Im Jahre 2011 ereignete sich im 20ten Pariser Arrondissement wirklich Einzigartiges: Örtliche Politiker von Ménilmontant und die Verwaltung des Friedhofes „Le Cimetière du Père-Lachaise“ erörterten ein Problem, dass sich so bisher noch nie gestellt hatte: Küsse für einen Toten. Es musste endlich eine Lösung dafür gefunden werden, dass am Grab „dieses Iren“ zu viel geküsst wird, genauer, dass dessen Grab über die Jahre derart „zugeküsst“ wurde, dass der Grabstein, von Unmengen von Lippenstift-Abdrücken übersät, mittlerweile fast in Gänze rot war.
Nun ist Paris bekannt für seine einladenden Friedhöfe: die wenigsten Parkanlagen dieser Erde können es mit der melancholisch-morbiden Schönheit der Pariser Friedhöfe aufnehmen. Ob der Friedhof „Montmatre“ im Norden, der südlich gelegene „Montparnasse“, der zentrale „Passy“ oder eben der „Père-Lachaise“ im Osten: sie alle sind von einer heiteren Wehmut beseelt, dass man fast geneigt ist, zu vermuten, sie wollten jemanden davon überzeugen, Sterben sei schön, mindestens aber nicht ganz so arg, wie gemeinhin angenommen.
So pilgern jedes Jahr Heerscharen von internationalen Besuchern zu diesen Friedhöfen, nicht zuletzt natürlich, um all die Künstler zu ehren, die mit ihrem Wirken das Antlitz der Welt ein wenig verschönert haben: Proust, Moliere, Bizet, Truffaut, Piaf, Sartre, Balzac, usw. usw..
Auch die Franzosen und die Pariser selbst lieben natürlich ihre Friedhöfe, wobei ihre Verehrung ausdrücklich auch schon immer Künstler mit einbezog, die zwar aus anderen Ländern stammen, aber durch ihre Liebe zu Paris –oder sonst einen Zufall- in den Augen der Franzosen am Ende doch auch irgendwie zu Franzosen geworden waren: Beckett, Heine, Ionescu, Jim Morrison, Chopin, und eben auch „dieser Ire“ mit seinem Grabmal voll von Küssen: Oscar Wilde.
Und so ist es angesichts dieser französischen Verehrung für Künstler allgemein und für Oscar Wilde speziell vielleicht auch gar nicht so verwunderlich, dass die Gründerin des Hauses Jardins d'Écrivains, Anaïs Biguine, nicht nur ihr gesamtes Duftportfolio an Schriftsteller anlehnt, sondern eine ihrer bislang 5 Parfumkreationen im Jahre 2012 eben Wilde gewidmet hat.
Biguine gründete Jardins d'Écrivains vor Jahren zunächst als Quereinsteigerin: Sie war in der Werbung, als Schauspieler-Agentin und Photographin tätig, bevor sie sich eines Tages entschloss, Düfte zu konzipieren. Auf Grund ihrer schon immer währenden großen Liebe zur Literatur war und ist dabei der Gedanke/Gefühl für ein literarisches Werk oder einen Schriftsteller Ausgangspunkt einer Kreation. Ähnlich wie Diptyque begann Biguine dabei zunächst, Durfkerzen und Badezusätze zu entwerfen, bevor sie im Jahre 2012 das erste Parfum lancierte, wobei sie als Ideengeberin agiert und für die Ausarbeitung mit einem Labor in Grasse zusammenarbeitet.
Wie duftet nun aber das Parfum des O. Wilde, dieses Prototyps des Dandys, Meister des geschliffenen Aphorismus‘ und Schöpfer des Dorian Gray ?
Der Auftakt ist überraschend: Herb-saures frisches Grün, eine krautige aber mitnichten zitrische Bergamotte umrahmt einen traumhaft-herben Traubenduft, schon anfangs flankiert von einem zarten Hauch Feige; wie ein frisch zerriebenes Blatt umspielt von Weintraubenschale und Traubenkernen mit einer Ahnung von Rharbarber; dabei alles so frisch, wie nach einem Regenschauer. Das ist famos, das ist schlichtweg einer der schönsten grünen Kopfnoten überhaupt.
