Wer kennt das nicht: Ein Duft überzeugt auf die ein oder andere Art, nur das Narrativ zum Duft, soweit es eines gibt, ist eher mau - oder; ein Hersteller reimt sich eine potentiell interessante Story zusammen, und die Umsetzung als Parfum bleibt uninspiriert.
Les Bains Guerbois ist eine relativ junge Marke die sich auf eine vergleichsweise lange Geschichte bezieht: das Pariser Badehaus mit gleichem Namen, 1885 eröffnet, von der Familie die schon das Café Guerbois unterhielt. Dann, in den späten 70'er Jahren in den Nachtclub Les Bains Douches umgewandelt, der vielen Bands in Paris oftmals eine erste Bühne bot, auch legendär: seit Mitte der 80'er Jahre, unter neuer Direktion, die vielleicht hipste Disco's der Stadt. Und letztendlich ab 2015, Boutique Hotel, Spa und Club in einem, samt hauseigner Kosmetik Linie inklusive Parfums. Der Grossteil dieser Guerbois Düfte, bezieht sich auch auf die spät 70'er / high-times 80'er Phase der Bains, Musik Bewegungen, Türsteherinnen, das hauseigenen Restaurant (!), das frühe Interior-Design Philippe Starck's, usw …
Neben dem schwefelfreien 1885 Bains Sulfureux (2017) ist 1900 L'Heure de Proust das andere Parfum das sich auf die Frühgeschichte der Badeanstalt beruft. Dass Badegast Marcel Proust's À la recherche du temps perdu / Remembrance of Things Past / Auf der Suche nach der verlorenen Zeit / Em Busca do Tempo Perdido, etc. wohl DAS literarische Werk sein könnte, das bei vielen Parfumeuren und Kollegen aus dem Marketing auf irgendeine Weise bekannt ist, behaupte ich jetzt mal so. Cool Water Altmeister Pierre Bourdon's 'La Dame en Rose' (2015) soll von Odette de Crecy aus der Recherche inspiriert sein, und Bourdon selbst behauptet angeblich auch schon mal dass er Proust sei Dank Parfümeur wurde. Die Bekanntheit und Referenz des Autors, insbesondere in Frankreich, und eben auch die im Parfumkontext gern erwähnte 'Petite Madeleine'/Lindenblütentee Episode zu Sinneseindrücken sind sicherlich mitverantwortlich an der manchmal zu beliebten Verlinkung von MP + Duft. Dafür gibt es überraschend wenig Veröffentlichungen mit Proust im Titel; nur vier sind hier gelistet - ich lasse 'Le Temps Perdu' (2017) mal ausser Betracht, drei davon (auch 2017) waren anscheinend limitiert, womit wir bei 1900 L'Heure de Proust ankommen.
Der Duft liess mich lange etwas ratlos zurück: ist das Proust's reservierte Stunde im Badehaus (so der Beipackzettel) oder befinden wir uns bereits nahe der Madeleine-Tee Episode in der Recherche oder doch generell im Jahr 1900? L'Heure de Proust beginnt fruchtig, mit einer fast stechend säuerlichen Bergamotte, die Beerennote wird dadurch in Richtung Rhabarber und Johannisbeere verschoben und zunehmend von einem schwer klassifizierbaren Tee (… no Lindenblütentee, trotz Bergamotte auch kein Earl Grey, eher schon ein leichter Darjeeling, erste Pflückung) untermauert. Der imaginäre Fruchtakkord sitzt an der Schwelle synthetisch/unwirklich/uneindeutig/klar/realistisch. Wie schon von Eyris geschildert, kann auch ich bei Heidelbeeren kaum einen hervorstechenden Geruch ausmachen, die Frucht erschliesst sich beim Genuss am Gaumen, und Jérôme Epinette setzt auf eine Sinnestäuschung: die Verwirrung/Verschiebung/Verbindung von Geschmacks - und Geruchssinn, wobei wir konzeptionell wieder bei der Madeleine-Tee Szene sind. Die erfrischend säuerliche, synthetisch-hyperreale Beerengeschmacksnote bleibt den ganzen Verlauf über tonangebend. Veilchen (noch eine Referenz?) und minimal Gourmandes um Lakritze, Vanille und Kardamom, wie es seit Yohji Homme (1999) immer wieder zum Einsatz kommt komplementiert den Säure Effekt dabei bestens.
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Proust's Recherche ist gespickt von Geruchs und Geschmacks Empfindungen in vielzähligen Verweisen auf duftende Natur und Interiors. Besonders Flieder und Weissdorn treten häufig mit hochaufgeladener Symbolik in Erscheinung, Après L'Ondée (1906) mit seinen Regen Assoziation könnte einigen Szenen entspringen - ich habe dennoch den Eindruck dass Epinette in L'Heure de Proust erst gar nicht versucht solche Referenzen en masse aufzugreifen. Die Beeren, die in der Recherche auftauchen sind Erdbeeren, Himbeeren und vor allem Johannisbeere bzw. als ganzer schwarze Johannisbeerstrauch, einer der tollsten Modulatoren überhaupt. Vielleicht ist diese auch am deutlichsten in der geschilderten Note zu erahnen. Der erste Geruchseindrücke in der Erzählung aber ist der von Vétiver – Vétivergeruch als ein fremdartig, irritierendes Element in der Wahrnehmungswelt des noch kindlichen Protagonisten. Von dieser Seite an war fuer mich Vétiver mit der Recherche verbunden, was, um wieder auf L'Heure de Proust zu blicken, zu Cœur de Vétiver Sacré (2010) führt - einem säuerlichen Tee-Trockenfrucht Vétiver, das, wenngleich es auch etwas fülliger ist, dem Duft nahe steht. L'Heure de Proust's Verlauf ist weniger dynamisch und eher fast schon flach, zugleich detailliert & nuanciert, das ganze erscheint wie eine delikate Textur, eine Oberfläche oder Stimmung, diese Materialität passt dann doch ganz gut in so eine fiktive MP Stunde - wer bei L'Heure de Proust ein Parfum mit umfangreicher Entwicklung oder Tiefe erwartet, wird nicht nicht fündig.
Die spezielle Künstlichkeit die den Duft durchzieht ist durchaus stimmig mit dieser Epoche, als immer mehr synthetische Riechstoffe auf den Markt kamen und die moderne Parfumerie im Entstehen war. Insofern doch ein bisschen von allem: ein hypothetischer Blick in 1900, Badehaus Protokolle und abstrakter Recherche Duftnote. Fein!