Comme des Garçons (1994) (Eau de Parfum) von Comme des Garçons

Comme des Garçons 1994 Eau de Parfum

Version von 1994
Palonera
05.04.2013 - 14:52 Uhr
27
Sehr hilfreiche Rezension
10Duft 10Haltbarkeit 7.5Sillage 7.5Flakon

der Erstgeborene

Irgendetwas hatte ihn aufgeweckt.
Still lag er zwischen den hellen Laken, sein Körper noch schlafend, die Augen geöffnet und den Blick auf den einzelnen Sonnenstrahl gerichtet, der sich durch die geschlossene Jalousie hindurch ins Zimmer gemogelt hatte.
Glänzende Staubkörnchen tanzten im Licht, sacht durcheinandergewirbelt durch den leichten Luftzug, der von draußen hereinkam.
Es war Morgen, realisierte er, mühsam einen Gedanken durch die trägen Hirnwindungen schiebend und zerrend, eingelullt vom Gezwitscher der Vögel im Baum vor dem Fenster, dem leisen Ticken der Uhr.
Und plötzlich fiel es ihm wieder ein: Heute war sein Tag, der Tag, an dem er 19 Jahre alt geworden war.
O-kaa-san würde kommen, seine vielbeschäftigte Mutter, und vielleicht würde es auch Dad schaffen – sie hatten gestern noch telefoniert, Dad war ein wenig zerstreut gewesen und in Gedanken bei seinem neuen Parfum, das nächste Woche in Florenz vorgestellt werden sollte.
Wahrscheinlich hatte er inzwischen schon wieder völlig vergessen, daß sein Erstgeborener ihn heute abend zu seiner Geburtstagsfeier erwartete.

Wieder einmal seufzte er, als er an seine Familienverhältnisse dachte.
Für die meisten Menschen, die ihn oder eines seiner Geschwister kennenlernten, waren sie – nun ja: gewöhnungsbedürftig.
Seine Mutter lebte die meiste Zeit in ihrem Heimatland Japan und entwarf avantgardistische Mode, die zu tragen er wohl immer zu spießig bleiben würde.
Niemand konnte sich vorstellen, wie sie und jener exzentrische Engländer, der in Hamburg seine zweite Heimat gefunden hatte, zueinander hatten finden und erst ihn und dann noch einen ganzen Stall voll Kinder bekommen können.
Sie waren sich auf einem Empfang in Marrakesch begegnet und einander vom ersten Augenblick an verfallen gewesen – so erzählten sie es zumindest ihren Kindern, die sie neben all ihrer Hingabe an Mode und Parfum irgendwie in die Welt gesetzt hatten und die nun mit Haushälterin und einigen Bediensteten hier in Marokko lebten.

Leise drang das Summen und Brummen des großen Hauses zu ihm durch – nebenan im Bad begann Wasser aus der Dusche zu rauschen, er hörte das Rattern des Traktors, der unter seinem Fenster vorbei auf die Felder zusteuerte.
Ein plötzlicher Windstoß blähte die Gardinen und trug die Aromen des Gartens zu ihm – den Duft der Rosen und Geranien, die sein Vater so liebte, vermischt mit den Kräutern aus dem Küchengarten und einem Hauch von Heu und wildem Honig.
Was würde Dad noch alles in diesem Lufthauch erschnuppern, er, der als einer der größten Parfumeure der Welt galt?
Er schüttelte den Kopf – irgendwie erschien ihm das Leben seiner Eltern als surreal, schien es nichts mit ihm zu tun zu haben, auch nicht mit O-kaa-san und Dad selbst, wenn sie hier waren bei ihm und seinen Brüdern und Schwestern.
Wie hatten sie es nur geschafft, ihre Gen-Poole derart unterschiedlich auf ihre Kinder zu verteilen, daß man sie in Aussehen und Charakter kaum für Geschwister halten konnte?
Er selbst sah mit seinen schwarzen Haaren, den dunklen Augen und der gebräunten Haut aus wie ein Einheimischer, während eine seiner Schwestern mit ihren flammendroten Haaren irgendeine Schottin in der Ahnenliste seines Vaters zu repräsentieren schien und sein jüngster Bruder als personifiziertes Eiskristall durch die Gegend schwebte.
Auch von ihrem Wesen her hätten sie unterschiedlicher kaum sein können – tiefe Versunkenheit in das eigene Ich war ebenso vertreten wie rauhbeinige Naturverbundenheit und explosive Lebenslust.
Kein Wunder, daß es zwischen ihnen immer wieder krachte – doch Blut schien tatsächlich dicker zu sein als Wasser, bis zum Abend war ein Streit in den meisten Fällen wieder vergessen.

