Spite (Eau de Parfum) von Chronotope

Spite 2021 Eau de Parfum

ElAttarine
20.07.2025 - 08:38 Uhr
42
Top Rezension
9Duft 7Haltbarkeit 6Sillage

Grün-barocke Allegorie des Trotzes

Wenn die Gestalt mit der überbordenden barocken Maske die Bühne betritt, hängen alle Augen an ihr. Sie trägt Grün in allen Schattierungen und dazu etwas Rosa, Gehrock und ausladender Kopfschmuck sind besetzt mit grünen Blättern, grünen Federn, herabhängenden Fäden, abstehenden grünstacheligen Kressestängeln und den unwahrscheinlichsten Blüten, schillernd, metallisch glänzend, leuchtend, gekrönt von einer grünen Artischocke. Gleichzeitig ist sie von grünbitterem Rauch umgeben. Sie setzt sich auf einen Thron aus stacheligen gestrüppigen Rosenranken und hält einen üppigen Strauß Chrysanthemen vor ihrem Herzen, deren zart-melancholischer Duft immer wieder für kurze Momente wahrnehmbar wird. Die bittergrüne Maske schützt die verletzliche Chrysanthemenherzhaut.
Und hier gibt es viel Zartes zu schützen! Wie bei Magdalena, die Jesus bei ihrer ersten Begegnung mit einem Öl aus Narde, Thymian und Sandelholz gesalbt hat – und deren kluges und liebendes Herz in späteren Darstellungen so verzerrt und verleumdet wurde. Das muss schmerzen wie das herb-bittere Nardenöl, ach, könnte sie doch heute dazu sprechen, trotzig und wütend über diese Ungerechtigkeit, sie würde den Salbölflakon allen vor die Füße werfen und zerschmettern, der Duft würde allen in die Nase steigen, grünstängelsüßlich-würzig-stachelig, sinnlich, liebevoll und klug-artifiziell zugleich, die barocke Allegorie dieser so begründeten trotzigen Wut!
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„Spite“ ist schwer zu übersetzen. Trotz, Bockigkeit, Bosheit, Boshaftigkeit, Gehässigkeit, Tücke sind oft genannte Optionen. Ich denke, Carter Weeks Maddox von Chronotope wird hier am ehesten an Trotz gedacht haben, der manchmal allzu berechtigt ist, wenn es darum geht, das liebende und damit immer auch verletzbare Herz zu schützen. Auf der Homepage beschreibt er den Duft als fiktives Zusammentreffen einer Gruppe trotziger Geister: Shakespeares Crossdresserin Viola, dann Cynara, die Sterbliche, die Zeus in eine Göttin verwandelte und als seine Geliebte auf den Olymp holte, bevor er sie gewaltsam zurück auf die Erde stürzte, wo sie sich in eine Artischocke verwandelte, frisch und grün, doch seltsam duftend und etwas fruchtig, und mit kleinen Stacheln, um ihr verletztes Herz zu schützen, dann Oscar Wilde, der eine grüne Nelke am Revers trägt, und schließlich die biblische Figur Magdalena, die Jesus mit Öl aus Narde, Thymian und Sandelholz gesalbt hat. Carter Weeks Maddox schreibt, „sie treffen sich unter einem Spalier, das von Jasminranken überwuchert ist, die sich wie Synapsen miteinander verflechten und verbinden“ – und genau das macht dieser Duft auch.
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Der Dufteindruck liegt irgendwie in der Mitte zwischen Pekjis "Yes, please!" mit seiner schräg-bipolaren Süße und Szechuanpfeffer einerseits und dem so sinnlich-artifiziellen "Bosque" von H&G mit der menschelnden Grapefruit, Vetiver und starkem Grün andererseits. Beim ersten Test hätte ich gewettet, dass hier auch Szechuanpfeffer drin ist. Das muss die Mischung aus Gewürznelke, Muskat und Piment mit der Chrysantheme und vielleicht noch der Pfingstrose sein. Dann ist er aber doch noch harziger, bitterer, rauchiger. Je nach Temperatur und Luftfeuchtigkeit fällt er bei mir verschieden aus: Bei Wärme ist er grün-süßer, bei etwas kühlerem, feuchterem Wetter getestet, ist er bei mir von Anfang an deutlich rauchiger, und der Weihrauch mischt und überkreuzt sich mit dem grünbitteren Eindruck.
