Duftessa
Duftessas Blog
Von Parfumo empfohlener Artikel
vor 1 Jahr - 03.12.2022
12 37

Wie duftete DEIN erster Schultag?

Ihr Lieben,

wie angekündigt, hier die nächste Etappe meiner Duftreise im Goldenen Westen

– mein erster Schultag.

Keine 72 Stunden nach Ankunft in Deutschland werde ich eingeschult. (Empörend, dass heutzutage Flüchtlingskinder teilweise wochenlang in Erstaufnahmeunterkünften auf ihren Schulplatz warten müssen!)

Von meiner ersten Einschulung gibt es nur ein (!) Schwarz-Weiß-Foto mit schlichter Schultüte und blasse Erinnerungen an eine feierliche Begrüßungrede der Klassenlehrerin mit stolzem Lächeln und weißer Spitzenbluse.

Denke ich hingegen an meine zweite Einschulung, jagen unweigerlich Kandinsky-Bilder durch meinen Kopf: Die „deutsche Oma“ bringt mich in die 1a, wechselt einige Sätze mit der Lehrerin („enkiin sontfjf yst musgichst sznella ajnsulnk…“) und lässt mich alleine zurück. Meine Augen wandern rastlos durch den bunten Klassenraum: Alle (!) Kinder tragen quitschbunte Kleidung, übersät mit unbekannten Aufdrucken und anstrengenden Mustern – Reizüberflutung.

Ich will meinen marineblauen Schulkittel zurück!

Die Klassenwände sind mit knallbunten Malblättern zugekleistert, 20-mal schiefes Dreieck neben blauem Kreis im großen Quadrat – Orientierungslosigkeit. (Wo ist das Wappen?! Keine deutsche Flagge?!?)

Und das Allerschlimmste: Statt „richtig zu lernen“ malen die Schüler mit Buntstiften ein albernes „E“ aus – maximale Verzweiflung. Wie soll ich in diesem Kindergarten jemals all‘ die vielen Wörter lernen, die mir so dringend fehlen?

--- Erklärung: In Polen wurde man damals mit 7 eingeschult, dafür hatte man bereits im Kindergarten und der wichtigen „nullten Klasse" so viel gelernt, dass ab der 1. Klasse Diktate, Aufsätze und Grundrechenarten bis 1.000 auf dem Stundenplan standen.

-----------------------

Im bunten Spiel- und Zirkuszelt riecht es nach Wachsmalern, feuchten Pinseln und Tusche. Im Waschbecken neben der Tafel sumpft ein Schwamm vor sich hin, daneben eine Stiege Vanillemilch und Kakao. Außerdem duften einzelne Kinder nach Kaugummi und Kindercreme. Wiebke S. riecht nach Oilily Flowers / Oilily ClassicOilily Flowers , wie ich jetzt dank dank Parfumo weiß:-)

Ich werde zum einzigen anderen Aussiedlerkind gesetzt. Der arme Artur G. ist auch kürzlich hier gestrandet und weiß nicht wohin mit sich und der neuen Welt. Die Lehrerin hantiert mit dem viel zu kleinen Bruder vom großen Langenscheidt, die Kinder sind laut und wuselig, ich male mein albernes E aus und erschrecke, als die tiiiiefe Glocke erstmals zur Pause ertönt.

Einige Mitschüler sind neugierig. Leider hören auch diese Kinder schnell, dass ich nicht sprechen kann und verlieren das Interesse. Die kommenden Wochen sind schlicht schwierig: Beim Ticker-Spielen auf dem Schulhof laufe ich extra-langsam, aber keiner will mich fangen… Halte ich einer Mitschülerin einen polnischen Bonbon hin, wendet sie sich kopfschüttelnd ab… Außerdem beobachte ich viel und genau: C.M. hat allen (!) anderen Mädchen eine GEBURTSTAGSEINLADUNG in die Hand gedrückt – ich flüchte auf‘s Klo, damit niemand meine wütenden Tränen sieht...

