ihr Flakon entstanden 1912, also kurz vor Beginn des ersten Weltkriegs. Als dieser endlich vorbei war, kam 1919 „Mitsouko“ auf den Markt. Möglicherweise aus Kostengründen fand Mitsouko ihr Heim in den gleichen Flaschen wie L’Heure Bleue. Auch die Gestaltung der Etiketten folgt dem Muster ihrer Vorgängerin. Von Vintage-Flakons und Anzeigen weiß ich, dass beide Düfte während des 20. Jahrhunderts in wechselnden Fläschchen abgefüllt wurden, doch seit einigen Jahrzehnten sind sie wieder wie zu Beginn in den Säulenflakons zu haben. Diese ikonische Form hat Guerlain intelligenterweise auch für La Petite Robe Noire genutzt. Zwar sind die Grafik mit dem Kleid sowie die Typografie modern, doch der Korpus folgt komplett der klassischen Form und gewöhnt damit die Neukundinnen an eines der Wahrzeichen des Hauses. Auch „Vol de Nuit Evasion“ und vielleicht noch andere Düfte ihres unendlichen Portfolios waren im Säulenflakon erhältlich.

Für mich ist L’Heure Bleue/Mitsouko/La Petite Robe Noire einer der schönsten Flakons aller Zeiten und ein wunderbares Relikt seiner Zeit. Gefällt euch der Flakon? Was denkt ihr, gehört er zum Jugendstil oder zum Neoklassizismus?

Die übrigen Beiträge der Reihe:

Midnight in Paris von Van Cleef & Arpels

Diva von Ungaro

Vol de Nuit von Guerlain

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