Caligari
Caligaris Blog
vor 6 Jahren - 29.04.2018
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Das bedingte Gegenteil von Mainstream

Vor ein paar Wochen hat ein guter Bekannter aus den Staaten, der für mich seit geraumer Zeit dort Parfüms besorgt, hortet und mir dann gebündelt mitbringt gefragt, nach was für Kriterien ich sammle und wie bei der Menge an Düften überhaupt eine "Richtung", ein roter Faden auszumachen wäre. Ich bin bei der Antwort sehr schnell auf den Vergleich mit Musikstücken gekommen. Es gibt Stilrichtungen, Label und kreative Köpfe. Aber selbstverständlich ist keines der Kriterien ein Garant für einen Treffer. Selbst auf einem Album des Lieblingsinterpreten sind selten ausschließlich nur gute Lieder drauf, obwohl sie allesamt aus der gleichen Schaffensperiode und unter nahezu gleichen Umständen entstanden sind. Aber wie sollte das denn auch gelingen, wenn der/die "Künstler" mich nicht mal kennen? Wieso sollten Sie bei mir, einem für sie Wildfremden, 100 % Trefferquote erreichen? Und dennoch kristallisiert sich nach einiger Zeit eine Art Suchspektrum raus, in dem die Trefferquote aufgrund der o. g. Kriterien ungleich höher liegt, als außerhalb.

Ich bin vor vielen Monaten an der Marke Beaufort hängen geblieben. Auf Anhieb haben es mir "Cœur de Noir@Beaufort", vor allem aber "Vi Et Armis" angetan. Das Schöne ist ja bei solchen Marken, dass man eine realistische Chance hat, das gesamte Sortiment kennenzulernen und bei der Gelegenheit auch noch die Handschrift der Schaffenden lesen kann. Obwohl auch sie sehr charaktervolle und einzigartige Statements sind, lagen "Lignum Vitae" und "Fanthom V" für mich fernab jedweden Interesses. "1805 Tonnerre" hingegen war da schon eher meine Richtung. Aber er war so was von brutal grenzwertig bis –überschreitend, dass es selbst mir zu viel war. Monatelang stand ein Flakon davon im Souk und ich konnte mich nicht dazu hinreißen, ihn zu kaufen. Vielen anderen ging es offenbar genauso. Entweder, weil sie ihn bereits kannten, oder von ihm gelesen haben und ihn daher eher fürchteten. Der Preis sank und sank und irgendwann, fast schon aus Mitleid, weil diese Marke, der schöne Flakon und die Extravaganz es nicht verdient hatten, habe ich dann doch zugeschlagen. Seit einigen Tagen stand er nun da auf dem Sideboard, wo alle noch nicht angewendeten Flakons bei mir stehen. Und schon viele, die nach ihm gekommen sind, stehen dort schon längst nicht mehr. Ja, wer mit "1805 Tonnerre" ausgehen will, hat entweder ein sehr großes Ego, unbeschreiblichen Mut oder nimmt sich grad etwas Zeit für sich alleine. Ich habe mich für die letzte Variante entschieden. Und das mache ich regelmäßig bei derartigen Kloppern. Ich gehe nach draußen und drehe meine Runden. Entweder laufe, mountainbike oder gartle ich. Das Schöne ist bei diesen Freilufttätigkeiten, dass der Wind dich umweht und je nach Richtung den Duft mehr oder weniger konzentriert deiner Nase zuführt. Kleiner Tipp: Wer z. B. nur den Nacken besprüht, sich dann mit der Seilbahn zum Gipfel / zur Zwischenstation schleppen lässt, und dann Downhill fährt, dem wird diese Erfahrung vorenthalten bleiben. Nicht so hier. Drei Stunden, Muskelkraft, Rundkurs. Das volle Programm… und damit ist auch und gerade "1805 Tonnerre" gemeint. Er ist tatsächlich nicht so abartig pfeffrig, wie ich ihn beim Testen erlebt habe. Ich kenne Schießpulver nur aus meiner Jugend im Zusammenhang mit Platzpatronen, Zündblättchen und Silvester-Knallern. Obwohl wir damals auch das "schwarze Gold" aus allen erdenklichen Umhüllungen gepuhlt haben, kann ich zu "1805 Tonnerre" keinen Vergleich ziehen. Für mich riecht er anfangs fast 1:1 wie die (ebenfalls in meiner Jugend) regelmäßig in unserem Haus auftretenden Kaminkehrer. Hier also weniger frischer Holzrauch, denn versottet, verkokelt, rußig. Eher "technisch", als natürlich. Diese Duftpyramide zieht sich so elend lang, dass es Stunden dauert, bis Brandy, Zedernholz und Tannenbalsam einen gediegenen und versöhnlichen Fort- und Ausgang bescheren.

Als ich zuhause war, habe ich mich an die Konversation mit meinem Bekannten aus Kalifornien erinnert und wie man wohl ihm einen derartigen Duft-"Ausreißer" erklären kann. Und erst da erkannte ich eine weitaus tiefergehende Parallele zu dem oben erklärten Musikvergleich.

Leider kann ich mich nicht mehr daran erinnern, was die Initialzündung für meinen eher außergewöhnlichen Musikgeschmack war. Niemand in meinem Bekanntenkreis und schon gar nicht in meiner Altersklasse konsumierte Derartiges. Independent, Punkrock, Hardcore, E.B.M., Wave… war meine Welt. Eine Welt, die einem (damals!) nicht durch die Medien nahegebracht wurde, sondern die man noch selber erkunden, und im günstigsten Fall erobern konnte. Ich las kaum deutsche, sondern fast nur englischsprachige Fanzines um noch näher an den Quellen zu sein und bestellte meist direkt in Übersee. Wenn man Glück hatte, konnte man ab und an mal eine interessante Scheibe bei WOM (gibt es den überhaupt noch?) sehen. Aber anstatt 30 DM sofort auszugeben, wartete ich lieber sieben Wochen, bis das Teil für 12 Dollar da war. Dabei ging es mir damals schon nicht um die Maximierung von Abartigkeit. Wer das Vertriebsportfolio von Artware aus Wiesbaden von damals kannte/kennt weiß, wovon ich spreche.

Und so geht es mir bei den meisten Düften und in Bezug auf Beaufort auch. Ich finde mich nur selten bei den großen Marken, die eben auch einen großen Markt bedienen wollen. Und wer das macht, der muss natürlich große gemeinsame Nenner finden, vermarkten und verkaufen. Das muss nicht heißen, dass darunter nicht auch was sein kann, was mir gefällt. Aber die Wahrscheinlichkeit ist eher gering.

Ich kann nun nicht sagen, wieviel sich diesbezüglich in meinem Unterbewussten abspielt und wieviel "Rebellion gegen das System" darin steckt. Beim Konsum von Musik und Film ist es definitiv so. Ich kann dieses Gedudel, das Oberflächliche und Plakative nicht mehr ab. Und wer z. B. einige gut aufgestellte Internet-Radio-Sender konsumiert, wird mir rechtgeben, dass es noch eine Unzahl von Liedern und Interpreten zu entdecken gilt, die hier noch nie auf einem UKW-Sender gelaufen sind.

So steh ich hier und kann nicht anders als eine Lanze zu brechen, für die Mutigen, die objektive Stinker produzieren, auch mit dem Wissen, dass sie das nur für einen sehr begrenzten Konsumentenkreis tun. Danke also, dass da draußen einige neben den ausgetretenen Pfaden gehen!

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