Nach einer Weile dann werden Bergamotte nebst Traube allmählich kurzatmiger und geben den Weg frei für einen fast schon meditativen milchig-hellen Tee, auf dem sich die Feige bettet, naturgemäß zwar etwas süß, aber nie süßlich, sondern klar und kühl, schwebend, vielleicht auch von der Nelke herrührend, die aber sonst nicht näher in Erscheinung tritt. Die Basisnote ist dann geprägt von dem nach und nach dunkler werdenden Tee, trockenem Vetiver und rauchigem Eichenmoos im Sinne einer recht klassischen Chypre-Basis, trotz allem aber grün und zu keinem Zeitpunkt düster-schwer.
Donnerwetter, das ist nicht das, was ich erwartet hatte: Das ist kein englischer Salon, in dem die Stützen des British Empires mit Zigarrenspitze rauchend geistreich-gestelzte Gespräche führen, das ist nicht das spätviktorianische selbstgefällige England, das ist führwahr vielmehr die scharfe Zunge, das ist die Heimat von Oscar Wilde: das ist Irland, wenn auch gezähmt.
Dieser Duft ist nicht verkompliziert, sondern leicht zugänglich und einfach strukturiert, was aber kein Manko ist, sondern einfach seiner Klarheit entspricht. Der Vergleich zu anderen Feigendüften fällt nicht leicht, zu sehr imponiert diese wohltuende kühle Traube. Der Duft findet sich am ehesten in der Nähe von Heeley‘s Figuier wieder, mit dem ihn die herb-frische leichte Natürlichkeit verbindet, wobei der Heeley statt Traube eine luftige Melone führt. Auch Erinnerungen an Grey Flanell stellen sich zuweilen ein.
Diese Kreation von Jardins d'Écrivains ist einfach wunderschön, jeder, der Grünes mag, müßte begeistert sein.
Und das Grab von Oscar Wilde ? Die Politiker von Ménilmontant und die Friedhofsverwaltung sahen sich gezwungen zu handeln. Selbst die irische Regierung hatte schließlich schon interveniert und sich sogar schon für die Kosten einer wohlmöglichen Renovierung des Grabsteines des berühmten Sohnes Irlands stark gemacht. Andererseits konnte man nun in der Stadt der Liebe doch nicht einfach das Küssen verbieten, selbst wenn es das eines Grabes war. So wurde verfügt, dass das Grab von Oscar Wilde zunächst gesäubert und anschließend mit einer hohen Plexiglaswand umgeben wird, auf das keiner mehr seinen Kussmund auf den Grabstein direkt setzen kann. Und so geschah es dann auch exakt am 30.11.2011, dem 111. Todestag von Wilde.
Nicht nur die Anhänger von Wilde, auch die Pariser selbst fanden nun diesen Akt der Grabsteinsäuberung so gar nicht französisch, weil vollkommen unromantisch: „Dies sei keine Art, wie Paris mit seinen Toten umgeht“ war in einer Zeitung gar zu lesen. Aber die Verwaltung blieb hart. Seither wird natürlich ersatzweise die Glaswand geküsst, aber -weil eben unromantisch- deutlich seltener.
Was aber alles noch nicht die Frage beantwortet, warum ausgerechnet Wilde’s Grab über die Jahre eine derartige Verehrung erfuhr. Denn das hat es selbst auf Pariser Friedhöfen noch nie gegeben: Das Grab von Jim Morrison musste schon abgesperrt werden, das Grab von Serge Gainsbourg gleicht bis heute einem Wallfahrtsort, aber Küsse für einen Schriftsteller aus Irland, der zudem mehr oder weniger zufällig in Paris gestorben war ? Warum Küsse ausgerechnet für ihn, den scharfzüngigen Wilde, der da einst über die Menschen formulierte: »Wir liegen alle in der Gosse, aber einige von uns betrachten die Sterne«.
Aber vielleicht liegt die Antwort ja genau in diesem Zitat, vielleicht liebten und lieben ihn viele Menschen am Ende genau deshalb, weil sie gespürt haben, dass sich hinter dem beißenden Zynismus, scharfsinnigen Geist und snobhaften Auftreten vor allem einfach ein extrem mitfühlender Mensch verbarg, der, ansonsten gleich zu allen Anderen, einfach einige Sterne sehen und sie für uns beschreiben konnte. Einer dieser rastlos-empfindsamen und –angesichts seines Lebensweges- auch leidenden Seelen von Götter Gnaden, auf den Hölderlin’s Spruch trefflich zu passen scheint:
„Denn sie, die uns das himmlische Feuer leihn, Die Götter, schenken heiliges Leid uns auch, drum bleibe dies: Ein Sohn der Erde schein ich; zu lieben gemacht, zu leiden.“