Überhaupt ist das genial gemacht, wie sich hier alles gegen- und wechselseitig verstärkt und überlagert und immer wieder neue ziemlich irre Überkreuzungen produziert. Da ist etwas Frisch-Grünes, aber wie seltsam gestört durch etwas Herb-Fruchtiges (Guave). Am herb-erdigen Duft der indischen Narde wird durch den Zusammenklang mit Sandelholz das süßlich-holzig-Bittere hervorgehoben. Die deutliche Kapuzinerkresse fängt in der Überlagerung mit den blumigen Noten hier und da an, grün aufzuleuchten und zieht sich wieder zurück. Noch viele solcher Wechselwirkungen ließen sich hier aufzählen – toll, gemacht, wie sich das alles gegenseitig verstärkt und überlagert, und gar nicht so nicht leicht zu entziffern. Zuletzt meldet sich Galbanum nochmal recht bitter, fast teerig, im Drydown zurück.
Das ist klug, sinnlich, körperlich, artifiziell, barock, überbordend, stachelig, grün-süß, rauchig, bitter. Es lässt sich kaum besser sagen als mit Floyds Wort „shisophren“ (danke Dir nochmal für die Probe!).
35 Antworten
KnopfnaseKnopfnase vor 2 Monaten
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Durch Deine Rezension habe ich mich „leider“ zu einem Blindkauf hinreißen lassen, der sich als Glückskauf herausstellt. Ein toller, grüner Duft der anderen Art. Ich muss ihn mal noch weiter testen, aber der erste Eindruck ist großartig. Danke für die Vorstellung!
GoldGold vor 3 Monaten
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Muss ein außergewöhnliches Parfum sein, sehr anschaulich beschrieben.
TonyTonkaTonyTonka vor 3 Monaten
1
Sehr ausführliche Rezension, gefällt mir :) Von den Noten her klingt er wirklich sehr spannend!
RogauxRogaux vor 3 Monaten
1
Wieso lese ich diesen schönen Text erst jetzt?
Ein verschwörerisches Quartett trifft sich zum Austausch subversiver Phantasien?
Wie überaus fein das klingt!
NaninonunomNaninonunom vor 3 Monaten
1
deine rezensionen machen so viel spaß zu lesen! dufteindrücke und -bilder, ein bisschen was zum träumen und ein bisschen was zum nachdenken.. schön!
Helena1411Helena1411 vor 3 Monaten
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Meine ML reiht sich ein in die schon hier erweiterten ML; tolle Worte, mitreißend, fast schon riechbar! Danke dafür.
GandixGandix vor 3 Monaten
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Stünde er da nicht schon, hättest du ihn mir jetzt auf die ML geschrieben. Herrliche Worte.
JonasP1JonasP1 vor 3 Monaten
1
Das liest sich besonders... Chrysantheme und bitteres Galbanum machen neugierig :-)
RupansaiRupansai vor 3 Monaten
1
Jetzt ist mir fast ein bisschen schwindelig geworden. Was für eine ausufernd, bipolare und feine Rezi. 🎗
LischkaLischka vor 3 Monaten
1
Wie wundervoll Deine Rezensionen immer sind. So bildhaft schön, wie eine Theaterinszenierung. Ich kann mich meinen Vorschreibern nur anschließen. Vielen Dank. Das habe ich wirklich wieder sehr gerne gelesen.
Greenfan1701Greenfan1701 vor 3 Monaten
1
Es ist schon eine Besonderheit, wenn jemand Düfte so tiefsinnig, zugleich interessant und auch kurzweilig zu beschreiben weiß, wie DU es kannst. Du hast meinen vollen Respekt - Ich ziehe meinen Chapeau🎩
ChefärztinChefärztin vor 3 Monaten
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Eine interessante, bildhafte Vorstellung, die aus vielen verschiedenen Akten bestehen zu scheint. Auch hier gewinne ich den Eindruck, dass das altbekannte Sprichwort „Gegensätze ziehen sich an“ sehr zutreffend erscheint.
ComputerMausComputerMaus vor 3 Monaten
1
Fantastisch bildhaft beschrieben, schön allegorisch ausgeschmückt, wie eine Leseprobe für einen Roman. So viel literarische Klasse in deinen Rezensionen!
MairuwaMairuwa vor 3 Monaten
1
Klingt äußerst spannend! Vor allem, wenn man es zusammendenkt mit seinen Erläuterungen zur Entstehung des EdT: Die genervte Trotzreaktion angesichts der festgefahrenen Arbeit und wie sich durch das Querschießen eine unerwartete Lösung ergeben hat, scheint sich in gewisser Weise auch hier im EdP wiederzufinden, in den irren Überkreuzungen, von denen Du sprichst. Der Ansatz, sich dem komplexen und widersprüchlichen Konzept "Spite" in einer ganzen Reihe jeweils aus etwas anderem Winkel anzunähern macht zudem nicht nur neugierig auf diese beiden, sondern auch auf das, was da noch kommen mag.
BosworthBosworth vor 3 Monaten
2
Ich sehe sie vor mir, die Gestalt mit der Maske. Und kann sie förmlich riechen.
Liest sich absolut fabelhaft.
44muc44muc vor 3 Monaten
1
Wieder sehr spannend und lehrreich!