Immerhin darf ich meiner Klassenlehrerin beim Bäcker ihr Frühstück holen, ich sehe nicht die Aufsichtspflichtverletzung, sondern freue mich, dass ich gebraucht werde. Die Klassenlehrerin Frau M. ist es auch, mit der ich ab sofort die Mittwochnachmittage verbringe: Wir kochen, malen, schreiben Diktate, fahren zu ihrem Frisör, Floristen (warum nicht Florör?), Buchladen (warum nicht Buchisten?) und Feinkosthändler (doch, Feinkostladen, das geht natürlich auch): DER Haarschnitt, DIE Rose, DAS Lesen (hier aber groß!), DER Stein + DER Pilz = DER Steinpilz - - - ich Glückspilz!

Woche für Woche tollen tolle Wörter durch meinem Kinderkopf, hämmern sich in mein Hirn, verheddern sich immer wieder auf meiner Zunge… - Das Fatale daran: Schon nach 1-2 Monaten verstehe ich viel mehr als ich sagen kann. Während also nichtsahnende Mitschüler über meinen Haarreifen / Aldi-Rucksack / Wohnort lästern ("sie wohnt in den komischen Blocks"), verstehe ich vieles und implodiere – zum Wehren reichen meine Worte (noch!) nicht.

So streune ich die Wochen zu den Sommerferien meist alleine auf dem Schulhof umher…

- bis ich an einem Glückspilztag im Juni auf Angelika treffe!

Sie geht in die 1c, ist Russlanddeutsche aus Kasachstan und seit Kurzem „bei uns“. Während ich mit meinen 200 Vokabeln jongliere was das Zeug hält, schweigt sie oder antwortet zaghaft auf Russisch. Mal ähnelt es dem Polnischen, oft auch nicht (Heute gäbe ich meinen wertvollsten Duftflakon für eine Tonaufnahme dieser Gespräche :-) Ein wohliges Gefühl von Verständnis und Sympathie! Mindestens so wertvoll wie die vielen Vokabeln, die um uns herum über den Schulhof flüstern, lachen, rufen. Meine erste Freundschaft in Deutschland beginnt leise zu keimen, ich freue mich - fast wie ein Kind! Schließlich teilen wir nicht nur ein ähnliches Schicksal - auch unsere Vornamen beginnen beide mit „A“, wir haben am 4. bzw. 14. Juli Geburtstag, lieben Basteln, Malen, Zeichnen, essen gerne rote Bete und anderes "Ostzeug" und finden nicht zuletzt die gleichen Düfte und Parfüme toll (was uns später eine himmlische Teenagerzeit beschert) – alles ganz einfach, wenn man nur will. Und ich will unbedingt. Auch weil ich muss.

Außerdem mögen wir beide unsere langen Haare :-)


Nach 6-wöchigen Sommerferien (die ich größtenteils mit türkischstämmigen Nachbarskindern verbringe - Angelika wohnt in den "Russenblocks":-) dann der große Paukenschlag:

Schülergottesdienst zur Begrüßung des neuen Schuljahrs (Katholische Grundschule, was denn sonst?:-). Alle Mitschüler wuseln herum, ich irgendwie mittendrin. Dann kommt unsere Klassenlehrerin, Ruhe kehrt ein und Michael J. ruft so laut und deutlich in die Menge, dass alle, alle, wirklich alle hören können:

„Duftessa, Du kannst ja richtig Deutsch!!!"

Ich fühle mich wie die Königin der Welt und weiß, dass ab jetzt alles schöner, bunter und besser wird…

❤️🧡💛💚💙💜

-------------------------

Ehrlich gesagt bin ich beim Zusammenschreiben selbst erschrocken über die vielen ernsten und traurigen Erinnerungen an die Anfangszeit in meinem geliebten Deutschland. Dabei trage ich viel Sonne und Freude im Herzen und habe Lust, nächstes Mal etwas farbenfroher zu schreiben...

Bis dahin wünsche ich euch allen einen schönen 2. Adventsonntag. Ich werde nach einer ereignisreichen Arbeits-/Woche viel ruhen und lesen ("Irgendwann werden wir uns alles erzählen"), außerdem freue ich mich auf einen erquicklichen Botengang und den Besuch eines georgischen Restaurants heute Abend.

Wirklich schön, dass ihr mit mir reist, liebe Parfumos.

Schreibt auch gerne, welche (Duft-)Erinnerungen ihr an eure ersten Schultage habt...

    Aktualisiert am 04.12.2022 - 09:48 Uhr
    12 Antworten

    Weitere Artikel von Duftessa