Wir können auch nett - Etienne de Swardt im Gespräch mit Ronin und Louce

Etat Libre d’Orange: Frechheit, Kunst, Provo-Label, Duft, Witz, Wagnis … und zwar alles gleichzeitig. Nicht nur verkündete und gefeierte, sondern auch praktizierte Freiheit, die Tabus bricht und über Grenzen geht (revolutionär und/oder mit schnöder Gewinnabsicht), die schöne Parfums mit abstoßenden oder pornografischen Namen etikettiert (und nicht so schöne auch). Eine Verspottung etablierter Parfummarken und mittlerweile selbst sattsam etabliert als Parfummarke.

Wir wollen das avantgardistische Schreckgespenst Etat Libre d’Orange besser kennenlernen in einem Gespräch mit Etienne de Swardt, Gründer, Besitzer, Art Director und Vater des Enfant Terrible.

Als wir einen Tag vor der eigentlichen Verabredung durchs Pariser Marais spazieren und in das Hauptgeschäft in der Rue des Archives schauen, um (quasi undercover) das neue ELdO-Parfum True Lust zu testen, werden wir Zeugen einer etwas skurrilen Szene: Der kompetente und freundliche Verkäufer, der seinen Job an uns gerade ziemlich gut macht, wendet sich einer Kundin zu, die nach uns das Geschäft betreten hat. Sie sucht einen Duft, sagt sie. Was ihr gefällt oder welche Richtung vielleicht vielversprechend ist, weiß sie nicht. Sie steht etwas lustlos und wortkarg am Testpult und will, dass der junge Mann ihr „irgendwas“ zeigt. Er lächelt und sprüht Sécrétions Magnifiques auf ihre hingehaltene Armfläche. Nein, das gefällt ihr nicht so. Daraufhin bekommt sie Charogne auf den anderen Arm. Hmm, nein, das ist auch nichts für sie. Sie geht dann erstmal ein wenig an die Luft. Und schon ist sie weg.

Sécrétions Magnifiques und Charogne, … wow! Interpretationen, die sich nicht nur PR-mäßig, sondern auch tatsächlich olfaktorisch mit den Themen Sperma und Verfall beschäftigen. Wir fragen, ob er die Parfums häufiger als Kundenvertilgungsspray einsetzt. Er zuckt mit den Schultern und erklärt uns, dass die meisten Leute wissen, was sie hier im Stammsitz von ELdO suchen - und sei es nur die Überraschung. Wenn jemand ihm keinen Anhaltspunkt gibt, dann setze er eben auf die Überraschung.

Die ist wohl geglückt, eben.

Entsprechend auf Überraschung vorbereitet, kommen wir tags darauf wieder und treffen Etienne de Swardt. Der parketttaugliche Markenchef im locker-stylish-eleganten Look eines urbanen Gentlemans ist zuvorkommend und kultiviert höflich. Er wirkt sympathisch und offen … indes ist immer ein Mundwinkel ganz leicht gehoben, immer sieht man da eine einzelne dünne Denkfalte auf der sonst glatten Stirn. Der galante Etienne de Swardt scheint doppelsinnig immer einen kleinen Hintergedanken mitzudenken.


Es geht um Freude

Der Kopf von Etat Libre d’Orange zeigt uns das passende Gesicht, in dem sich spiegelt, was wir oft meinen, in den Parfums riechen zu können: Intellektualität und Lust an Ironie und Hintersinn. Wir freuen uns, ein Gegenüber zu treffen, bei dem sich genaues Zuhören wahrscheinlich sehr lohnen wird und tauchen mit ihm ein in ein Gespräch über netten und weniger netten, aber immer guten Duft und die Suche nach dem besonderen Reiz und der besonderen Lust.

Eine Wegmarke hierbei soll das neue Parfum von ELdO sein: Remarkable People.

