Geste Humięcki & Graef 2008

Wir befinden uns in einem Tag im Leben von Sissi. Eigentlich Susanne, aber das wissen nur die Wenigsten. Heute ist nicht Sissis Tag: Die Wimpernzange klemmt. Beim energischen Aufstemmen bricht sie sich einen ihrer langen, gegelten und pink lackierten Fingernägel ab. Sie kreischt, vergiesst jammernd ein Tränchen, klebt ein Pflaster drum. Dann zieht sie sich an. Als sie in ihre weissen Lack-Highheels schlüpft, wird ihr rechter Fuss nass. Pocahontas, ihr Chihuahua, hat reingepinkelt – schon wieder! Sissi kreischt, sucht Pocahontas und gibt ihr ein Leckerli, sie soll doch brav sein.

Heute ist ein wichtiger Tag: Ihr Schwarm hat einen Termin bei ihr zum Haareschneiden. Heute wird sie ihm mitteilen, dass er sie um ein Date bitten darf. Sie muss nur darauf achten, dass er ihren kaputten Nagel nicht sieht… Sie zieht sich nochmal um und wählt ein tiefer ausgeschnittenes Shirt als Ablenkungsmanöver. Bei einem Kaffee und einer Zigarette blättert sie noch schnell die neue InTouch durch, damit sie ein paar Themen zum Reden haben. Sie sprüht sich grosszügig mit ihrem Lieblingsduft ein, Escada Cherry in the air, auch die blonden Haar-Extensions, daran haftet er besonders gut.

Als sie im Cutting Room, wo sie arbeitet, ankommt, bittet die Chefin sie zu einem Gespräch. Sissi freut sich, bestimmt kriegt sie eine Gehaltserhöhung, weil sie immer so hübsch und nett ist. Sie kriegt keine Gehaltserhöhung. Stattdessen eine Verwarnung, weil sie Termine falsch eingetragen und die Warenbestellung vergessen hat. Das kann doch mal passieren, die soll nicht so rumzicken, denkt sie und zieht ihren pinken Lippenstift nach, denn gleich kommt ER.

Doch ER hat heute nur wenig Zeit, lässt er sie gleich zu Beginn wissen, er habe nachher noch einen Termin, zu dem er sich nicht verspäten wolle. Sissi frohlockt, bestimmt ein Vorstellungsgespräch, er wird später einmal viel Geld verdienen und sie werden mit ihren beiden Kindern ein luxuriöses Leben führen können. Sissi beeilt sich, gibt sich dabei alle Mühe, schliesslich investiert sie ja gerade in ihre Zukunft. ER ist begeistert und gibt ihr ein grosszügiges Trinkgeld. Als er den Laden verlässt schaut sie ihm hinterher. Anmutig schreitet er die Strasse entlang… und direkt in die Arme einer Kreuzung aus Vogelscheuche und Brillenschlange. Jetzt KÜSST er die auch noch!!! Dann gehen die beiden in einen Buchladen. Gibt’s da jetzt seit Neuestem auch Prosecco?

Sissi ist geknickt. Nach dem Feierabend setzt sie sich in ihren schwarzen Mini und fährt los. Plötzlich Gehupe hinter ihr. Sie schaut in den Rückspiegel, um zu sehen, was los ist, wieso fuchtelt denn die Frau im Wagen hinter ihr so rum? Was liegt da auf der Strasse? WO IST IHRE HANDTASCHE??? Auweia, die hat sie beim Aufschliessen auf dem Dach vergessen. RUMMS! Jetzt ist sie auch noch in die Leitplanke gefahren. Noch ein Nagel kaputt. Die Handtasche überfahren. Der Mini noch kleiner.

Zwei Stunden später ist sie zu Hause. Todtraurig ruft sie ihre beste Freundin Lissi an, um sich auszuheulen. Lissi weiss Rat: „Guck Dir die Jenny Elvers-Elbertzhagen an, die hat’s gerade auch nicht leicht, jetzt hat der Goetz eine Neue, gerade jetzt, wo die Jenny ihre Alkoholsucht überwunden hat und...“ Nebenbei öffnet Sissi ein Parfümprobenpäckchen, das heute in der Post lag „...oder das arme Mädel bei GNTM, mit ihren dicken Hüften wird die doch NIE gebucht...“ Sissi sprüht sich einen Spritzer „Geste“ aufs Handgelenk „...Colour-Blocking ist schon wieder out...“

Was ist das? Das riecht wie... wie... wie früher an den Wochenenden auf dem Land, als sie noch die kleine Susanne war und ihrer Oma half, die im Garten luftgetrocknete Bettwäsche abzunehmen. So zart und rein. Wäscheweiss und Veilchenlila. Hühner füttern. Gutenachtgeschichten. Sie wollte doch damals Tieräztin werden und hat Zigarettenrauch immer angeekelt weggewedelt. Ihr bester Freund hatte eine Hasenscharte und sie hat ihn vor den anderen Kindern beschützt, wenn die ihn hänselten. „... sind Dir auch die schrecklichen Schuhe von Babsi aufgefallen? So lass ich mich mit der nicht mehr blicken....“

Sissi legt auf. Die Herznote wird schwierig, kräuterige Harze kommen hinzu, sie mag diese Phase nicht besonders, aber sich selbst mag sie gerade auch nicht, deshalb berührt es sie irgendwie, es ist so... anders. Da ist nichts Künstliches, Klebriges, Kitschiges, nur porentief reine Klarheit, eine Symbiose aus den Elementen Luft und Erde, die zunehmend ihr Vertrauen gewinnt. Erde die Bodenhaftung, Luft die Hoffnung.

Sissi geht ins Bad und schminkt sich ab. Schneidet die überlangen Nägel ab, die sie sowieso ständig behindern, entfernt auch ihre Extensions. Wie Phoenix aus der Asche steigt indes der Amber aus den unbequemen Harzen auf und enthüllt natürliche Schönheit, unaufgeregt, unaufdringlich, unaufhaltbar. Das Herz musste wehtun, bevor es tiefgründig und wahrhaft schön werden konnte.
Susanne dreht sich zu Pocahontas um, nimmt sie auf den Arm und verspricht: „Morgen gehen wir zwei auf den Hundeplatz.“
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Liebe Minifahrer, ein Nachtrag: Sissi hat ihren Mini von ihrem stilsicheren, geschmackvollen, eloquenten und sehr sympathischen Vater geschenkt bekommen. Sissi hat ihn mit rosa Steuerradplüschbezug und Hello-Kitty-Kissen auf der Rückbank TOTAL verschandelt. Man sollte ihn ihr wegnehmen! SO eine Fahrerin hat so ein 1A-Klasseauto nicht verdient!