Duftessa
Duftessas Blog
vor 1 Jahr - 26.11.2022
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Erste Tage im Abenteuerland

Ihr Lieben, 

euer Interesse und tolles Feedback zur Reise in den Goldenen Westen freuen mich sehr – DANKE. Außerdem ist es eine schöne Motivation, um meine vielen Erinnerungsfetzen weiter mit alten Aufzeichnungen und Fotos zu verweben und zum alten Leben zu erwecken.

Begleitet mich also gerne auf meiner weiteren Duftreise...

Tag 1 in Deutschland

Nach der Zugfahrt müssen wir Kinder uns ausschlafen. Wir wachen mit einem kleinen Zauberer in Arm auf, der meines Bruders ist lila, meiner gelb, beide riechen nach Gummi. Die angeheiratete deutsche Tante ist ja auch ganz ohne Worte richtig lieb! (Vielleicht wird es hier ja doch noch nett?) Dann gibt es Kaffee und Kuchen. Die deutsche Oma nimmt Milch (!) statt Zitrone in den Tee!  (Nein, ganz bestimmt nicht...)

Anschließend erkunden Papa und ich die nähere Umgebung. Ich gehe auf die Straße und bin  geblendet vom glänzenden Autoblech unzähliger Autos. Mehr Autos als Menschen. Viele Alte, keine Kinder. Alles ordentlich und gerade, sauber voneinander getrennt: Flaschen, Papier und Plastikmüll gehören in gesonderte Mülleimer mit entsprechenden Symbolen. Fußgänger, Radfahrer und Autos gehören auf ihre eigene Spur.

Dazu Schilder, Schilder, überall. 

- Ich verstehe sie einfach nicht!

Von Weitem lese ich ein leuchtendes „happy shop“ (wieder ein Glücksversprechen in großen Lettern:-) Kurz darauf stehen wir vor den Schaufensterscheiben eines Kioskes. Während ich mit scheuer Neugier die bunte Auslage bestaune, zieht eine Duftmelange durch die Fensterscheibenritzen: Es riecht nach Kaffee, Tee, Schokolade, Pralinen, Kaugummis… alles überzogen vom fremdartigen Geruch der Plastikverpackungen. Trotzdem trauen wir uns nicht IN den Kiosk hinein – nicht, dass uns jemand anspricht! 

Also beobachtete ich weiter das Geschehen: Ich bin verwirrt über die neonorangen XXL-Preisschilder (warum kostet alles "X Komma 99"?) und staune darüber, dass die Kunden alles anfassen dürfen – ich musste Tante Emma höflich aufsagen, was Mama haben wollte.

Die riesige Auswahl an bunten und duftenden Fruchtgummis stellt die vorherigen Haribotüten in den Schatten: Schuhe und Pilze 2 Pfennig, Frösche, Himbeeren und Colaflaschen 5, Schnuller, Schlümpfe und Schnüre 10. Jeder stellt sich selbst seine eigene „bunte Tüte“ zusammen – bei uns gab es braune Papiertüten mit Butterkeksen für alle - gleiche Kekse für gleiche Menschen. Oder eben nix. So einfach war das.

Hier aber ein reißender Strudel aus unbekannten Menschen, Wörtern, Gerüchen und Geräuschen, alles ist neu, schnell, bunt und viel. Viel zu viel. Mit dröhnenden Köpfen schleichen wir von unserer Ortsbegehung zurück und wollen nur noch zur Ruhe kommen.

Wir versuchen uns Abendbrot zu machen statt Gedanken. Aber selbst hier ist alles komisch und mein Kinderhirn schlägt weiter Purzelbäume: Wie können Wurstscheiben so perfekt rund sein wie Vollmonde? Warum steht auf jeder Verpackung „Serviervorschlag“? Weshalb lacht der Junge auf der Milchtüte so glücklich? Sie schmeckt doch gar nicht so gut wie die von Omas Kühen. Selbst der Müll riecht hier anders, besser: Ihm fehlt der dumpfe Ascheduft unseres Kohleofens, dafür gibt es  Bananen- und Orangenschalen. 

Beim Einschlafen erklären wir uns gegenseitig unsere neue Welt, mein Bruder und ich. Er bringt mich immer wieder zum Lachen, damit ich nicht weine.

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Am nächsten Tag erblicke ich auf dem Balkon zwei Mädchen im Garten und bin ganz aufgeregt und hoffnungsvoll. HALLO KINDER könnte ich ihnen z.B. sagen, ermuntert mich meine Tante. Meine allerersten Wörter zu echten Deutschen. "HALLO KINDER !!" Ich rufe und winke als ginge es um mein Leben, aber als sie etwas zurückfragen und ich nicht antworten kann, spielen sie ohne mich weiter.

Meine Sprachlosigkeit macht mich ohnmächtig und diese Ohnmacht macht mich wütend.

Zwangsläufig suche ich mir einen anderen Freund. Er ist dick, fröhlich-gelb und weiß einfach alles, der schlaue Herr Langenscheidt:-) Außerdem riecht er vertraut nach Papier. Wenn mir schon die Worte fehlen, schlage ich zumindest Vokabeln nach. Stundenlang und unermüdlich. Ich verzweifle am Ä, Ü, Ö + ß und freue mich über das vertraute Sprachgefühl, wenn ich eines der vielen Lehnwörter entdecke: Kiosk (kiosk), Schild (szyld), Platz (plac), Werkstatt (warsztat), Schwager (schwagier), Urlaub (urlop),… Aber auch „richtige“ deutsche Vokabeln sauge ich auf wie ein Schwamm:  Name / Nachname / sieben / Jahre / Polen / Bruder / Mutter / Vater / Oma. Tränen. Ich löchere meine Tante mit Fragen nach der Aussprache, erfinde neue Spiele, um mit meinem Bruder die willkürlichen und völlig unlogischen Artikel zu lernen (DAS Mädchen ist weniger weiblich als DIE Kartoffel?!) und finde es spannend, dass Deutsche ewiglange Schlangenwörter benutzen, während Polen alles mit vielen kurzen Wörtern beschreiben (Spielplatzöffnungszeiten = godziny otwarcia placu zabaw).

Die vielen Eindrücke der ersten Tage sind erschlagend...

Trotzdem kann ich nicht einschlafen vor Aufregung, weil ich schon morgen früh eingeschult werden soll. Obwohl mein Tornister (tornister) noch so beschämend leer ist. Nur ein paar mickrige Vokabeln rütteln darin lose hin und her...

- Wie soll die Einschulung bloß werden?!

Aber weil es bereits meine zweite Einschulung ist, folgt die Fortsetzung erst zum zweiten Advent:-)

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Bis dahin wünsche ich uns allen erstmal einen wunderbaren ersten Adventssonntag. Ich freue mich auf ein stimmungsvolles Adventskonzert mit Chor, Orchester und großem Tamtam. Und den Nachmittag werde ich mit einer syrischen Familie bei Kerzenschein, Kinderglühwein und Lebkuchen verleben. Die Kinder dürfen Wunschzettel schreiben - mit allen Ä, Ü, Ö + ß, die unbedingt dazugehören :-)

Aktualisiert am 27.11.2022 - 19:10 Uhr
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