Unterstützt vom sprachgewandten und rührigen Thomas Lindet, dem jungen Social-Media- und PR-Manager der Marke, zeigt uns Etienne de Swardt ein noch nicht geschnittenes und gefaltetes Muster des hübschen weiß-goldenen Verpackungskartons und gibt uns Blotter zum Riechen. Ein strahlender, prickelnder, völlig zu Recht „Champagner“ genannter Akkord flirtet mit einer hell-beschwingten Grapefruit-Note, während sich dahinter bereits ein warmer, würziger Unterton in Stellung bringt. So wie die jüngsten Neuerscheinungen Cologne und True Lust scheint Remarkable People ein spontan gefallender, leicht zu mögender Duft zu sein. Unzweifelhaft hochwertig und nicht beliebig, aber sehr wohl gefällig wirkt er beim ersten Kennenlernen auf uns.

Louce testet Remarkable People


So nett … wie sehr ist das Etat Libre d’Orange?

Etienne de Swardt erklärt, warum er denkt, Remarkable People passe eigentlich genau ins Profil von ELdO, auch wenn es nicht auf erste Irritation, Schockmomente oder ungewohnte Harmonien setze: „Es geht um Freude. Bei Etat Libre d’Orange geht es immer um Freude, Lust, Spaß. Es kann richtig Spaß machen, mit Kontrast und Anti-Mode gegen den Strom zu schwimmen, es kann aber genau so Spaß machen, etwas Charmantes und eher Eingängiges in Zentrum einer Duftkomposition zu haben und einfach einen schönen Duft zu tragen. Allen Parfums von Etat Libre d’Orange ist gemein, dass wir das mit der Freude konsequent mit guten Produkten umsetzen, dass die Komposition und die Inhaltsstoffe von hoher Qualität sind. Nur richtig gutes Parfum, nur wirklich Gelungenes wird von uns angeboten, um sich dann daran restlos freuen zu können … egal, ob diese Freude gleichzeitig eine Antithese zum Mainstream ist, oder ob der Duft allgemeines Gefallen findet.“

Zum zugänglicheren Duft Remarkable People passt auch, wie bei den letzten Parfums, ein zugänglicherer Name. Wir fragen, ob mit den teilweise recht provokanten Titeln vor allem der Parfums der ersten ELdO-Generation nicht viele Kunden abgeschreckt werden. Einige mögen davon angezogen sein, viele andere dürften aber gerade deshalb zurückweichen, ganz unabhängig davon, wie das einzelne Parfum dann riecht. Ist es so, dass Etat Libre d’Orange einen Teil der Kundschaft gar nicht will?

„Och, … Probleme haben wir eigentlich nur mit Fat Electrician.“ scherzt Etienne de Swardt.

„Aber nein, im Ernst: Es gibt einige Geschäfte, zum Beispiel im sogenannten Bible Belt in den USA, die Etat Libre d’Orange nicht führen, weil ihnen unser Konzept und unsere Produkte zu anstößig sind. Zu pornografisch, nicht sittsam, gottgefällig und der Ordnung entsprechend. Das ist halt so. Das ist nicht, was wir wollen oder anstreben, aber es ist eine Konsequenz unserer Grundidee.“

Wir bitten ihn, uns die zu erklären.

Inklusion

„Parfummarken, die sich im Luxussegment verorten, benutzen immer das Wort „exklusiv“. Sie sind exklusiv, ihr Parfum ist exklusiv, die Kunden bekommen für ihr Geld Exklusivität. Ich mag das Wort und diesen Impetus gar nicht. Etat Libre d’Orange ist das genaue Gegenteil. Es ist inklusiv. Unsere Parfums sind kein Mittel sozialer Abgrenzung. Wir laden jeden ein, alle sind gemeint. Alles Eigenwillige, Schrille, Bunte, Individuelle, Andere ist bei uns „in“; es gibt kein „out“.

Der schwule Ledertyp der Achtziger mag sich in Tom of Finland wiederfinden oder jemand, der mit diesem Klischee spielen will. Ein Selbstentwurf als verrucht-verführerische Hollywood-Filmdiva à la Greta Garbo oder Marlene Dietrich wird mit Jasmin et Cigarette unterstrichen und ein pornografisch-mystischer mit Sécrétions Magnifiques. Die Schrägheit und Unabhängigkeit der Indie-Film-Ikonen Tilda Swinton oder Rossy de Palma findet sich als geruchliches Identifikationsmuster in Like This – Tilda Swinton oder Rossy de Palma / Eau de Protection, und so weiter. Unsere Parfums sind eine Bejahung des Verschiedenartigen. Und wenn jemand hinter den Namen, die eben nicht Exklusivität versprechen, im zweiten Schritt die hohe Parfumqualität, die all dem Bunten und Ungewöhnlichen zugrunde liegt, nicht erkennt, dann soll er sich halt verziehen. Pech gehabt.“

Also ist Provokation nicht Ziel, sondern Nebenwirkung?