Heute abend würde das Haus voll sein.
Samira, die Köchin, war schon seit Tagen mit den Vorbereitungen beschäftigt gewesen, hatte gebraten und gekocht, gebacken und das ganze Haus mit dem köstlichen Duft der Gewürze erfüllt, die sie frisch auf dem Basar kaufte.
Nirgendwo sonst auf der Welt dufteten Muskat, Koriander und all die anderen Gewürze so wie hier, nirgendwo schmiegten sie sich enger an Gaumen und Zunge, trieben den Schweiß aus den Poren und die Tränen aus den Augen.
Und keine Frau roch besser als Samira – wie oft hatte er sich von hinten an sie herangeschlichen, seine Nase in ihrem Haar, an ihrem Hals vergraben und diese unnachahmliche Mischung aus warmer Haut, Sandelholz, dem Pfeffer, den sie gerade gemahlen hatte, und einer Spur Weihrauch tief in sich hineingesogen.
Immer wieder hatte sie ihn vertrieben, lachend und schimpfend zugleich, und er hatte sich ein Zimtbrötchen vom Blech geangelt und war aus der Küche gegangen.
Bis zum nächsten Mal.

Sein Magen knurrte, wie immer, wenn er an Essen dachte.
Noch einen Augenblick lang blieb er liegen, dann schlug er die Laken zurück und schwang die Beine aus dem Bett.
Auf dem Weg ins Bad kam er an einem Spiegel vorbei.
"Happy birthday!" zwinkerte er sich zu – dann schloß sich die Tür.
11 Antworten
MonsieurTestMonsieurTest vor 3 Jahren
Wow, welch umwerfend fantasievoller und doch den Duft präzise erschließender Text zum ersten Spross von Kawakubo und Buxton (den ich gerade aus der Bucht geangelt udn aufgetragen habe ...:-)).
MarieposaMarieposa vor 5 Jahren
2
Was für ein Genuss deine Kommentare sind. Immer wieder aufs Neue. Den Duft kenne ich noch nicht, werde das aber zügig ändern. Bestimmt hast du seine Essenz wieder in wundervollen Worten eingefangen.
SchatzSucherSchatzSucher vor 7 Jahren
Ich bin ganz hin und weg von dieser tollen Erzählung! So ganz dunkel kann ich mich an den Duft sogar erinnern, auch wenn es schon lange her ist. Ich weiß nur, daß ich den Duft mochte. Er ist aber wieder flugs auf die Merkliste gekommen! Dankeschön für den tollen Tip!
AavaAava vor 13 Jahren
Ich bin gespannt auf den Erstgeborenen :) Nun noch mehr!
ChypienneChypienne vor 13 Jahren
Ich mach's wie Ergoproxy:-) nachdem du mich auf den Duft neugierig gemacht hast.
ErgoproxyErgoproxy vor 13 Jahren
Miss P, ich verneige mich!
ZoraZora vor 13 Jahren
Wie immer ein toller Kommi. Respekt.
YataganYatagan vor 13 Jahren
1
So muss ein Kommentar sein: Leerstellen zum Selbst-Denken: Denk dich selbst: Sapere aude: Habe Mut...etc.: Avantgarde!
SeeroseSeerose vor 13 Jahren
Nett und amüsant geschriebenes Interludium. Leider hat es für mich nichts mit dem Duft zu tun. Für Außenstehende ist das gar nicht zu nachzuvollziehen.
LovisLovis vor 13 Jahren
Wow - du bist wirklich eine begnadete Schreiberin! *Pokal polier*
LabormausLabormaus vor 13 Jahren
Ein schöner Duft und ein schöner Kommi! Pokal!