HumphreyHumphrey vor 3 Monaten
1
Deine Rezension ist ein fesselndes Bühnenspiel, ein Zusammentreffen mit der Wucht ganzer Welten. Klug geschrieben, kurzweilig zu lesen und dem Duft eine Bühne bietend, die würdiger nicht hätte gestaltet werden können.
SaphoSapho vor 3 Monaten
1
Vielen Dank für diese kluge, unterhaltsame und lehrereiche Rezension! Es war ein Genuß, sie zu lesen.
Flakon11eFlakon11e vor 3 Monaten
1
Wunderbare (Theater-) Vorstellung in grün-bitter-erdig, bei süß meldet sich mein Trotzköpfchen und wird offensichtlich mit Weihrauch besänftigt!
Horizonterweiternde, sehr hilfreiche Rezension 🏆
KovexKovex vor 3 Monaten
1
Allein die Duftnoten klingen schon super-spannend, Deine tolle, begeisternde Beschreibung verstärkt das Ganze noch. Ganz wunderbar!
PonticusPonticus vor 3 Monaten
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Die Begeisterung springt aus allen Worten Deiner feinen Rezension, aber ich bin skeptisch, ob ich sie teilen kann, denn das Zusammenspiel der Duftnoten ist mir doch sehr fremd! Spite scheint aber auch für Dich gemacht!
ErgoproxyErgoproxy vor 3 Monaten
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Okay, ich bin sehr neugierig, da Du Bosque ins Spiel gebracht hast.
Skydiver19Skydiver19 vor 3 Monaten
1
mir fehlen etwas die Worte angesichts Deiner sehr großartigen, reichen Beschreibung, ich mag, wenn scheinbare Unvereinbarkeiten zusammenfinden, sich wieder lösen, um neue Verbindungen auszuprobieren, und das noch in Grün - hach, liebe ML, du bekommst Zuwachs💚💚💚!!!
CfrCfr vor 3 Monaten
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Hab erst Gehstock gelesen 😃
DuftgroupieDuftgroupie vor 3 Monaten
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Bestimmt ein Meisterwerk
YataganYatagan vor 3 Monaten
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Klug ist auch deine wunderbare und sympathisch gelehrte Rezension zu diesem Duft, der neugierig macht: theologische und mentalitätsgeschichtliche Verweise, die spannende Referenzen Bosque und - ja auch - Pekji (allemal originell): alles nach meinem Geschmack! 🙏
Apple94Apple94 vor 3 Monaten
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Ein Pokal fürs Widersetzen und Trotzigsein und natürlich für deine wunderbare Rezension. Ich lese sie immer sehr gerne und deine verschiedenen Eindrücke sind absolut bereichernd.
HasenNaseHasenNase vor 3 Monaten
1
Was für eine illustere Gesellschaft! Da säße man doch gerne dazwischen. Ggf. auch mit einer Artischocke im Haar.
FlughörnchenFlughörnchen vor 3 Monaten
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...oh das viele trorzige Grün gefällt mir 💚
So schön geschrieben und sehr gern gelesen. Danke Dir 🍃🌿
PollitaPollita vor 3 Monaten
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Was für ein Feuerwerk an Duftnoten das hier ist. Und so eine schöne Rezension dazu. Großartig, meine Liebe.
StenLaurelStenLaurel vor 3 Monaten
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Oha! Weiss gar nicht, was ich dazu sagen soll. Würde gerne 3 Pokakel vergeben, wenn das ginge.
GaiapurpureaGaiapurpurea vor 3 Monaten
2
Tolle Worte zu einer Würdigung des Trotzes für mehr Autonomie und Selbstbestimmung als Akt des aktiven Sich-Widersetzen gegen äußere Forderungen oder Vorschriften. Welch wichtige, positive Sicht! Gefällig ist sicher anders.
SeejungfrauSeejungfrau vor 3 Monaten
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Welch leidenschaftlich spannende Rezension!
Hier hat sich eine wahrhaft erlesene Gesellschaft versammelt.
Wechselwirkungen nicht ausgeschlossen. 😄
Grenzen sind ebenso flüssig wie Zeit und Raum.
Parfüm nach dem Motto ‚Wähle dein eigenes Abenteuer‘.“
– Mark Behnke, Colognoisseur
EIN PARFÜM ÜBER ADAPTION
Hatte vorhin bei Chronotope reingelinst.
FloydFloyd vor 3 Monaten
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Grandiose, tiefsinnige Hommage. Freut mich, dass er Dir so gefällt.
PuderperlePuderperle vor 3 Monaten
1
Ich liebe deine Rezensionen. So schön. Dieser hier hat dir gut gefallen.
Die Inhaltsstoffe lesen sich auch interessant. Rosenstengel 😆 Ich nehm dann die Rosenblüten.