„Exakt. Es geht nicht darum, sich durch Ablehnung von außen zu profilieren. Etat Libre d’Orange ist nicht das Negativ von etwas anderem, sondern etwas eigenes, das aus einer positiven Idee, aus einem Wollen entstanden ist.“

Zur Entstehung wollen wir mehr wissen.

„Am Anfang war das so: ich war damals in einer Art Ideenfabrik von Givaudan. Meine Aufgabe war nicht, eine neue Marke zu entwerfen, sondern Kreativität und Innovation zu fördern. Wir hatten die Besten der Besten bei uns, lauter hochtalentierte Parfumeure mit sprudelnder künstlerischer Energie und fantastischen Ideen. Aber die wurden frustriert und immer frustrierter beim Bedienen der Norm. Das Gestalterische unterlag dem viel wichtiger geltenden Interesse, das investierte Geld zurück zu bekommen und am besten darüber hinaus zu verdienen. Ein neues Parfum bedeutet so viel Investment, es steht so enorm viel Kapital auf dem Spiel, dass kein Platz mehr ist für Mut und Originalität. Die Parfumeure werden also in diesem Prozess zu reinen Technikern und ihr eigentliches Können, ihr großes Potenzial bleibt ungenutzt.

„Existieren bedeutet wörtlich „herausragen“. Im eigentlichen Wortsinn begriffen heißt existieren also frei zu sein. Wir machen Duft dazu.“

Die Frage war also, wie dem Talent eine Bühne zu bieten wäre, so dass es wirklich lebendig und produktiv sein könnte. Es ging um Spaß. Der Spaß lebendiger Kreativität. Unter dem Dach von Givaudan war dann nicht wirklich Raum für eine solche Bühne des Spaßes. Eine eigene Marke jenseits des großen Konzerns sollte diese Bühne werden: Etat Libre d’Orange. Mein Ziel war und ist es, einen Bereich zu schaffen, in dem ein tatsächlicher Existentialismus der Parfumerie stattfindet: Unmittelbarkeit, Echtheit der Wahrnehmung und des Fühlens im Hier und Jetzt, ein direktes, unbeschränktes Sein. Wenn da Schranken sind, ist es kein pures Fühlen mehr. Die reine Emotion ist ohne Tabu. Deshalb gelten keine Tabus im Konzept von Etat Libre d’Orange. Der Tabubruch und der vermeintliche Skandal sind nur Auswirkungen dessen, was eigentlich im Zentrum steht: Emotion. Freiheit.“

Und aus der Idee aus der Givaudan-Denkfabrik ist dann eine neue Nischenmarke entstanden?

„Nicht so direkt. Mein Wunsch, einen echten Freiraum für Kreation und Spaß zu schaffen, entwickelte sich über mehrere Stationen.“, er lächelt „ Eine davon war mit einem Parfum für Hunde verbunden. “

Er spricht von Oh my Dog?

Der Hund riecht…

„Ja genau. Ich war in meinen Dreißigern und arbeitete für LVMH. Als nach längerer Pause ein neues Parfum des großen Hauses Louis Vuitton anstand, hatte ich die Idee, etwas ganz und gar Unerwartetes zu machen. Alle erwarteten einen edlen, überragenden Duft des erlauchten Traditionshauses und ich dachte, dass man genau in diesem Klima von hoher Aufmerksamkeit für etwas ziemlich Vorhersehbares ganz bewusst mit etwas Unvorhersehbarem aus der Rolle fallen sollte: Mit einem Parfum für Hunde! Natürlich hätte das Parfum nicht zum Ziel gehabt, große Verkaufzahlen zu bringen, es wäre ein PR-Coup gewesen. Damit hätte sich Louis Vuitton profiliert als ein Haus der Überraschung, der eigenwilligen Neuerung, des Wagnisses. Der damalige CEO fand meine Idee gut und es entstand ein Konzept. Im letzten Moment dann - als es kurz vor der Realisation stand - wurde dann doch wieder umgeschwenkt. Zu riskant. Wenn so viel Geld auf dem Spiel steht, gibt es eben keine besonders mutigen Entscheidungen mehr.“

Das mit dem Hundeparfum hat er dann aber doch gemacht?

