Duftessa
Duftessas Blog
vor 1 Jahr - 12.11.2022
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Vom grauen Osten in den Goldenen Westen

Wir schreiben Sonntag, den 23. April 1989. Ich bin 7 Jahre alt und muss ein neues Leben beginnen.

Denn meine Eltern haben wie rund eine Million Aussiedler zwischen 1980-1989 beschlossen, aus Schlesien nach Westdeutschland zu ziehen. Vom grauen Osten in den Goldenen Westen.

Doch was soll ein Mädchen mit Gold, wenn es dafür seinen geliebten roten Puppenwagen zurücklassen muss? Ein halbes Jahr lang habe ich sehnsüchtig auf ihn gewartet. Grüne und blaue wurden früher geliefert, aber ich brauchte schon damals etwas Glamour zur grauen Tristesse:-)

Die lange Zugfahrt in den Westen

Wie heute erinnere ich mich an den Geruch und Geschmack des Kaugummis, den mir mein Onkel zum Abschied am Bahnhofskiosk kauft. Quadratisch wie ein Zuckerwürfel, in knisternder Glitzerfolie, aber kackbraun wie der verdreckte Zug, der mit kreischendem Getöse einfährt. („Wie die schrecklichen Züge nach Auschwitz“ behauptet meine 92-jährige Oma noch heute.)

Dann der traumatische Abschied von meinen geliebten Großeltern: 1.000km Entfernung. Millionen letzte... allerletzte... jetzt aber wirklich aller-aller-letzte Abschiedsküsse. Mein verweintes Gesicht eingegraben in Omas Dekolleté, ihren unvergleichlichen Hautduft einatmen und aufsaugen für immer, man weiß ja nie, betäubt und wahnsinnig vor Trennungsschmerz. Das alles noch ohne Festnetz auf polnischem Dorf, ohne Handy, ohne Skype und ohne eine Vorstellung davon, ob und wann ich sie jemals wiedersehen würde. - Zu viel für meine empfindsame, auf nichts vorbereitete Kinderseele. (Auch 33 Jahre später kann ich kaum darüber schreiben, ohne dass die Tränen kullern... gleichzeitig bringt die Auseinandersetzung etwas Licht.)

Im Familienabteil des Zuges 6 riesengroße, plüschige Sitze, aus denen bei kleinsten Berührungen bizarre Staubwolken aufsteigen. Es riecht nach Muff und Staub, so stickig, als hätte die Luft selbst aufgehört zu atmen.

Höllische Kopfschmerzen nach kilometerlangem Liebeskummer. Aber ich weine stumm, vergrabe mein tränengeschwollenes Gesicht in die staubgrauen Falten der Gardinen am Zugfenster, aus Scham und um meinen Eltern weiteren Kummer zu ersparen - sie sind doch selbst traurig. Duftender Schwarztee mit Honig und Zitrone hilft etwas. Auch heute noch.

Mein jüngerer Bruder versucht, mich mit einem Domino-Spiel aufzuheitern. Ich lasse ihn vor Rührung gewinnen. Der Geruch der weiß-lackierten Holzplättchen lenkt ab. Sie stecken in einer Schachtel, die nach unbehandelter Pappe riecht. 

100 Stunden steigen zwei „Afrikaner“ zu uns. Die ersten beiden Schwarzen, die ich in meinem Leben sehe. Ein leichter Ruch von Gefahr in der weiten Welt da draußen... Wenn sie („afrikanisch“) miteinander sprechen und lachen, tanzen ihre makellos weißen Zahnreihen und strahlen im Einbruch der Dunkelheit. Auch das Parfüm der Männer fasziniert mich: kühl, sachlich und modern wie ein Wolkenkratzer. Ganz anders als alle Gerüche, die ich aus meiner  Kindheit kenne in Ost-Bullerbü zwischen Hühnerstall, Kohleofen, Obst- und Gemüsegarten:

Ewigkeiten später erreichen wir einen riiiesigen Bahnhof (Hannover, man wächst mit seinen Bahnhöfen:-). Umstieg. Grell blinkende Leuchtschilder (sehr spät begreife ich das Prinzip von Werbung), darin unbekannte Buchstabenketten ohne Sinn und Verstand (sehr schnell wird Deutsch meine Lieblingssprache). Eine Frau mit rotem Kreuz auf blauer Weste bringt uns in einen gemütlichen Raum, Wärme und Menschlichkeit hängen in der Luft. Die Frau ist sehr nett, reicht meinen Eltern duftenden Kaffee, uns Kindern himmlischen Kakao und eine Kekspackung. „Leibniz, nur echt mit 52 Zähnen“ werden meine ersten deutschen Wörter. Vertrauter Geruch von Kakao und Buttergebäck. Wie in der Küche meiner Polen-Oma. Ich muss nicht anfangen zu weinen - weil ich noch gar nicht aufgehört hatte. 

Nach dem Zwischenstopp in der Bahnhofsmission Weiterfahrt zum Zielbahnhof.

Bei der Ankunft erwartet uns die neue Großmutter. Kuschelweich wie eine deutsche Eiche. Und duftneutral wie ein Wasserglas. Die neuen Tanten haben uns immerhin quitschbunte Haribotüten mitgebracht. Netter Versuch. Die künstlichen Düfte der Gummifrüchte irritieren mich. Ich weiß doch noch nicht mal, wie ein echter Pfirsich riecht, eine richtige Banane schmeckt, was genau eine Kiwi ist! Muss so viel lernen, will alles verstehen und stürze mich mit Freunde auf alles Fremde.

Nur die Sache mit den großen Werbeversprechen bleibt mir suspekt:

- Bunt verpackte Lügen überall, ich schwanke zwischen Faszination, Neugier und Wachsamkeit. 

In den kommenden Wochen und Monaten prasseln ständig neue Situationen und fremde Gerüche auf mich ein, alles bleibt furchtbar aufregend, bunt, anstrengend und spannend... 

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Erster Schultag…

Erster Einkaufsbummel…

Erster Heimatbesuch…

Erster Duftkauf...

To be continued. Vielleicht.

Aktualisiert am 20.11.2022 - 09:41 Uhr
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