„Ja! Das war lustig. Und ein großer Erfolg. LVMH war so großzügig, mich für ein ganzes Jahr frei zu stellen und gab mir die Gelegenheit, den bereits bestehenden Businessplan mit anderen Investoren umzusetzen. In den Zweitausendnullerjahren war es ziemlich einfach, Geld aufzutreiben. Und das war auch sehr nötig: die Ausgaben auf der tiermedizinischen Seite waren unglaublich! Wir haben ein Parfum entwickelt, das toxikologisch vollkommen unbedenklich ist für Hunde und auch nicht mit ihrer Pheromonsensibilität interferiert. Also ein Duft, der dem Menschen gefällt und den Hund in keiner Weise stört. Und tatsächlich: Oh My Dog! war ein echter Hit. Dann allerdings habe ich auf derselben Schiene weiter gemacht und Oh My Cat? hinterher produziert. Und das war ein gewaltiger Flop. Ein Fiasko.“ Er nickt schmunzelnd „Aber völlig verdient. Ich war dumm. Das kommt eben dabei raus, wenn man ohne Substanz, ohne Vision etwas macht, nur weil man den Ehrgeiz und die Möglichkeiten hat. Etat Libre d’Orange ist das genaue Gegenteil: geboren aus einer Idee, ganz Vision und Substanz. Alles, aber kein Marketing-Coup. Als ich mich dann völlig der Idee widmete, mich auf Kunst und Kreation konzentrierte, entstand etwas Wunderbares.“ Kurz schaut er nachdenklich, dann seufzt er. „Aber die Sache mit den wirtschaftlichen Möglichkeiten und Überlebensbedingungen bedeutet für so ein Projekt natürlich einen ziemlichen Kampf.“

Sind die letzten Parfums, die deutlich gefälliger und zugänglicher daher kommen, mit Rücksicht auf diesen Kampf und die wirtschaftlichen Bedingungen so nett ausgefallen? Ist das der Grund?

„Die Regel ist, dass keine Regel gilt.“

„Nein. Unsere aktuelle Richtung als ein Umschwenken auf Mode und Massengeschmack aus Gewinnabsicht zu interpretieren, ist völlig daneben. Wer sind wir denn, dass wir für alle Zeit auf ein Anti-Profil festgelegt sein müssen, nur weil Leute uns so kennengelernt haben und meinen, uns so zu verstehen? Das ist doch absoluter Konformismus! Wenn aus dem Nonkonformistischen wiederum eine Norm wird, dann ist das genau so konformistisch und normativ, wie das, wovon man zuerst abwich. Wir weichen ab.

Notorischer Abweichler



Darum geht es: Abweichung. Das heißt, wir weichen auch von den eigenen Regeln ab. Die Regel ist, dass keine Regel gilt. Die aktuellen Parfums von Etat Libre d’Orange überraschen. Zu überraschen, nicht irgendwelchen Erwartungen zu entsprechen und einfach ganz konsequent der Freude zu folgen … das ist, was ich will. Ich hasse es, dem Offensichtlichen nachzugehen, den vorhandenen Schienen zu folgen.“

Wir nehmen ihm das ab. Wenn Etienne de Swardt seine Marke darstellt als fundamentale Vision, als sich ständig aus sich selbst heraus erneuernde Alternative eines Andersseins, dann ist das nicht nur ein nach außen vertretenes Marketingkonzept, sondern wirklich das, woran er glaubt und wofür er arbeitet. Trotzdem sind wir an diesem Punkt nicht vollkommen überzeugt, dass die größere Markttauglichkeit der letzten Neuerscheinungen nicht auch willkommen und Teil der Kalkulation ist. Wir fragen also noch mal kritisch nach. Das Nette, unabhängig von Qualität und Kunstdiskurs, ist das nicht doch - zumindest zum Teil - eine wirtschaftliche Strategie?

„Ja klar.“ Er lacht. „Was bin ich doch für ein Bastard, hier zu erzählen, dass alles nur Kunst und Freiheit ist! Unsinn! Natürlich müssen wir überleben. Was nützt das ganze Avantgardistische, wenn Etat Libre d’Orange deswegen untergeht? Dann sind alle unsere ungewöhnlichen Parfums weg und höchstens noch eine Fußnote in der Geschichte der gewöhnlichen Parfumerie. Nische gibt es nur real. Die Parfums müssen real existieren. Mein Job ist, das Gleichgewicht zwischen Tabulosigkeit und Überleben zu finden. Immer wieder. Eine Gratwanderung. Wenn die wirtschaftlichen Bedingungen nicht gesichert sind, wenn das ganze zum Verlust wird oder von ständiger Verlustgefahr bedroht ist, dann erstickt die Kreativität. Meine Idee war ja Kreativität atmen zu lassen – dann muss ich logischerweise auch gegen diese Erstickungsgefahr kämpfen. Die Aufgabe von Etat Libre d’Orange ist auch die des Schützens. Wir schützen unser Parfum, so dass es sein kann.“

Wie gut funktionieren Kampf und Schutz?

„Ich weiß es nicht. Ganz ehrlich: ich habe keine Ahnung. Ich gebe mir Mühe, meine Aufgabe zu erfüllen. Bisher fanden wir immer die Balance, aber wir hatten auch schon schwierige Montage. Rechnungen müssen bezahlt werden. Es gab bereits zwei große Finanzkrisen für uns. Vor drei Jahren sagte ein Freund zu mir: ‚Was Du geschaffen hast, ist absolut schön, aber es muss besser geschützt werden.‘ Er stellte mir einen chinesischen Investor aus der Tabakindustrie vor, dessen Frau unser Parfumhaus liebt. Sie trägt als Signaturduft Jasmin et Cigarette. In nur 24 Stunden fanden und vereinbarten wir den Deal. Die Frau des Tabak-Tycoons bestand darauf, dass in jedem Fall der Geist von Etat Libre d’Orange ohne Kompromiss weiter unkorrumpiert bleiben müsse und das war Grundlage unseres Vertrages. Ein wenig mehr Prêt-à-porter, um die Haute Couture zu schützen, aber unter der unumstößlich geltenden Prämisse, dass der Geist lebendig bleibt. Nicht nur irgendwie, sondern wirklich lebendig und unter gleichbleibend hohem Qualitätsanspruch, egal ob Prêt-à-porter oder Haute Couture. Mit dieser wirtschaftlichen Grundlage können wir heute unsere Rechnungen bezahlen.“

Wir erzählen von unserer Verblüffung, als wir zum ersten Mal Cologne rochen. Der schlichte Name und dann die äußerst sparsame Info zum Duft in der hauseigenen Broschüre („A nice scent“, während die anderen Düfte mit anspruchsvollem und witzigem Vokabular beschrieben werden), ließen uns das genaue Gegenteil erwarten: einen üppig-dichten Sillageknaller jenseits aller olfaktorischen Konvention. Was waren wir erstaunt, als wir tatsächlich einen netten Duft erlebten! Ein gut gemachtes Cologne, unaufgeregt und ausgewogen, sehr gegenwärtig und urban wirkend, aber gleichzeitig gänzlich auf der Matrize des klassischen Cologne-Plans. Wir diskutierten seinerzeit sofort. Darf und kann ein typischerweise provokantes Label ein solches ganz und gar nicht provokantes Parfum herausbringen? Oder sollte es das gerade tun? Ist das trotzdem oder deshalb ein gutes Cologne? Was ist eigentlich ELdO und was sind unsere Zuschreibungen? Ist das jetzt besonders reizvoll oder reines Geldverdienen? Am Ende hatten wir keine einzige Antwort und waren uns mit nichts wirklich sicher. Außer, dass das ein riechenswerter Duft ist.

Etienne de Swardt freut sich und lächelt, als er seine Ausführungen von eben im Bericht von unserer Testreaktion quasi gespiegelt wieder findet.

Tiefe Worte

„Cologne hat darüber hinaus noch eine ganz eigene Geschichte.“ erzählt er „ Der Startpunkt der Entstehung war vor allem eine Anregung meiner Frau. Sie sagte: ‚Etienne, deine Parfums sind alle so schräg. Wenn ich mal was verschenken möchte, oder wenn wir Gästen bei einem Essen bei uns mal eine Parfumaufmerksamkeit geben wollen – soll ich dann etwa Sécrétions Magnifiques oder Rien Intense nehmen?!?‘ Und da merkte ich: Ja, sie hat Recht, in unserer Kollektion fehlt etwas. Ein Parfum, das nicht als Außenseiter ins Rennen geht, sondern unmittelbar gewinnend ist.“

Also verdankt ELdO den ersten netten Duft seiner Frau?

Etienne de Swardt nickt.

„Weiblichkeit ist alles. In Weiblichkeit liegt die Rettung. Es gibt keine andere.“

Wir nicken bedächtig ob dieser tiefen Worte. Dann verknüpft Ronin das mit unserem Testerlebnis vom Tag zuvor: die alles rettende Weiblichkeit ist auch Thema von True Lust, nicht wahr?

Thomas Lindet, der Social Media-Mann, strahlt. „Ja, genau. Zwei unserer erfolgreichsten Düfte, die der Weiblichkeit huldigen, nämlich Putain des Palaces und Dangerous Complicity, sind in diesem Parfum verschmolzen, es ist ein Blend. Das Zusammenführen von Lust und Liebe, eben zu wahrer Lust, zum Wahrhaftigen, das gesucht wird – und manchmal auch gefunden.“

Und welche sind die erfolgreichsten Parfums der gesamten Kollektion?

De Swardt versichert sich kurz bei Lindet, der die Zahlen sicherer aus dem Gedächtnis weiß, dann antwortet er: „Unsere Top 5 sind: Putain des Palaces, Divin‘ Enfant, Tom of Finland, Like This und Cologne.“

Und welches ist das, was am schlechtesten geht?

Der ELdO-Chef grinst. „Nicht Sécrétions Magnifiques! Noch schlechter verkauft sich Encens et Bubblegum.“

Wie ist das eigentlich mit Sécrétions Magnifiques? Ist das wirklich als ernst gemeintes Parfum zu verstehen, oder ist es mehr so eine Art Wappenflagge, eher ein Postulat? Wir finden die teilweise extreme Reaktion darauf bei Parfumo übertrieben, aber dennoch ist es ein sehr eigener, ein sonderbarer Duft.

„Es ist definitiv mehr als eine Wappenflagge.“ Etienne de Swardt schaut kurz ein wenig grimmig ob unserer Frage. „So schlecht verkauft es sich gar nicht. Nie weniger als 1500 Stück pro Jahr. Es ist darüber hinaus so etwas wie der Grundstein der ganzen Marke. Vielleicht das wichtigste Parfum von allen.“

Weil Leute so viel davon reden?

„Auch. Aber nicht nur. Sécrétions Magnifiques hat eine lange Geschichte. Zuerst war es mein Entwurf für ein Alexander McQueen-Parfum. Das Label war gerade von LVMH gekauft worden und ich hatte die Idee, einen Duft um die 4 S herum zu machen, also Sweat, Sperm, Saliva and Sanguine. Der Arbeitstitel war „Virus“. Na ja … Ihr könnt es Euch bestimmt denken … das Konzept wurde nicht zu Ende umgesetzt. Es war mal wieder zu riskant.“

Als wir hierzu mit den Augen rollen, erhebt Etienne de Swardt Einspruch gegen unser Urteil: „Nein, nein, das muss man verstehen! Wenn ein Haus Jahrzehnte von aufgebauter Tradition und einen kostbaren Ruf hat und wenn so viel Geld für ein Parfumprojekt auf den Tisch gelegt werden muss, dann kann man einfach nicht auf eine Außenseiter-Idee setzen. Es geht nicht. Das ist Asset Protection. Ganz normal.“

OK, … einleuchtend. Wir lassen sein Argument gelten und hören mit dem dünkelhaften Augenrollen auf.

„Das war der Punkt, an dem eine Vorstellung wuchs, die am Ende zu Etat Libre d’Orange werden sollte: Was, wenn man ein Haus hätte, dessen Asset ein Null-Tabu-Profil ist? Was, wenn etwas, das für ein anderes Haus ein Risiko wäre, weil es aufgebauten Wert angreifen könnte, gerade kein Risiko bedeuten würde, weil der aufgebaute Wert wäre, dass es keinen gibt, der geschützt werden muss? Zunächst sollte das nur eine Art Parfum-Galerie sein – ich war ja nicht selbständig und direkt in der Lage, mal eben so eine weitere Nischenmarke zu gründen - aber es wurde irgendwie zum eigenen Label … und damit war meine zukünftige Aufgabe bestimmt; wir nahmen uns natürlich gleich die „Virus“-Idee vor. Unter anderem Titel, weil „Virus“ bereits ein von LVMH geschützter Name war.“

Die Story formulieren

Wir wollen wissen, wie es genau läuft, wenn ELdO sich etwas „vornimmt“. Er ist ja der Vater der Grundidee … aber wie ist das mit jeder einzelnen Idee, die dann in den Flakon kommt? Mit der Formulierung?

Die eine Formulierung (der Ausdruck) steht über der anderen Formulierung (der chemischen Formel).



„Die Formel ist bei uns nicht das Höchste, nicht das Ziel. Was ganz oben steht, sind Aufrichtigkeit und Gefühl. Darum geht es und die Formel muss dem dienen. Meine parfumistische Aufgabe ist also nicht die Funktion, die zu einer bestimmten Formel führt, sondern die, das zu fassen und zu vermitteln, was der Kern ist: die Story eines bestimmten Gefühls auf den Punkt zu bringen und den richtigen Ausdruck zu finden, der sich dann im Parfum ausdrücken wird. Natürlich habe ich Ahnung vom Handwerklichen, ich kenne die Noten, die Familien und so weiter und ich weiß, was ich da will.

Aber das ist nur die Umsetzung. Jemand aus dem Team oder ich haben also immer ein Gefühl vor Augen, um das es geht – jeweils eine Art Sein, ganz im existenzialistischen Sinne. Und das ist das Ziel: am Ende soll man ein Parfum von Etat Libre d’Orange fühlen können, statt es nur zu riechen.“

Und wie sieht dann die Arbeit mit den Parfumeurinnen und Parfumeuren konkret aus?

„Die Basis ist Vertrauen. Wenn das, was das jeweilige Ziel ist, wirklich rüber gekommen ist, wenn die Parfumeursseite richtig dabei ist, dann vertrauen wir erstmal darauf, dass sich das Gewünschte entwickelt.“

Louce erzählt, dass sie sich ein Briefing von ELdO immer so vorgestellt hat: man setzt sich abends zusammen, raucht Zigarren und/oder Joints, betrinkt sich ordentlich und brainstormt, fantasiert und philosophiert bis in den Morgen.

„Am Anfang war das ziemlich genau so.“ Etienne de Swardt lacht. „Inzwischen ist das anders; auch das hat sich weiter entwickelt.“

Es entwickelt sich weiter, das Enfant Terrible, das inzwischen seine Rechnungen bezahlen kann. Es befolgt keine Regeln und kann deshalb auch mal nett sein: Und es kann damit schockieren, keinen Schock zu verursachen.

Wir mögen es ganz gern und danken seinem Vater für die Überraschungen unseres Gesprächs …

… aber halt …

… wenn man eine Überraschung erwartet, ist sie dann noch eine Überraschung?

Und wenn aber trotzdem das Gefühl, das sich einstellt, eines der echten Überraschung ist …? Ist es dann eine Überraschung zweiter Instanz?

Und wenn wir jetzt Parfumo-Membern empfehlen, sich von ELdO in zweiter Instanz überraschen zu lassen, und die es erwarten, wird es dann zur Überraschung der dritten Instanz …?

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